Manfred Deselaers

Perspektive der Täter

Das Beispiel des Kommandanten Rudolf Höß1

Die katholische Kindheit (1901-1916)

Rudolf Franz Ferdinand Höß wurde am 25. November 1901 in Baden-Baden geboren. Er hatte zwei jüngere Schwe­stern. 1906 zog die Familie nach Mannheim um, wo er die Grund­schu­le und ab 1910 das Gymnasium besuchte. Dominierend in der Erziehung des jungen Rudolf war der Vater. Ihn schilderte Höß als „in sich verschlossenen Menschen, wenig gesellig, Gefühle nicht zeigend, aus­gegli­chen, sehr aufrichtig, von ungeheuer strengen ethi­schen Grund­sät­zen, ein tief religiöser fanatischer Katholik“2. Er hatte er ein reli­giö­ses Ge­lüb­de abgelegt, in welchem er seinen Sohn Gott und dem Prie­ster­tum weihte.

Bruch mit der familiären Heimat (1916-1918)

Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Rudolf als frei­williger Helfer beim Roten Kreuz. Er sah jetzt nur noch Soldat zu werden als Le­bensperspektive. Im Krankenhaus traf er 1916 einen Rittmeister, der im half, zu einer Kavallerieabteilung zu kommen, die in der Türkei kämpfte. Es folgen wohl die entscheidenden Jahre der Wei­chen­stel­lung im Leben von Rudolf Höß. „Der Krieg war zu Ende. Ich war mit ihm und durch ihn weit über meine Jahre hinaus zum Manne gereift. […] Aus dem vor Angst zittern­den, der Mutter ent­laufenen Schulbu­ben des ersten Gefechts war ein zäher, rauher Soldat gewor­den“3.

Die neue Heimat in der Freikorpskameradschaft (1918-1923)

Höß brach mit dem heimatlichen Milieu, meldete sich beim ostpreußischen Freiwilli­genkorps und gelangte zum Freikorps Roßbach. 1921 trat er aus der Kirche aus. Im November 1922 veranstalteten die ehemaligen Kämpfer des Frei­korps Roßbach in München ein Treffen. Dazu luden sie Hitler ein, der eine Rede hielt. “ Nachdem ich sie gehört hatte, schrieb ich mich in der Partei ein, wo ich die Nummer 3240 be­kam“4, berichtete Höß später.

Gefängnis und Besinnung (1923-1928)

1923 wurde durch Leute im Umfeld von Höß ein ehemaliger Lehrer, Walter Kadow, ermordet. Höß und andere Roßbacher, auch Martin Bormann, der spätere Sekretär von Hitler, wurden verhaftet, Höß zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Haftzeit wurde ihm zu einer Zeit der Selbst­besinnung. Die Suche nach einem Weg für sein Leben führte ihn zum Bund der „Artamanen“, zu der er gleich nach der Entlassung Kontakt aufnahm.

Bei den Artamanen (1929-1934)

Was war nun der neue Lebensinhalt, den Höß gefun­den hatte? Er wollte weiterhin beim Aufbau Deutsch­lands helfen, „beim Aufbau auf lange Sicht mit weitge­steck­tem Ziel – ich wollte siedeln! In den lan­gen Jahren in der Abgeschiedenheit meiner Zelle war mir dies zum Bewusstsein gekommen: Es gab für mich nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten, zu kämpfen lohnte, – der selbsterarbeitete Bauernhof mit einer gesunden großen Familie. Das sollte der Inhalt meines Lebens, mein Lebensziel werden“5.

Der Bund der Artamanen6 war erst 1924 entstan­den. Am Beginn stand das Ziel, die polni­schen Som­mer­ar­bei­ter (1926: ca. 130.000) zu verdrän­gen, die für die Gutsbesitzer des Ostens seit Jahren billige Ar­beits­kräfte waren und angeblich das Deutsch­tum in diesen Gebieten aushöhlten. Auch stand der Ge­danke der „Ost­siedlung“ in Zusam­menhang mit dem Stre­ben nach Rückge­winnung der Gebiete, die Deutschland 1918 an den wie­dererstandenen polnischen Staat ver­loren hatte. Wesentlich für die Bewegung war eine starke Beto­nung des ge­sun­den Landlebens in Absetzung vom ungesun­den Stadt­leben, verbunden mit einem strengen Sittenko­dex. „Die idealen Qua­litäten jedes Artamanen um 1925 erinnern an die Askese klö­ster­licher Ordens­angehöri­ger: «Freiwillige Strenge und absolute Absti­nenz in Bezug auf Alkohol und Nikotin, reines Verhält­nis zum anderen Geschlecht … freiwil­lige Armut und Einfachheit inmitten einer überfeiner­ten, materialistisch gewordenen Welt»7; dieser Kata­log wiederholt sich im nachfolgenden Schrifttum der Artamanenbe­wegung mit gleich bleibender Härte.“8 Zur Artamanenbewegung gehörte auch Richard Walter Darré, im Dritten Reich Reichsbauernführer und Reichs­minister für Ernährung und Landwirtschaft. Er propa­gierte wie kein Anderer die später so einflussreiche „Blut und Bo­den“ – Ideo­logie. In seinen Schriften9 be­hauptete er, im Gegen­satz zum nomadischen Judentum sei die nordische Rasse der wahre Schöpfer der europä­ischen Kultur, der deutsche Bauer sei die wahre Trieb­feder der Geschichte, er verkörpere das Wesen des Deutschtums und sei der einzige Hüter deutscher Ein­heit10. Durch die Assoziation von Bauerntum und nordi­schem Blut entwickelten sich die Artama­nen zu intole­ranten Rassisten, die nicht nur in den Sla­wen, sondern insbesondere in den Juden den Feind er­blick­ten. Der Jude erschien als Symbol der korrupten Stadt schlecht­hin. Weil die Juden nicht um eigenes Land kämpften, sondern in Gastländern „parasi­tär“ leb­ten, könnten sie nie gesun­den, sondern zerstör­ten vielmehr noch die Kultur des Gastlandes11. „Bauer“ und „Jude“ benannten die Gegen­sätze.

Bei den Artamanen fand Höß seine Frau, die damals 21-jährige Hedwig Hensel. Sie hat­te, „von den gleichen Idealen beseelt“, zu den Artama­nen gefunden. Zum Bund der Artamanen gehörte auch Heinrich Himmler.

Eintritt in die SS (1933)

Nachfolger der Artamanenbewegung wurde die SS. Der Eintritt in den Aktiven Dienst der SS war in gewisser Weise die andere Seite derselben weltanschaulichen Medaille: einerseits „langfristiger Aufbau Deutschlands“, andererseits „Kampf gegen die Staatsfeinde“. Rudolf Höß ist nicht zu verstehen ohne seine tiefe Verwurzelung in den Anfängen der „Bewegung“. Das bezieht sich auch auf sein Verhältnis zu den „alten Kameraden“ Martin Bormann und Heinrich Himmler, die etwa gleich alt (Jahrgang 1900) waren.

Das Selbstverständnis der SS

In einer Art Resümee seines Lebens schrieb Ru­dolf Höß am Ende seiner Autobiografie:

„Zwei Leitsterne hatte ich, die meinem Leben Richtung gaben, seit ich aus dem Krieg als Mann zu­rückkam, in den ich als Schulbub gezogen: Mein Vater­land und dazu später meine Familie.

Meine unbändige Liebe zum Vaterland, mein Natio­nalbewußtsein brachte mich zur NSDAP und zur SS. Die nationalsozialistische Weltanschau­ung hielt ich für die einzige artgemäße für das deutsche Volk. Die SS war nach meiner Ansicht die tatkräftigste Verfechterin dieser Lebensauffassung und nur sie dazu befähigt, das ganze deutsche Volk allmählich wieder zu einem artge­mäßen Leben zurückzuführen.

Meine Familie war mein zweites Heiligtum. In ihr bin ich fest ver­ankert. Ihr galt meine stete Sorge um die Zukunft. Der Bauernhof sollte unsere Heimstatt werden. In unseren Kindern sahen wir, meine Frau so wie ich, unseren Lebenszweck. Ihnen eine gute Erzie­hung für das weitere Leben zuteil werden zu lassen, ihnen eine starke Heimat zu schaffen, sollte unsere Lebensaufgabe sein“12.

An vielen Äußerungen von Höß wird deutlich, wel­che quasi-religiöse Rolle die nationalsozialistische Welt­anschauung für ihn spielte. Im Folgenden einige der wichtigsten pseudoreligiösen Aspekte:

Das Hakenkreuz, das Symbol des Nationalsozialismus, war eine bewusste Alternative zum Kreuz, dem Symbol des Christentums. Das Symbol der Sonne (Wagenrad) wurde als Zeichen vitaler Lebenskraft dem Symbol von Tod, Schwäche und Mitleid entgegengestellt. Die deutsche Kultur sollte zur germanischen vitalen Philosophie der Natur zurückkehren, vor die Zeit des Christentums (das jüdisch beeinflusst ist). Das Hakenkreuz war das Symbol der Wiedergeburt Deutschlands13.

„Gott“ gebe es irgendwie als Schöpfer der Welt und ihrer Ordnung und als ihr innewohnende Lebens­kraft. Mit ihm könne man jedoch nicht in eine perso­nale dialo­gische Beziehung treten. Die Beziehung zu ihm entstehe durch die Teil­nahme am Lebenskampf, der das Wesen der Schöpfung ausmache.

Der „Wille Gottes“ sei es, die Schöpfung wieder „artgerecht“ herzustel­len und durch „Höherzüchtung der Menschenrasse“ zu entfalten. Das „aus­erwählte Volk“ der deutschen Arier habe dabei die leitende Funktion und verkörpere in sich den Prototyp des wahren Men­schen.

Polen, Slawen haben sich als „Untermenschen“ den Deutschen unterzuordnen und ihnen zu dienen. Die Juden haben als Schädlinge vernichtet zu werden.

Weil vieles durcheinander geraten und die Schöp­fung bedroht sei, habe „Gott“ seinen „Messias“ Hitler gesandt, der die Führung im entscheidenden Kampf zur Rettung der Welt übernehme.

Die Botschaft, die er und seine Jünger verkünden, sei des­halb das „Evangelium“14, der Wegweiser zur Erlö­sung im End­sieg.

Damit sich die Botschaft durchsetze und der Kampf erfolgreich sein könne, müsse er sich auf eine Elite-Jüngerschaft, den SS-Orden, voll verlassen können.

Der absolute Gehorsam dem Führer gegenüber sei zugleich absoluter Gehorsam dem Willen Gottes gegen­über; er entspreche der innersten Lebens­kraft der Natur, vergleichbar dem Instinkt der Tiere. Das Gewis­sen bestehe darin, diesem Ruf spontan, hemmungslos zu folgen. Die wahre Gewissenstimme sei die Stimme des Blutes, die in den Befehlen Hitlers ihren Ausdruck finde. Deshalb sei die gehorsame Teilnahme an die­sem Kampf ein­ge­bettet in die Vorsehung, in die inner­ste Wesens­ent­wicklung der Schöpfung. Er habe das Schicksal auf sei­ner Seite und finde Unterstützung durch die Wun­der, die das Leben schenkt. Der Kampf finde statt gegen alles, was sich dieser Schöpfungsordnung entgegensetzt. Insbesondere sei die „Ursünde“ zu bekämpfen, die in der Mischung der Rassen bestehe. Wenn dieser Kampf entschieden werde, sei den Fami­lien ein gesundes Leben gesichert und dem deut­schen Volk ewiger Bestand.

Der Inhalt der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Ideo­logie redu­ziert den Men­schen auf tie­ri­sches Verhal­ten und nimmt ihm die Di­mension der Menschlichkeit, die sich in Verantwor­tung und Liebe vor dem Antlitz des Anderen ausdrückt. Aus der Gott-Ebenbildlichkeit wird eine Tier-Ebenbild­lich­keit. An Stelle eines Urvertrau­ens in per­so­nales Ange­sprochensein wird ein Urvertrauen in die biologistisch gedeutete Natur dekla­riert. An die Stelle von Liebe tritt das Blut als „Sitz im Leben“ der Verbindung mit „Gott“; aus der Ver­antwortung vor dem unendlichen An­spruch des Anderen wird die Verant­wor­tung für den Erhalt der Rasse.

Höß war weder Theoretiker noch emotional-mythisch orientiert, aber es ist deutlich er­kennbar, dass sein Engagement in der Bewegung aus die­sem idolisch-reli­giösen Hinter­grund seine ungeheu­re Konsequenz und Kraft bezog. Ohne darüber im ein­zelnen viel nachzu­denken, glaubte er an dieses Welt­bild „wie an ein Kirchendog­ma“: „Ich als alter, fana­ti­scher Natio­nalso­zialist nahm das als eine Tatsa­che hin – genau wie ein Katho­lik an sein Kirchendogma glaubt. Es war einfach die Wahrheit, an der man nicht rütteln durfte; ich hatte keine Zweifel daran“15.

Doch auch diese biologistische „Religion“ kommt in der Praxis ohne die personale Dimension nicht aus, die sich nie ganz unterdrücken lässt. Wenn Höß Ge­wis­sens­bisse hat­te, empfand er es „bei­nahe wie Ver­rat am Führer“; vor dem „Führer“, der Personi­fi­kation der „Idee“ (nicht um­sonst nannte Höß oft bei­des in einem Atemzug) war er für alles verant­wortlich.

Ebenso lässt sich auch das Böse nicht nur biolo­gistisch erklären („Ver­mischung des Blutes“), es muss ein personaler böser Wille da­hin­ter stecken. Ricoeur hat gesagt, auf der Suche nach der Ursache des Bösen komme man an der Erfahrung des bösen Angespro­chenwer­dens nicht vorbei und berühre deshalb immer die Gren­zen einer „Satanolo­gie“16. Diese Rolle des persona­len Grundes des Bösen übernimmt in der natio­nalsozia­listi­schen Ideologie die Rasse der Juden – der gleich­zeitig ihre Menschenwürde abgespro­chen wird. Hierin liegt der tief­ste Grund dafür, dass die na­tio­nal­sozia­li­stische Bewe­gung mit solcher Ener­gie an ihrer Ver­nich­tung arbeiten konnte. Hier liegt aber auch der Grund dafür, dass Höß nicht erklären konnte, warum „der Jude“ an allem schuld wäre. Die Argumente, die er selbst auf­zählt, sind gesell­schaft­lich-poli­tisch, aber können in sich den „End­kampf“ nicht er­klären. Das war „einfach die Wahrheit“17. Warum gerade die Juden in diese Rolle des personifizier­ten Bösen geraten sind, darauf gib die Analyse der Biografie von Rudolf Höß keine Antwort18.

Höß stürzte sich mit seinem ganzen Leben, „mit Leib und Seele“19, in die na­tio­nalsozialistische Welt. Hier fand er seine „Beru­fung“, seine „Haupt­auf­ga­be“.

Kommandant in Auschwitz (1940-1943. 1944)

In dieser seiner Hauptaufgabe kam alles zusammen, was ihm wich­tig geworden war: Vater­land (gegen die „Staatsfeinde“ zu verteidi­gen), Fami­lie („ihnen eine starke Heimat zu schaffen“20), Gemein­schaft mit den Kameraden und deren Anerkennung, Ver­bun­den­heit mit der „Vorsehung“. In die­sem Kampf ging es für Höß um die Ver­wirk­li­chung des Sinnes sei­nes Le­bens. Des­halb war er schon von Anfang an von seiner Aufgabe, sei­nem Auf­trag, „voll erfüllt, ja be­sessen. […] Ich wollte mich nicht unterkriegen las­sen. Mein Ehrgeiz ließ dies nicht zu. Ich sah nur noch meine Arbeit“21.

Das ganze Verhalten von Höß in Auschwitz ist von dieser Besessenheit her zu verstehen. Die Unterordnung wie auch die Kritik an seinen SS-Vor­gesetzten und Untergebenen bekommen vom ideologischen „Endkampf“ her ihren Zu­sammenhang. Das (Nicht-) Verhältnis zu den Häftlingen versteht sich von daher, einschließlich der Freiheit von sadistischem Verhalten bei gleich­zeiti­ger eiskalter Mordberechnung. Sogar der (weitgehende) Ver­zicht auf persönliche Bereicherung und das „idylli­sche“ Familienleben direkt neben dem Lager passen dazu.

Die „Endlösung“

Über die Aufgabe der Judenvernichtung ­sagte Höß: „Und als Himmler mich zu sich rief, über­nahm ich den Auf­trag als etwas, was ich bereits vorher akzep­tiert hatte – nicht nur ich, son­dern je­der. Ich hielt es für absolut richtig, trotz dieses Befehls, der die stärk­sten und kältesten Men­schen erschüttert hätte […] und obwohl ich mich vorüberge­hend er­schreckte … es passte alles doch ganz genau zu dem, was mir seit Jah­ren gepredigt worden war. Das Problem selbst, die Ausrottung des Judentums, war nicht neu – nur daß ich derjenige sein sollte, sie durchzuführen, ängstig­te mich zuerst. Aber nachdem ich den eindeuti­gen di­rekten Befehl und sogar eine Erklä­rung dazu bekommen hatte – da blieb nichts übrig, als ihn auszu­führen“22.

Während des Prozesses in Warschau fragte der Staats­anwalt Dr. Tadeusz Cyprian den Angeklagten: „Haben Sie, als sie diese Funktion der Menschenver­nichtung ausführten, gemeint, dass das mit Grundsätzen der Moral übereinstimme?“ – „Da­mals, als ich den Befehl erhalten hatte und in der ersten Zeit dieser Aktion, habe ich darüber nicht nachgedacht. Ich hatte einen Befehl bekommen, und der Befehl und die Begrün­dung dieses Befehles waren für mich maßgebend.“ – „Und Sie hatten nie Gewissensbis­se?“ – „Später ja.“ – „Wann?“ – „Als die großen Transporte ankamen, als man täglich vor allem Frauen vernichten musste. Da hatte jeder, der daran teilnahm, das Gefühl: ob das nötig ist?“23

Auch wenn es äußerlich anders aussah, innerlich kam Höß mit diesem Zwiespalt nicht zurecht. “ Es kam oft vor, daß ich zuhause plötzlich mit meinen Gedanken bei irgendwelchen Vor­gängen, bei der Vernichtung war. Ich mußte dann raus. Ich konnte es nicht mehr im traulichen Kreis meiner Familie aus­halten. Oft kamen mir so, wenn ich unsere Kinder glücklich spielen sah, meine Frau mit der Kleinsten überglücklich war, Gedanken: Wie lange wird euer Glück noch dauern? […] Wenn man die Frauen mit den Kindern in die Gaskammern gehen sah, so dachte man unwillkürlich an die eigene Fami­lie. Ich war in Au­schwitz seit Beginn der Massenver­nichtung nicht mehr glücklich. Ich wurde unzufrieden mit mir selbst“24.

Weltuntergang (1945-1946) und Bekehrung (1947)

Nach dem Zusammenbruch des III. Reiches tauchte Höß mit dem falschen Namen Franz Lang un­ter. Am 11. März 1946 wurde er von der englischen Field-Security-Police ent­deckt und verhaf­tet.

Von Anfang an war Rudolf Höß aussagebereit und hat seine Verant­wortung als Kommandant des Konzentra­tionslagers Auschwitz eingestanden. Unter den großen Kriegsver­brechern war Höß mit seiner nüchternen Aussagebereitschaft und dem Verzicht auf das Abwälzen aller Verantwortung auf Andere eine sel­tene Ausnahme25.

Der Hauptprozess gegen Höß begann am 2. März 1947 in Warschau und endete am 2. April mit dem Todesurteil. Rudolf Höß wurde am 16. April 1947 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz gehängt.

Vorher, im Februar 1947, hatte er im Gefängnis in Krakau seine autobiografische Niederschrift „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“ geschrieben. Am Ende zog er Bilanz: „Ich bin nach wie vor Nationalsozia­list im Sinne einer Lebensauffassung“26. Das änderte sich jedoch. Letztlich brach er völlig mit der Nationalsozialistischen Weltanschauung.

Gleich nach dem Eintreffen im Gefängnis in Wadowice, nach Prozessende, bat er um ein Treffen mit einem katholischen Priester. Am 10. April 1947 führte Pater Lohn SJ ein vielstündiges Gespräch mit Höß, nach dem dieser das katholische Glaubensbekenntnis sprach, so wieder in die Kirche eintrat, und beichtete.

Anschließend schrieb er aus eigenem Antrieb eine „Erklärung“ und übergab sie dem Staatsanwalt zur Veröffentlichung: „Mein Gewissen zwingt mich, noch folgende Erklä­rung abzugeben: In der Abgeschiedenheit meiner Haft kam ich zu der bitteren Erkenntnis, wie schwer ich an der Menschheit gefrevelt habe. Als Kommandant des Vernich­tungslagers Auschwitz verwirklichte ich einen Teil der grauenhaften Men­schenvernichtungspläne des «Dritten Reiches». Ich habe so der Menschheit und der Menschlichkeit schwersten Schaden zugefügt. Insbeson­dere dem polnischen Volk habe ich unsagbares Leid verursacht. Meine Verantwortlichkeit büße ich mit meinem Leben. Möge mir einst mein Herrgott mein Han­deln vergeben. Das polnische Volk bitte ich um Ver­zeihung. In den polnischen Gefängnissen erst habe ich erfahren, was Menschlichkeit ist. Es wurde mir trotz allem Geschehenen eine Menschlichkeit bezeugt, die ich nie erwartet hätte und die mich zutiefst beschämte. Mögen die derzeitigen Enthüllungen u. Darstellungen der an der Menschheit und der Menschlichkeit begange­nen ungeheuerlichen Verbrechen dazu führen, dass für alle Zukunft schon die Voraussetzungen zu derartigen grauenvollen Geschehnissen verhindert werden. Rudolf Franz Ferdinand Höß, Wadowice, am 12. April 1947.“27 Zum ersten Mal bekannte sich Höß zu einer Verant­wortung für das, was in Auschwitz geschehen ist, nicht nur im rechtlichen Sinn („als Kom­mandant“), sondern auch im moralischen. So eindrucksvoll diese Erklärung ist, in ihr wird auch deutlich, dass sie noch nicht der letzte Schritt sein kann. „Insbesondere“ dem jüdischen Volk und allen anderen Opfern gegenüber ist Reue und Bitte um Ver­zeihung noch nicht ausgesprochen.

In diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zur Beichte von Höß. Mit dem Eintritt in die katholische Kirche und der Beichte ist nicht verlangt, voll­kommen zu sein. Es ist aber wohl ver­langt, in der Bezie­hung zu Gott leben zu wol­len, es ist also der Anfang eines neuen Weges, der weit sein kann. Der Blick Gottes ist voll Liebe, aber auch voll Wahr­haf­tig­keit. Höß kann sich nicht verstehen ohne seine unendliche Verantwortung vor den Opfern. Die Versöhnung des einzelnen Sünders mit Gott ist nur zu verstehen als Ausdruck des Glaubens, dass Gott keinem Sünder die Umkehr verweigert. Die Versöhnung des einzel­nen Sün­ders mit Gott und der Dienst des einzelnen Priesters ist zu sehen im Kontext des Dienstes der ganzen Kirche, die „Zeichen und Werk­zeug für die innigste Ver­einigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“28 zu sein hat. Die von der Barmherzigkeit Gottes geleitete Hinwendung der Kirche zum Täter schließt die Hinwendung zu den Opfern ein. Das Sakra­ment der Beichte bedeutet auch, dass die Kirche die Ver­antwortung, die sich aus den Folgen der Sünden von Rudolf Höß ergibt, mit auf sich nimmt und dass sie liebend und sühnend fort­setzen will, was hier auf Erden an Ver­söh­nungs­arbeit auf unabsehbare Zeit noch zu tun bleibt. Wie hier eine Heilung möglich ist, wie die Spannung zwischen Gottes un­endlicher Barmherzigkeit und seiner absoluten Gerechtigkeit zu vermitteln ist, ist menschlich nicht mehr vorstellbar. Alle Bilder bleiben unange­mes­sen. Es bleibt das unfassbare Myste­ri­um des Bösen, es bleibt das mysterium iniqi­ta­tis. Doch es bleibt auch Gottes Liebe als unfassbares Mysterium, und es bleibt die Hoffnung darauf, dass sie letztendlich gewinnt.


Anmerkungen:

  • [1] Ausführlicher: DESELAERS, Manfred, „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“: Die Biographie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen. 2., neubearbeitete Auflage. Leipzig: Benno-Verl., 2001.
  • 2 BATAWIA, Prof. Dr. Stanisław, Rudolf Hoess. Komendant obozu w Oświęcimiu [Rudolf Höß. Kommandant des Lagers in Auschwitz]. Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce. VII. Warszawa 1951, S. 9-58; 28. Eigene Übersetzung.
  • 3 BROSZAT, Martin (Hrsg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Martin Broszat. München 1989, 12. Aufl. S. 33.
  • 4 Archiwum Państwowego Muzeum Oświęcim-Brzezinka (Archiv der staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: APMO), Höß-Prozeß Bd. 21, Bl. 22 (Eigene Übersetzung). NSDAP-Eintritt am 21.11.1922.
  • 5 Autobiographische Aufzeichnungen, S. 53.
  • 6 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Untersuchung von Michael H. KATER, Die Artamanen – Völkische Jugend in der Weima­rer Republik. Historische Zeitschrift (213) 1971, S. 576-638.
  • 7 Artamanenheft, S.7 (so bei Kater).
  • 8 KATER, Die Artamanen, S. 602f.
  • 9 „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse“ (1928); „Um Blut und Boden“ (1929); „Neuadel aus Blut und Boden“ (1930).
  • 10 Nach: WISTRICH, Robert, Wer war wer im Dritten Reich? Mün­chen 1983, S. 59.
  • 11 Vgl. JÄCKEL, Eberhard, Hitlers Weltanschauung: Entwurf einer Herr­schaft. Erw. u. überarb. Neuausgabe. Stuttgart: dva, 31986, S. 97ff, insbes. S. 115f.
  • 12 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 155.
  • 13 A. Rosenberg, Das Wesensgefüge des Nationalsozialismus, München 1933.
  • 14 Vgl. Autobiografische Aufzeichnungen, S. 148.
  • 15 GILBERT, G. M., Nürnberger Tagebuch. Frankfurt am Main 1963, 2. Aufl. S. 260.
  • 16 Vgl. RICOEUR, Paul, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Übs. M. Otto. Freiburg(Br.)/München 2. Aufl. 1988 (unveränd.) [Finitude et culpabilité, 2. symbolique du mal, 1960], S. 296.
  • 17 GILBERT, Nürnberger Tagebuch, S. 260.
  • 18 Das bleibt eine der beunruhigendsten Fragen „nach Au­schwitz“, gerade weil sie die religiöse Dimension berührt. Neben der direkten theologischen Reflektion bleibt uns außerdem eine Gewis­sens-Erfor­schung im Hinblick auf die praktische Gestalt der christli­chen Kultur, die das Bewusstsein der Menschen in ihrem Verhältnis zum Judentum geprägt hat, aufgege­ben.
  • 19 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 152.
  • 20 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 155.
  • 21 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 96.
  • 22 GILBERT, Nürnberger Tagebuch, S. 260f.
  • 23 APMO Höß-Prozeß Bd. 23,Bl. 127f(p).
  • 24 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 133f.
  • 25 Vgl. BATAWIA, Rudolf Hoess, S. 12. Im Schlussplädoyer vergleicht der Ver­teidiger Ostaszewski Höß diesbezüglich aus­führlich mit anderen SS-Größen. APMO Höß-Prozeß 30,88-90.
  • 26 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 152.
  • 27 Deutsch in: BIULETYN Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce [Bulletin der Hauptkommission für die Erforschung der hitlerschen Verbrechen in Polen] VII, Warszawa 1951, S. 222.
  • 28 Dogmatische Konstitution Lumen Gentium, Nr. 1.

Veröffentlicht in:

Dialog an der Schwelle von Auschwitz. Hg. v. Manfred Deselaers, Krakow 2003.