Manfred Deselaers
Perspektive der Täter
Das Beispiel des Kommandanten Rudolf Höß1
Die katholische Kindheit (1901-1916)
Rudolf Franz Ferdinand Höß wurde am 25. November 1901 in Baden-Baden geboren. Er hatte zwei jüngere Schwestern. 1906 zog die Familie nach Mannheim um, wo er die Grundschule und ab 1910 das Gymnasium besuchte. Dominierend in der Erziehung des jungen Rudolf war der Vater. Ihn schilderte Höß als „in sich verschlossenen Menschen, wenig gesellig, Gefühle nicht zeigend, ausgeglichen, sehr aufrichtig, von ungeheuer strengen ethischen Grundsätzen, ein tief religiöser fanatischer Katholik“2. Er hatte er ein religiöses Gelübde abgelegt, in welchem er seinen Sohn Gott und dem Priestertum weihte.
Bruch mit der familiären Heimat (1916-1918)
Als 1914 der Krieg ausbrach, meldete sich Rudolf als freiwilliger Helfer beim Roten Kreuz. Er sah jetzt nur noch Soldat zu werden als Lebensperspektive. Im Krankenhaus traf er 1916 einen Rittmeister, der im half, zu einer Kavallerieabteilung zu kommen, die in der Türkei kämpfte. Es folgen wohl die entscheidenden Jahre der Weichenstellung im Leben von Rudolf Höß. „Der Krieg war zu Ende. Ich war mit ihm und durch ihn weit über meine Jahre hinaus zum Manne gereift. […] Aus dem vor Angst zitternden, der Mutter entlaufenen Schulbuben des ersten Gefechts war ein zäher, rauher Soldat geworden“3.
Die neue Heimat in der Freikorpskameradschaft (1918-1923)
Höß brach mit dem heimatlichen Milieu, meldete sich beim ostpreußischen Freiwilligenkorps und gelangte zum Freikorps Roßbach. 1921 trat er aus der Kirche aus. Im November 1922 veranstalteten die ehemaligen Kämpfer des Freikorps Roßbach in München ein Treffen. Dazu luden sie Hitler ein, der eine Rede hielt. “ Nachdem ich sie gehört hatte, schrieb ich mich in der Partei ein, wo ich die Nummer 3240 bekam“4, berichtete Höß später.
Gefängnis und Besinnung (1923-1928)
1923 wurde durch Leute im Umfeld von Höß ein ehemaliger Lehrer, Walter Kadow, ermordet. Höß und andere Roßbacher, auch Martin Bormann, der spätere Sekretär von Hitler, wurden verhaftet, Höß zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Haftzeit wurde ihm zu einer Zeit der Selbstbesinnung. Die Suche nach einem Weg für sein Leben führte ihn zum Bund der „Artamanen“, zu der er gleich nach der Entlassung Kontakt aufnahm.
Bei den Artamanen (1929-1934)
Was war nun der neue Lebensinhalt, den Höß gefunden hatte? Er wollte weiterhin beim Aufbau Deutschlands helfen, „beim Aufbau auf lange Sicht mit weitgestecktem Ziel – ich wollte siedeln! In den langen Jahren in der Abgeschiedenheit meiner Zelle war mir dies zum Bewusstsein gekommen: Es gab für mich nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten, zu kämpfen lohnte, – der selbsterarbeitete Bauernhof mit einer gesunden großen Familie. Das sollte der Inhalt meines Lebens, mein Lebensziel werden“5.
Der Bund der Artamanen6 war erst 1924 entstanden. Am Beginn stand das Ziel, die polnischen Sommerarbeiter (1926: ca. 130.000) zu verdrängen, die für die Gutsbesitzer des Ostens seit Jahren billige Arbeitskräfte waren und angeblich das Deutschtum in diesen Gebieten aushöhlten. Auch stand der Gedanke der „Ostsiedlung“ in Zusammenhang mit dem Streben nach Rückgewinnung der Gebiete, die Deutschland 1918 an den wiedererstandenen polnischen Staat verloren hatte. Wesentlich für die Bewegung war eine starke Betonung des gesunden Landlebens in Absetzung vom ungesunden Stadtleben, verbunden mit einem strengen Sittenkodex. „Die idealen Qualitäten jedes Artamanen um 1925 erinnern an die Askese klösterlicher Ordensangehöriger: «Freiwillige Strenge und absolute Abstinenz in Bezug auf Alkohol und Nikotin, reines Verhältnis zum anderen Geschlecht … freiwillige Armut und Einfachheit inmitten einer überfeinerten, materialistisch gewordenen Welt»7; dieser Katalog wiederholt sich im nachfolgenden Schrifttum der Artamanenbewegung mit gleich bleibender Härte.“8 Zur Artamanenbewegung gehörte auch Richard Walter Darré, im Dritten Reich Reichsbauernführer und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft. Er propagierte wie kein Anderer die später so einflussreiche „Blut und Boden“ – Ideologie. In seinen Schriften9 behauptete er, im Gegensatz zum nomadischen Judentum sei die nordische Rasse der wahre Schöpfer der europäischen Kultur, der deutsche Bauer sei die wahre Triebfeder der Geschichte, er verkörpere das Wesen des Deutschtums und sei der einzige Hüter deutscher Einheit10. Durch die Assoziation von Bauerntum und nordischem Blut entwickelten sich die Artamanen zu intoleranten Rassisten, die nicht nur in den Slawen, sondern insbesondere in den Juden den Feind erblickten. Der Jude erschien als Symbol der korrupten Stadt schlechthin. Weil die Juden nicht um eigenes Land kämpften, sondern in Gastländern „parasitär“ lebten, könnten sie nie gesunden, sondern zerstörten vielmehr noch die Kultur des Gastlandes11. „Bauer“ und „Jude“ benannten die Gegensätze.
Bei den Artamanen fand Höß seine Frau, die damals 21-jährige Hedwig Hensel. Sie hatte, „von den gleichen Idealen beseelt“, zu den Artamanen gefunden. Zum Bund der Artamanen gehörte auch Heinrich Himmler.
Eintritt in die SS (1933)
Nachfolger der Artamanenbewegung wurde die SS. Der Eintritt in den Aktiven Dienst der SS war in gewisser Weise die andere Seite derselben weltanschaulichen Medaille: einerseits „langfristiger Aufbau Deutschlands“, andererseits „Kampf gegen die Staatsfeinde“. Rudolf Höß ist nicht zu verstehen ohne seine tiefe Verwurzelung in den Anfängen der „Bewegung“. Das bezieht sich auch auf sein Verhältnis zu den „alten Kameraden“ Martin Bormann und Heinrich Himmler, die etwa gleich alt (Jahrgang 1900) waren.
Das Selbstverständnis der SS
In einer Art Resümee seines Lebens schrieb Rudolf Höß am Ende seiner Autobiografie:
„Zwei Leitsterne hatte ich, die meinem Leben Richtung gaben, seit ich aus dem Krieg als Mann zurückkam, in den ich als Schulbub gezogen: Mein Vaterland und dazu später meine Familie.
Meine unbändige Liebe zum Vaterland, mein Nationalbewußtsein brachte mich zur NSDAP und zur SS. Die nationalsozialistische Weltanschauung hielt ich für die einzige artgemäße für das deutsche Volk. Die SS war nach meiner Ansicht die tatkräftigste Verfechterin dieser Lebensauffassung und nur sie dazu befähigt, das ganze deutsche Volk allmählich wieder zu einem artgemäßen Leben zurückzuführen.
Meine Familie war mein zweites Heiligtum. In ihr bin ich fest verankert. Ihr galt meine stete Sorge um die Zukunft. Der Bauernhof sollte unsere Heimstatt werden. In unseren Kindern sahen wir, meine Frau so wie ich, unseren Lebenszweck. Ihnen eine gute Erziehung für das weitere Leben zuteil werden zu lassen, ihnen eine starke Heimat zu schaffen, sollte unsere Lebensaufgabe sein“12.
An vielen Äußerungen von Höß wird deutlich, welche quasi-religiöse Rolle die nationalsozialistische Weltanschauung für ihn spielte. Im Folgenden einige der wichtigsten pseudoreligiösen Aspekte:
Das Hakenkreuz, das Symbol des Nationalsozialismus, war eine bewusste Alternative zum Kreuz, dem Symbol des Christentums. Das Symbol der Sonne (Wagenrad) wurde als Zeichen vitaler Lebenskraft dem Symbol von Tod, Schwäche und Mitleid entgegengestellt. Die deutsche Kultur sollte zur germanischen vitalen Philosophie der Natur zurückkehren, vor die Zeit des Christentums (das jüdisch beeinflusst ist). Das Hakenkreuz war das Symbol der Wiedergeburt Deutschlands13.
„Gott“ gebe es irgendwie als Schöpfer der Welt und ihrer Ordnung und als ihr innewohnende Lebenskraft. Mit ihm könne man jedoch nicht in eine personale dialogische Beziehung treten. Die Beziehung zu ihm entstehe durch die Teilnahme am Lebenskampf, der das Wesen der Schöpfung ausmache.
Der „Wille Gottes“ sei es, die Schöpfung wieder „artgerecht“ herzustellen und durch „Höherzüchtung der Menschenrasse“ zu entfalten. Das „auserwählte Volk“ der deutschen Arier habe dabei die leitende Funktion und verkörpere in sich den Prototyp des wahren Menschen.
Polen, Slawen haben sich als „Untermenschen“ den Deutschen unterzuordnen und ihnen zu dienen. Die Juden haben als Schädlinge vernichtet zu werden.
Weil vieles durcheinander geraten und die Schöpfung bedroht sei, habe „Gott“ seinen „Messias“ Hitler gesandt, der die Führung im entscheidenden Kampf zur Rettung der Welt übernehme.
Die Botschaft, die er und seine Jünger verkünden, sei deshalb das „Evangelium“14, der Wegweiser zur Erlösung im Endsieg.
Damit sich die Botschaft durchsetze und der Kampf erfolgreich sein könne, müsse er sich auf eine Elite-Jüngerschaft, den SS-Orden, voll verlassen können.
Der absolute Gehorsam dem Führer gegenüber sei zugleich absoluter Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber; er entspreche der innersten Lebenskraft der Natur, vergleichbar dem Instinkt der Tiere. Das Gewissen bestehe darin, diesem Ruf spontan, hemmungslos zu folgen. Die wahre Gewissenstimme sei die Stimme des Blutes, die in den Befehlen Hitlers ihren Ausdruck finde. Deshalb sei die gehorsame Teilnahme an diesem Kampf eingebettet in die Vorsehung, in die innerste Wesensentwicklung der Schöpfung. Er habe das Schicksal auf seiner Seite und finde Unterstützung durch die Wunder, die das Leben schenkt. Der Kampf finde statt gegen alles, was sich dieser Schöpfungsordnung entgegensetzt. Insbesondere sei die „Ursünde“ zu bekämpfen, die in der Mischung der Rassen bestehe. Wenn dieser Kampf entschieden werde, sei den Familien ein gesundes Leben gesichert und dem deutschen Volk ewiger Bestand.
Der Inhalt der nationalsozialistischen Ideologie reduziert den Menschen auf tierisches Verhalten und nimmt ihm die Dimension der Menschlichkeit, die sich in Verantwortung und Liebe vor dem Antlitz des Anderen ausdrückt. Aus der Gott-Ebenbildlichkeit wird eine Tier-Ebenbildlichkeit. An Stelle eines Urvertrauens in personales Angesprochensein wird ein Urvertrauen in die biologistisch gedeutete Natur deklariert. An die Stelle von Liebe tritt das Blut als „Sitz im Leben“ der Verbindung mit „Gott“; aus der Verantwortung vor dem unendlichen Anspruch des Anderen wird die Verantwortung für den Erhalt der Rasse.
Höß war weder Theoretiker noch emotional-mythisch orientiert, aber es ist deutlich erkennbar, dass sein Engagement in der Bewegung aus diesem idolisch-religiösen Hintergrund seine ungeheure Konsequenz und Kraft bezog. Ohne darüber im einzelnen viel nachzudenken, glaubte er an dieses Weltbild „wie an ein Kirchendogma“: „Ich als alter, fanatischer Nationalsozialist nahm das als eine Tatsache hin – genau wie ein Katholik an sein Kirchendogma glaubt. Es war einfach die Wahrheit, an der man nicht rütteln durfte; ich hatte keine Zweifel daran“15.
Doch auch diese biologistische „Religion“ kommt in der Praxis ohne die personale Dimension nicht aus, die sich nie ganz unterdrücken lässt. Wenn Höß Gewissensbisse hatte, empfand er es „beinahe wie Verrat am Führer“; vor dem „Führer“, der Personifikation der „Idee“ (nicht umsonst nannte Höß oft beides in einem Atemzug) war er für alles verantwortlich.
Ebenso lässt sich auch das Böse nicht nur biologistisch erklären („Vermischung des Blutes“), es muss ein personaler böser Wille dahinter stecken. Ricoeur hat gesagt, auf der Suche nach der Ursache des Bösen komme man an der Erfahrung des bösen Angesprochenwerdens nicht vorbei und berühre deshalb immer die Grenzen einer „Satanologie“16. Diese Rolle des personalen Grundes des Bösen übernimmt in der nationalsozialistischen Ideologie die Rasse der Juden – der gleichzeitig ihre Menschenwürde abgesprochen wird. Hierin liegt der tiefste Grund dafür, dass die nationalsozialistische Bewegung mit solcher Energie an ihrer Vernichtung arbeiten konnte. Hier liegt aber auch der Grund dafür, dass Höß nicht erklären konnte, warum „der Jude“ an allem schuld wäre. Die Argumente, die er selbst aufzählt, sind gesellschaftlich-politisch, aber können in sich den „Endkampf“ nicht erklären. Das war „einfach die Wahrheit“17. Warum gerade die Juden in diese Rolle des personifizierten Bösen geraten sind, darauf gib die Analyse der Biografie von Rudolf Höß keine Antwort18.
Höß stürzte sich mit seinem ganzen Leben, „mit Leib und Seele“19, in die nationalsozialistische Welt. Hier fand er seine „Berufung“, seine „Hauptaufgabe“.
Kommandant in Auschwitz (1940-1943. 1944)
In dieser seiner Hauptaufgabe kam alles zusammen, was ihm wichtig geworden war: Vaterland (gegen die „Staatsfeinde“ zu verteidigen), Familie („ihnen eine starke Heimat zu schaffen“20), Gemeinschaft mit den Kameraden und deren Anerkennung, Verbundenheit mit der „Vorsehung“. In diesem Kampf ging es für Höß um die Verwirklichung des Sinnes seines Lebens. Deshalb war er schon von Anfang an von seiner Aufgabe, seinem Auftrag, „voll erfüllt, ja besessen. […] Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen. Mein Ehrgeiz ließ dies nicht zu. Ich sah nur noch meine Arbeit“21.
Das ganze Verhalten von Höß in Auschwitz ist von dieser Besessenheit her zu verstehen. Die Unterordnung wie auch die Kritik an seinen SS-Vorgesetzten und Untergebenen bekommen vom ideologischen „Endkampf“ her ihren Zusammenhang. Das (Nicht-) Verhältnis zu den Häftlingen versteht sich von daher, einschließlich der Freiheit von sadistischem Verhalten bei gleichzeitiger eiskalter Mordberechnung. Sogar der (weitgehende) Verzicht auf persönliche Bereicherung und das „idyllische“ Familienleben direkt neben dem Lager passen dazu.
Die „Endlösung“
Über die Aufgabe der Judenvernichtung sagte Höß: „Und als Himmler mich zu sich rief, übernahm ich den Auftrag als etwas, was ich bereits vorher akzeptiert hatte – nicht nur ich, sondern jeder. Ich hielt es für absolut richtig, trotz dieses Befehls, der die stärksten und kältesten Menschen erschüttert hätte […] und obwohl ich mich vorübergehend erschreckte … es passte alles doch ganz genau zu dem, was mir seit Jahren gepredigt worden war. Das Problem selbst, die Ausrottung des Judentums, war nicht neu – nur daß ich derjenige sein sollte, sie durchzuführen, ängstigte mich zuerst. Aber nachdem ich den eindeutigen direkten Befehl und sogar eine Erklärung dazu bekommen hatte – da blieb nichts übrig, als ihn auszuführen“22.
Während des Prozesses in Warschau fragte der Staatsanwalt Dr. Tadeusz Cyprian den Angeklagten: „Haben Sie, als sie diese Funktion der Menschenvernichtung ausführten, gemeint, dass das mit Grundsätzen der Moral übereinstimme?“ – „Damals, als ich den Befehl erhalten hatte und in der ersten Zeit dieser Aktion, habe ich darüber nicht nachgedacht. Ich hatte einen Befehl bekommen, und der Befehl und die Begründung dieses Befehles waren für mich maßgebend.“ – „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“ – „Später ja.“ – „Wann?“ – „Als die großen Transporte ankamen, als man täglich vor allem Frauen vernichten musste. Da hatte jeder, der daran teilnahm, das Gefühl: ob das nötig ist?“23
Auch wenn es äußerlich anders aussah, innerlich kam Höß mit diesem Zwiespalt nicht zurecht. “ Es kam oft vor, daß ich zuhause plötzlich mit meinen Gedanken bei irgendwelchen Vorgängen, bei der Vernichtung war. Ich mußte dann raus. Ich konnte es nicht mehr im traulichen Kreis meiner Familie aushalten. Oft kamen mir so, wenn ich unsere Kinder glücklich spielen sah, meine Frau mit der Kleinsten überglücklich war, Gedanken: Wie lange wird euer Glück noch dauern? […] Wenn man die Frauen mit den Kindern in die Gaskammern gehen sah, so dachte man unwillkürlich an die eigene Familie. Ich war in Auschwitz seit Beginn der Massenvernichtung nicht mehr glücklich. Ich wurde unzufrieden mit mir selbst“24.
Weltuntergang (1945-1946) und Bekehrung (1947)
Nach dem Zusammenbruch des III. Reiches tauchte Höß mit dem falschen Namen Franz Lang unter. Am 11. März 1946 wurde er von der englischen Field-Security-Police entdeckt und verhaftet.
Von Anfang an war Rudolf Höß aussagebereit und hat seine Verantwortung als Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz eingestanden. Unter den großen Kriegsverbrechern war Höß mit seiner nüchternen Aussagebereitschaft und dem Verzicht auf das Abwälzen aller Verantwortung auf Andere eine seltene Ausnahme25.
Der Hauptprozess gegen Höß begann am 2. März 1947 in Warschau und endete am 2. April mit dem Todesurteil. Rudolf Höß wurde am 16. April 1947 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz gehängt.
Vorher, im Februar 1947, hatte er im Gefängnis in Krakau seine autobiografische Niederschrift „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“ geschrieben. Am Ende zog er Bilanz: „Ich bin nach wie vor Nationalsozialist im Sinne einer Lebensauffassung“26. Das änderte sich jedoch. Letztlich brach er völlig mit der Nationalsozialistischen Weltanschauung.
Gleich nach dem Eintreffen im Gefängnis in Wadowice, nach Prozessende, bat er um ein Treffen mit einem katholischen Priester. Am 10. April 1947 führte Pater Lohn SJ ein vielstündiges Gespräch mit Höß, nach dem dieser das katholische Glaubensbekenntnis sprach, so wieder in die Kirche eintrat, und beichtete.
Anschließend schrieb er aus eigenem Antrieb eine „Erklärung“ und übergab sie dem Staatsanwalt zur Veröffentlichung: „Mein Gewissen zwingt mich, noch folgende Erklärung abzugeben: In der Abgeschiedenheit meiner Haft kam ich zu der bitteren Erkenntnis, wie schwer ich an der Menschheit gefrevelt habe. Als Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz verwirklichte ich einen Teil der grauenhaften Menschenvernichtungspläne des «Dritten Reiches». Ich habe so der Menschheit und der Menschlichkeit schwersten Schaden zugefügt. Insbesondere dem polnischen Volk habe ich unsagbares Leid verursacht. Meine Verantwortlichkeit büße ich mit meinem Leben. Möge mir einst mein Herrgott mein Handeln vergeben. Das polnische Volk bitte ich um Verzeihung. In den polnischen Gefängnissen erst habe ich erfahren, was Menschlichkeit ist. Es wurde mir trotz allem Geschehenen eine Menschlichkeit bezeugt, die ich nie erwartet hätte und die mich zutiefst beschämte. Mögen die derzeitigen Enthüllungen u. Darstellungen der an der Menschheit und der Menschlichkeit begangenen ungeheuerlichen Verbrechen dazu führen, dass für alle Zukunft schon die Voraussetzungen zu derartigen grauenvollen Geschehnissen verhindert werden. Rudolf Franz Ferdinand Höß, Wadowice, am 12. April 1947.“27 Zum ersten Mal bekannte sich Höß zu einer Verantwortung für das, was in Auschwitz geschehen ist, nicht nur im rechtlichen Sinn („als Kommandant“), sondern auch im moralischen. So eindrucksvoll diese Erklärung ist, in ihr wird auch deutlich, dass sie noch nicht der letzte Schritt sein kann. „Insbesondere“ dem jüdischen Volk und allen anderen Opfern gegenüber ist Reue und Bitte um Verzeihung noch nicht ausgesprochen.
In diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zur Beichte von Höß. Mit dem Eintritt in die katholische Kirche und der Beichte ist nicht verlangt, vollkommen zu sein. Es ist aber wohl verlangt, in der Beziehung zu Gott leben zu wollen, es ist also der Anfang eines neuen Weges, der weit sein kann. Der Blick Gottes ist voll Liebe, aber auch voll Wahrhaftigkeit. Höß kann sich nicht verstehen ohne seine unendliche Verantwortung vor den Opfern. Die Versöhnung des einzelnen Sünders mit Gott ist nur zu verstehen als Ausdruck des Glaubens, dass Gott keinem Sünder die Umkehr verweigert. Die Versöhnung des einzelnen Sünders mit Gott und der Dienst des einzelnen Priesters ist zu sehen im Kontext des Dienstes der ganzen Kirche, die „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“28 zu sein hat. Die von der Barmherzigkeit Gottes geleitete Hinwendung der Kirche zum Täter schließt die Hinwendung zu den Opfern ein. Das Sakrament der Beichte bedeutet auch, dass die Kirche die Verantwortung, die sich aus den Folgen der Sünden von Rudolf Höß ergibt, mit auf sich nimmt und dass sie liebend und sühnend fortsetzen will, was hier auf Erden an Versöhnungsarbeit auf unabsehbare Zeit noch zu tun bleibt. Wie hier eine Heilung möglich ist, wie die Spannung zwischen Gottes unendlicher Barmherzigkeit und seiner absoluten Gerechtigkeit zu vermitteln ist, ist menschlich nicht mehr vorstellbar. Alle Bilder bleiben unangemessen. Es bleibt das unfassbare Mysterium des Bösen, es bleibt das mysterium iniqitatis. Doch es bleibt auch Gottes Liebe als unfassbares Mysterium, und es bleibt die Hoffnung darauf, dass sie letztendlich gewinnt.
Anmerkungen:
- [1] Ausführlicher: DESELAERS, Manfred, „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“: Die Biographie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen. 2., neubearbeitete Auflage. Leipzig: Benno-Verl., 2001.
- 2 BATAWIA, Prof. Dr. Stanisław, Rudolf Hoess. Komendant obozu w Oświęcimiu [Rudolf Höß. Kommandant des Lagers in Auschwitz]. Biuletyn Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce. VII. Warszawa 1951, S. 9-58; 28. Eigene Übersetzung.
- 3 BROSZAT, Martin (Hrsg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Martin Broszat. München 1989, 12. Aufl. S. 33.
- 4 Archiwum Państwowego Muzeum Oświęcim-Brzezinka (Archiv der staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: APMO), Höß-Prozeß Bd. 21, Bl. 22 (Eigene Übersetzung). NSDAP-Eintritt am 21.11.1922.
- 5 Autobiographische Aufzeichnungen, S. 53.
- 6 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Untersuchung von Michael H. KATER, Die Artamanen – Völkische Jugend in der Weimarer Republik. Historische Zeitschrift (213) 1971, S. 576-638.
- 7 Artamanenheft, S.7 (so bei Kater).
- 8 KATER, Die Artamanen, S. 602f.
- 9 „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse“ (1928); „Um Blut und Boden“ (1929); „Neuadel aus Blut und Boden“ (1930).
- 10 Nach: WISTRICH, Robert, Wer war wer im Dritten Reich? München 1983, S. 59.
- 11 Vgl. JÄCKEL, Eberhard, Hitlers Weltanschauung: Entwurf einer Herrschaft. Erw. u. überarb. Neuausgabe. Stuttgart: dva, 31986, S. 97ff, insbes. S. 115f.
- 12 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 155.
- 13 A. Rosenberg, Das Wesensgefüge des Nationalsozialismus, München 1933.
- 14 Vgl. Autobiografische Aufzeichnungen, S. 148.
- 15 GILBERT, G. M., Nürnberger Tagebuch. Frankfurt am Main 1963, 2. Aufl. S. 260.
- 16 Vgl. RICOEUR, Paul, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Übs. M. Otto. Freiburg(Br.)/München 2. Aufl. 1988 (unveränd.) [Finitude et culpabilité, 2. symbolique du mal, 1960], S. 296.
- 17 GILBERT, Nürnberger Tagebuch, S. 260.
- 18 Das bleibt eine der beunruhigendsten Fragen „nach Auschwitz“, gerade weil sie die religiöse Dimension berührt. Neben der direkten theologischen Reflektion bleibt uns außerdem eine Gewissens-Erforschung im Hinblick auf die praktische Gestalt der christlichen Kultur, die das Bewusstsein der Menschen in ihrem Verhältnis zum Judentum geprägt hat, aufgegeben.
- 19 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 152.
- 20 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 155.
- 21 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 96.
- 22 GILBERT, Nürnberger Tagebuch, S. 260f.
- 23 APMO Höß-Prozeß Bd. 23,Bl. 127f(p).
- 24 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 133f.
- 25 Vgl. BATAWIA, Rudolf Hoess, S. 12. Im Schlussplädoyer vergleicht der Verteidiger Ostaszewski Höß diesbezüglich ausführlich mit anderen SS-Größen. APMO Höß-Prozeß 30,88-90.
- 26 Autobiografische Aufzeichnungen, S. 152.
- 27 Deutsch in: BIULETYN Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce [Bulletin der Hauptkommission für die Erforschung der hitlerschen Verbrechen in Polen] VII, Warszawa 1951, S. 222.
- 28 Dogmatische Konstitution Lumen Gentium, Nr. 1.
Veröffentlicht in:
Dialog an der Schwelle von Auschwitz. Hg. v. Manfred Deselaers, Krakow 2003.