Gebetsweg entlang der Rampe in Birkenau

Symbolische Teilnahme am letzten Weg von Edith Stein

Einleitung

Uns versammelt hier heute das Andenken an Edith Stein, Philosophin, Pädagogin, Karmelschwester, Tochter des jüdischen Volkes und Tochter der Kirche.
Das Leben von Edith Stein war geprägt von mutiger Suche nach Wahrheit, engagierter Teilnahme am intellektuellen und kulturellen Ringen um das wahre Menschenbild, tiefem Glauben an die christliche Botschaft vom Kreuz als Quelle der Hoffnung und ungebrochener Liebe zu den Menschen, zur Kirche und zum jüdischen Volk, mit dessen Schicksal sie sich ganz vereint bis zum Tod in Auschwitz.
Sie wurde hier, auf der Erde von Oświęcim, im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet, zusammen mit vielen anderen, nur deshalb, dass sie eine jüdische Abstammung hatte.
Wir wollen diese große Frau ehren.
Die Erinnerung an ihr Leben und Sterben fordert uns gleichzeitig auf, über die Aufgabe des Christentums in unserer Welt nachzudenken. Das verlangt von uns eine ehrliche Gewissenserforschung und ein klares Glaubenszeugnis. Weil wir fest glauben, dass Edith Stein, Teresa Benedikta vom Kreuz, schon in die Herrlichkeit des Herrn eingegangen ist, wollen wir sie um ihren Beistand anrufen, damit sie uns helfe, unsere Berufung als Christen im dritten Jahrtausend besser zu erkennen.

Lasst uns beten.
Gott unserer Väter, erfülle uns mit der Gnade des Glaubens, mit der Du auf besondere Weise die heilige Theresa Benedikta begabt hast, und gewähre auf ihre Fürsprache dass wir immerfort Dich suchen, die höchste Wahrheit, und treu Deinem Bund der Liebe auf dem alten Kontinent für Achtung und Toleranz eintreten. Durch unseren Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn, der mit Dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Station 1
Edith und die Schoah

Während der Heiligsprechung von Edith Stein, Schwester Theresa Benedikta vom Kreuz, sagte Papst Johannes Paul II:
Wenn wir von nun an jedes Jahr das Gedächtnis der neuen Heiligen begehen, müssen wir uns auch an die Shoah erinnern, an den schrecklichen Plan, ein ganzes Volk zu vernichten, dem Millionen unserer jüdischen Brüder und Schwester zum Opfer fielen. Möge der Herr sein Antlitz über sie leuchten lassen und ihnen Frieden gewähren (Num 6,25f).

Unser Weg entlang der Rampe im Lager Birkenau, vom Einfahrtstor zu den Ruinen der Gaskammern und Krematorien folgt dem letzten Weg der meisten Opfer von Auschwitz. Symbolisch bedeutet das, dem letzten Weg von Edith und Rosa Stein zu folgen. Sie wurden mit einem Transport von Juden hierhin gebracht, um getötet zu werden.

Edith war sich bewusst, dass sie in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes trotz ihrer Zugehörigkeit zur Kirche das Schicksal des jüdischen Volkes teilt.
1933, im Jahr als das „Dritte Reich“ errichtet wurde, erzählte ein Bekannter Edith, was amerikanische Zeitungen von Gräueltaten berichteten, die an Juden verübt worden seien.
Ich hatte ja schon vorher von scharfen Maßnahmen gegen Die Juden gehört. Aber jetzt ging mir auf einmal ein Licht auf, dass Gott wieder einmal schwer seine Hand auf sein Volk gelegt habe, und das das Schicksal dieses Volkes auch das meine war.“ [1]
Im selben Jahr entschließt sie sich in den Karmel einzutreten. Auch hier fühlt sie sich mit ihrem Volk tief verbunden. Als Ordensnamen wählt sie „Theresa gesegnet vom Kreuz“. Ihrer Oberin schreibt sie später: „Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich damals anzukündigen begann.“ [2]

Beten wir das Gebet, das Johannes Paul II für das jüdische Volk 1999 am Umschlagplatz in Warschau gesprochen hat:
Vater Abrahams, Vater der Propheten, Vater Jesu Christi, von dir ist alles umfangen, zu dir strebt alles hin, du bist das Ziel von allem. Erhöre unsere Gebete, die wir vor dich bringen für das jüdische Volk, das dir um seiner Vorfahren willen weiterhin teuer ist.
Erwecke stets in ihm eine immer lebendigere Sehnsucht nach deiner Liebe und Wahrheit. Steh ihm bei in seinen Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit, damit dieses Volk die Allmacht deines Segens bezeugen kann.
Steh ihm bei, damit es Achtung und Liebe von denen erfährt, die noch nicht das Ausmaß seiner Leiden verstehen, und von denen, die solidarisch, im Bewusstsein gegenseitiger Sorge, den Schmerz und die Wunden des jüdischen Volkes mitfühlen.
Gedenke der nächsten Generation, der Jugendlichen und der Kinder, auf dass sie stets treu an dich glauben und an das, was das besondere Geheimnis ihrer Berufung ausmacht. Stärke alle Generationen, damit dank ihres Zeugnisses die Menschheit begreife, dass dein Heilsplan sich auf die ganze Menschheit erstreckt und dass du, Vater, Anfang und Ziel aller Völker bist.
Amen.


Station 2
Gewissenserforschung

Am Rande von Auschwitz brauchen wir alle eine Gewissenserforschung. Aus Anlass der Veröffentlichung des vatikanischen Dokumentes „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa“ schrieb Papst Johannes Paul II: „Die Kirche […] ermutigt ihre Söhne und Töchter, ihre Herzen durch Reue über die Irrtümer und Treulosigkeiten der Vergangenheit zu läutern. Sie ruft sie dazu auf, in Demut vor den Herrn zu treten und sich selbst im Blick auf die Verantwortung zu prüfen, welche auch sie für die Übel unserer Zeit haben.“ [3]

Lassen wir den Brief, den Edith Stein im Jahr 1933 an Papst Pius XI geschrieben hat, zu uns sprechen. Edith:
In den letzten Wochen hatte ich immerfort überlegt, ob ich nicht in der Judenfrage etwas tun könnte. Schließlich hatte ich den Plan gefasst, nach Rom zu fahren und den Heiligen Vater in Privataudienz um eine Enzyklika zu bitten. […] Meine Erkundigungen In Rom ergaben, dass ich wegen des großen Andrangs keine Aussicht auf eine Privataudienz hätte. […] So verzichtete ich auf die Reise und trug mein Anliegen schriftlich vor.“ [4]

Heiliger Vater!
Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt.
Seit Wochen sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit – von Nächstenliebe gar nicht zu reden – Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialistischen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschaft – darunter nachweislich verbrecherische Elemente – bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen. Dass Ausschreitungen vorgekommen sind, wurde noch vor kurzem von der Regierung zugegeben. In welchem Umfang, davon können wir uns kein Bild machen, weil die öffentliche Meinung geknebelt ist. Aber nach dem zu urteilen, was mir durch persönliche Beziehungen bekannt geworden ist, handelt es sich keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle. Unter dem Druck der Auslandsstimmen ist die Regierung zu „milderen“ Methoden übergegangen. Sie hat die Parole ausgegeben, es solle „keinem Juden ein Haar gekrümmt werden“. Aber sie treibt durch ihre Boykotterklärung – dadurch, dass sie den Menschen wirtschaftliche Existenz, bürgerliche Ehre und ihr Vaterland nimmt – viele zur Verzweiflung: es sind mir in der letzten Woche durch private Nachrichten 5 Fälle von Selbstmord infolge dieser Anfeindungen bekannt geworden. Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. Man mag bedauern, dass die Unglücklichen nicht mehr inneren Halt haben, im ihr Schicksal zu tragen. Aber die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und sie fällt auch auf die, die dazu schweigen.
Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich „christlich“ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? Und ist es nicht ein schwarzer Flecken in der Chronik dieses Heiligen Jahres, das ein Jahr des Friedens und der Versöhnung werden sollte?
Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.
Zu Füssen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend
Dr. Edith Stein

Wir wissen, dass viele Christen, darunter die Päpste, sich den Nazis widersetzt und Verfolgten geholfen haben. Es ist auch schwer, das Gewissen einzelner Personen zu beurteilen. Jedoch war „der geistige Widerstand und das konkrete Handeln anderer Christen nicht so, wie man es von Nachfolgern Christi hätte erwarten können.“ [5]
Wir wissen und bekennen, dass viele Christen, auch kirchliche Würdenträger, versagt haben und schuldig geworden sind. Die Wunden, die von Christen dem jüdischen Volk im Laufe der Jahrhunderte und besonders während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden, tun uns sehr leid.
Wir wollen uns dem Gebet anschließen, das Papst Johannes Paul II im März 2000 an der Klagemauer in Jerusalem gebetet hat:
Gott unserer Väter,
du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt,
deinen Namen zu den Völkern zu tragen.
Wir sind zutiefst betrübt
über das Verhalten aller,
die im Laufe der Geschichte
deine Söhne und Töchter leiden ließen.
Wir bitten um Verzeihung
und wollen uns dafür einsetzen,
dass echte Geschwisterlichkeit herrsche
mit dem Volk des Bundes.“


Station 3
Häftlinge in Auschwitz

Bei der Selektion auf der Rampe wurden einige Gefangene aus den jüdischen Transporten genommen und zum Arbeiten ins Lager geschickt. Wir wollen hier an alle Häftlinge des Lagers Auschwitz und seiner Nebenlager denken.
Seit 1940 wurden ungefähr 400.000 registrierte Häftlinge in die Lager des KL Auschwitz gesperrt.
Von Anfang an wurden Polen hierhin geschickt: Soldaten, Widerständler und nationale Führungspersonen, darunter 400 Priester und geistliche Personen. Von den 150.000 Polen kam die Hälfte in den Lagern ums Leben.
Seit 1941 kamen etwa 15.000 sowjetische Kriegsgefangene, die fast alle starben.
Seit 1943 kamen etwa 23.000 sogenannte Zigeuner, Sinti und Roma; 21.000 starben.
Viele andere wurden nach Auschwitz deportiert, nicht jüdische Gruppen aus verschiedenen Ländern, meistens aus dem Widerstand, aber auch Zeugen Jehovas und Homosexuelle.
Seit 1942 kamen Transport mit Juden aus ganz Europa. Während die meisten direkt in die Gaskammern geschickt wurden, wurden junge und starke zum Arbeiten herausgesucht. Ungefähr 200.000 Juden wurden in die Lager geschickt, wo die Hälfte ums Leben kam.

Primo Levi, ein Überlebender, erinnert sich:
Es gibt nichts, worin wir uns spiegeln könnten, und doch haben wir unser Ebenbild vor Augen, es bietet sich uns in hundert leichenblassen Gesichtern dar, in hundert elenden und schmierigen Gliederpuppen. So sind wir nun in ebensolche Gespenster verwandelt, wie wir sie gestern Abend gesehen haben.
Da merken wir zum ersten Mal, dass unsere Sprach keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dieses Vernichten eines Menschen. In einem einzigen Augenblick und mit prophetischer Schau enthüllt sich uns die Wahrheit: Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht; ein noch erbärmlicheres Menschendasein gibt es nicht, ist nicht mehr denkbar. Und nichts ist mehr unser: Man hat uns die Kleidung, die Schuhe und selbst die Haare genommen; werden wir reden, so wird man uns nicht anhören, und wird man uns auch anhören, so wird man uns nicht verstehen. Auch den Namen wird man uns nehmen; wollen wir ihn bewahren, so müssen wir in uns selber die Kraft dazu finden, müssen dafür Sorge tragen, dass über den Namen hinaus etwas verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen.“ [6]

Glaube bleibt im Angesicht von Auschwitz immer Glaube in der dunklen Nacht, in Frage gestellter Glaube. In der ‚Kreuzeswissenschaft‘ von Edith Stein stehen die Sätze:
Wir wissen …, daß ein Zeitpunkt kommt, in dem die Seele … völlig in Dunkelheit und Leere versetzt wird. Es bleibt ihr gar nichts anderes mehr, woran sie sich halten könnte, als der Glaube. Der Glaube stellt ihr Christus vor Augen: den Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen. In seiner Armut und Verlassenheit findet sie die ihre wieder.“ [7]

Psalm 22
Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du mich verlassen,
bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?
Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch Du gibst keine Antwort;
ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe.
Aber Du bist heilig, Du thronst über dem Lobpreis Israels.
Dir haben unsere Väter vertraut,
sie haben vertraut, und du hast sie gerettet.
Zu Dir riefen sie und wurden befreit,
Dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch,
der Leute Spott, vom Volk verachtet.
Alle, die mich sehen, verlachen mich,
verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
‚Er wälze die Last auf den Herrn, der soll ihn befreien!
Der reiße ihn heraus, wenn er ihn liebt.‘
   [Pause]
Ich will Deinen Namen meinen Brüdern verkünden,
inmitten der Gemeinde Dich preisen.
Die Ihr den Herrn fürchtet, preist ihn,
denn er hat nicht verachtet,
nicht verabscheut das Elend des Armen.
Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm;
er hat auf sein Schreien gehört.

Edith Stein wurde nicht zur Arbeit selektiert. Sie ging den Weg der meisten Opfer von Auschwitz, die nicht einmal Häftlinge wurden, sondern direkt von den Eisenbahnwaggons zu den Gaskammern gingen.
 – Wir gehen in Stille.

Station 4
Schoah

Die meisten Opfer von Auschwitz wurden nie Häftlinge im Lager. Ungefähr 900.000 Juden wurden direkt zu den Gaskammern gebracht und dort ermordet, unter ihnen Edith und Rosa Stein. Dann wurden ihre Körper, wie die Körper aller anderen Gefangenen, verbrannt und ihre Asche weggeworfen. Das wurde das Symbol für die Schoah; das war die Schoah.

Aus den nach dem Krieg gefundenen Aufzeichnungen von Salmen Levental, einem Mitglied des Sonderkommandos, das an den Krematorien arbeiten musste:
Unglück. Solche Gefühle nagten an jedem von uns. Sol­che Gedanken kamen jedem von uns in den Sinn. Wir schämten uns einer vor dem Andern und wagten nicht, uns in die Augen zu schauen. Mit vor Schmerz, vor Scham, vor Weinen und Jammern geschwolle­nen Augen drückte sich jeder in eine Ecke, um die Begegnung mit einem anderen zu vermeiden.“ [8]
Einmal, als mehrere hundert nackte, ausgemergelte Frauen bei Frost vor dem Krematorium von Last­wagen geschüttet wurden:
Einer von uns, der auf der Seite stand und auf das ungeheure Unglück dieser wehrlosen, zu Tode gequälten Seelen schaute, konnte sich nicht beherr­schen und fing an zu weinen. Ein junges Mädchen rief da aus: «schaut, was ich noch vor meinem Tod erlebe: einen Ausdruck von Mitleid und Tränen, ver­gos­sen über unser schreckliches Schicksal. Hier im Lager der Mörder, wo man plagt und schlägt und wo man zu Tode quält, wo man Morde sieht und fallende Opfer, hier, wo die Menschen das Gefühl für größtes Unglück verloren haben, hier, wo jegliche menschlichen Gefühle ab­stumpften, hier, wo du, wenn dein Bruder oder deine Schwester vor deinen Augen fällt, du ihnen nicht ein­mal einen Abschieds­seufzer gewähren kannst, hat sich noch ein Mensch gefunden, der sich unser furchtbares Unglück zu Herzen nimmt und sein Mitleid durch Weinen ausdrückt. Ach, etwas Wunderbares, etwas Übernatürliches. Tränen und Seufzer eines lebendigen [Menschen] begleiten uns zum Tod, es gibt noch jemanden, der uns beweinen wird.“ [9]

EL MALE RACHAMIM
Jüdisches Gebet für die Ermordeten

אֵל מָלֵא רַחֲמִים שׁוֹכֵן בַּמְּרוֹמִים, הַמְצֵא מְנוּחָה נְכוֹנָה תַּחַת כַּנְפֵי הַשְּׁכִינָה, בְּמַעֲלוֹת קְדוֹשִׁים

וּטְהוֹרִים כְּזוֹהַר הָרָקִיע מַזְהִירִים, לְנִשְׁמוֹת שֵׁשֶׁת מִילְיוֹנֵי הַיְּהוּדִים, חַלְלֵי הַשּׁוֹאָה בְּאֵירוֹפָּה, אֲנָשִׁים נָשִׁים וָטַף, שֶׁנִּטְבְּחוּ, וְשֶׁנֶחְנְקוּ, וְשֶׁנִּשְׂרְפוּ וְשֶׁנֶּהֶרְגוּ עַל קִידוּש הַשֶם בְּאוֹשְוִיץ… בִּידֵי הַמְרַצְּחִים הַגֶּרְמָנִים וְעוֹזְרֵיהֶם מִשְּׁאָר הָעַמִּים. בַּעַבוּר שֶׁאַנוּ מִתְּפַּלְלִים לְעִילוּי נִשְׁמוֹתֵיהֶם. לָכֵן בַּעַל הָרַחֲמִים יַסְתִּירֵם בְּסֵתֶר כְּנָפָיו לְעוֹלָמִים, וְיִצְרוֹר בִּצְרוֹר הַחַיִּים אֶת נִשְׁמוֹתֵיהֶם, ה‘ הוּא נַחֲלָתָם, בְּגַן עֵדֶן תְּהֵא מְנוּחָתָם, וְיָנוּחוּ בְשָׁלוֹם עַל פְּזוּרֵי מִשְׁכּבָם, וְיַעֶמְדוּ לְגוֹרָלָם לְקֵץ הַיָּמִין ,וְנֹאמַר אָמֵ

G’tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend, es sollen finden die verdiente Ruhestätte unter den Flügeln Deiner Gegenwart, in den Höhen der Gerechten und Heiligen, strahlend wie der Glanz des Himmels, all die Seelen der Sechs-Millionen Juden, Opfer der Shoah in Europa, ermordet, geschlachtet, verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens; in Auschwitz und anderen Orten durch die Hände der deutschen Mörder und ihrer Helfer.
Sieh wir beten für das Aufsteigen ihrer Seelen, so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens. G’tt sei ihr Erbbesitz, und im Garten Eden ihre Ruhestätte, und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden. Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage. Und wir sagen: Amen.

Abschluss

Lasst uns für die Ermordeten beten:
Herr schenke ihnen die ewige Ruhe – und das ewige Licht leuchte ihnen! (3x)
Lass sie leben in Deinem Frieden!
Amen

 – In Stille bringen wir unsere Kerzen oder Blumen zum Denkmal –

Lasst uns für uns selbst beten:
Herr, mach mich zu einem Werkzeug Deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst,
dass ich verzeihe, wo man beleidigt,
dass ich verbinde, wo Streit ist,
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist,
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht,
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis herrscht,
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde,
sondern dass ich tröste,
nicht, dass ich verstanden werde,
sondern, dass ich verstehe,
nicht, dass ich geliebt werde,
sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt,
wer sich selbst vergisst, der findet,
wer verzeiht, dem wird verziehen,
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Amen.

Lasst uns das Gebet sprechen, das Jesus uns gelehrt hat. Jemand hat einmal gesagt, dieses Gebet hätte im Konzentrationslager entstehen können. Wir beten gemeinsam, aber jeder in seiner Muttersprache:
Vater Unser…
Segen
Lasst uns gehen in Seinem Frieden!

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1 In Wie ich in den Kölner Karmel kam. ESGA 1, 346.
2 Brief vom 9. Dezember 1938. ESGA 3, 323.
3 Brief an Kardinal Cassidy. Im Dokument der Kommission für die religiösen Kontakte mit dem Judentum Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa. Vatikan, 16, März 1998.
4 In Wie ich in den Kölner Karmel kam. ESGA 1, 347.348.
5 Dokument der Kommission für die religiösen Kontakte mit dem Judentum Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa. Vatikan, 16, März 1998.
6 Primo Levi, Ist das ein Mensch? Deutsch von Heinz Riedt. dtv München 1992, S. 27f.
7 Kreuzeswissenschaft. ESGA 18, 100.
8 Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. Hefte von Au­schwitz, Sonderheft I, Oświęcim 1972, S. 145.
9 Ebd., S. 153.
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Auf der Grundlage eines Textes, der gemeinsam mit dem Polnischen Rat der Christen und Juden für die Gedenkfeier aus Anlass des 70. Jahrestages des Todes von Edith Stein im Jahr 2012 vorbereitet wurde.