Rabbi Alon Goshen-Gottstein

Die Frage nach Gott und Auschwitz

Mein Auftrag, wie ich ihn verstehe, besteht darin, mit Ihnen theologisch auf der Grundlage jüdischer Quellen über die Frage nach Gott und Auschwitz nachzudenken. Wie können wir die gemeinsame Herausforderung, der wir als Geistliche und als Menschen hier an der Schwelle dieses Ortes gegenüberstehen, theologisch reflektieren und religiös beantworten?

Wie das Ereignis benennen?

Die Sprache beeinflusst in hohem Maße unsere Sicht der Dinge. Wie spricht man von den Ereignissen, die sich in Europa in den 1940er Jahren abspielten und deren Symbol der Ort geworden ist, an dem wir uns versammeln? Die Menschen haben die Notwendigkeit verspürt, eine neue Art von Sprache zu verwenden, um diese bedeutsamen und entsetzlichen Ereignisse in Worte zu fassen, die hier geschahen. Manche haben neue Begriffe verwendet, manche haben alte Begriffe verwendet.

Elie Wiesel wird die Einführung des Terminus „Holocaust“ zugeschrieben. Holocaust ist, wie Sie wissen, ein biblischer Begriff für eine Opfergabe, ein Opfer. Die Vernichtung des europäischen Judentums einen Holocaust zu nennen, beschreibt sie nicht nur als Tatsache; es ist bereits eine Form, ihr einen Wert zu geben. Es bedeutet zu sagen, dass es von religiöser Bedeutung ist, weil ein Opfer dargebracht wurde; dadurch wurde ein neutraler Vorgang oder ein Vorgang, dessen Bedeutung wir nicht kennen, verwandelt.

Sehr gebräuchlich für eine andere Sichtweise ist der Terminus, für den Israelis sich entschieden haben: „Schoah“. Schoah ist interessanterweise nicht so religiös aufgeladen. Schoah bezeichnet eine unerwartete, plötzliche, andersartige Zerstörung, etwas, das von ferne kommt. Er ruft einen biblischen Vers in Erinnerung, Jesaja 10, 3: „Sturm, der aus der Ferne kommt“. Somit spricht er von der psychologischen Verfassung der Zerstörung und der vollständigen Vernichtung.

Der dritte Begriff, repräsentativ für das klassische orthodoxe Denken, lautet „Churban“. Dieses Wort churban ist dasselbe, das wir verwenden, um die Zerstörung des ersten Tempels zu beschreiben und die Zerstörung des zweiten Tempels und die Zerstörung der vielen Gemeinden und Gemeinschaften während des ganzen Mittelalters. Wenn man sagt, „Das war der große churban“ , so heißt das nichts anderes als dass dies ein weiteres Unheil in der langen Reihe von fortlaufenden Katastrophen ist, die sich seit Jahrtausenden ereignet haben.

Die Wahl des Wortes, mit dem wir uns auf die Ereignisse beziehen, für die dieser Ort Symbol und Inbegriff ist, entscheidet somit bereits darüber, was wir in ihnen sehen und was wir in ihnen finden. Sie bringt für uns Themen von philosophischer und theologischer Bedeutung zur Sprache. Wenn man die Notwendigkeit spürt, das Sprechen über die Geschehnisse in Auschwitz in neuer Sprache zu formulieren, bedeutet dies, dass sich irgendwie etwas Neues, Anderes gezeigt hat. Und genau dies ist die große Notwendigkeit, die die meisten Denker im Hinblick auf den Holocaust empfunden haben, wie sich in den ersten zwei Optionen zeigt, die oben aufgeführt wurden.

Einmaligkeit?

Dies führt uns zu der Frage: Ist der Holocaust einmalig? Sind seine theologischen Herausforderungen einmalig? Wenn man mit der Sprache spricht, die durch die Generationen verwendet wurde, der Sprache des churban, der Zerstörung, dann sagt man in Wirklichkeit: „Ich kann die Kontinuität dessen erkennen, was sich in allen Generationen zugetragen hat“. Dann wäre, zumindest in der Theorie, meine religiöse Antwort auf das, was sich hier zugetragen hat, in Übereinstimmung mit den überkommenen religiösen Antworten der verschiedenen Generationen.
Somit gelangen wir aufgrund dieser linguistischen Vorüberlegung zu einer Aussage über das Problem. Wenn wir über das Thema Gott in Auschwitz sprechen, so stehen wir vor der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, ob die Herausforderung, Gott in Auschwitz zu finden, der ganzen Geschichte jüdischen Leidens ähnlich oder unähnlich sei, kontinuierlich oder diskontinuierlich. Für den Nicht-Juden könnte die Frage so formuliert werden, ob sie durchgängig sei mit der Geschichte menschlichen Leidens im Allgemeinen.

Lassen Sie mich daher ein Argument bezüglich der Frage von Einmaligkeit oder Nicht-Einmaligkeit anbringen.

Steven Katz ist Professor an der Universität zu Boston und der führende Experte in Fragen der Schoah aus philosophischer Perspektive.1 In der Einführung zu seinem Werk behandelt Katz die Frage nach der Einmaligkeit des Holocaust. Er macht auf folgende Tatsache aufmerksam: Theologen neigen dazu, ihre Theologie mit ihrem eigenen historischen Verständnis zu korrelieren, so dass diejenigen, die den Holocaust als einmalig ansahen, auch eine neue Theologie einforderten. Man könne nicht mehr fortfahren, von Gott in derselben Weise zu sprechen. Angesichts der Einmaligkeit des Holocaust sagten sie: „Etwas Neues und Einmaliges ist geschehen, daher werden wir von nun an unsere Theologie anders betreiben, von Gott anders sprechen“.

So sprach sich zum Beispiel Rabbi Irving Yitz Greenberg in seiner Theologie des Holocaust zunächst für einen radikalen Bruch, eine Diskontinuität aus. Dann führt er aus: „Etwas hat sich im eigentlichen Charakter der Beziehung zwischen Israel und Gott geändert, ein Bund wurde von Gott gebrochen. Von nun an ist die Erfüllung des Bundes durch Israel freiwillig und nicht länger verpflichtend“. Er verknüpft die historische Einmaligkeit mit theologischer Neuartigkeit.

Ein anderer Denker, Emil Fackenheim, sagt: „Nach Auschwitz haben wir nicht mehr 613 Gebote (der klassische rabbinische Prototyp für die Anzahl der Gebote), wir haben jetzt 614 Gebote. Das neue Gebot lautet: Wir dürfen Hitler nicht siegen lassen“. Das jüdische Volk muss immer einen Weg finden, weiter zu bestehen. Es gibt also stets ein Empfinden von Bruch.

Im Gegensatz dazu sprechen diejenigen, die klassisches theologisches Denken aufrecht erhalten wollen, von historischer Kontinuität. In diesem Zusammenhang ist Eliezer Berkovitz ein gutes Beispiel. Er behauptet, dass, historisch gesehen, der Holocaust in der Perspektive der theologischen Herausforderung, welche er darstellt, nicht einmalig ist. Es hat immer Leiden gegeben, es hat immer Zerstörung gegeben, und all die Antworten, die in der Vergangenheit hilfreich waren, müssen aufrecht erhalten werden. Die meisten orthodoxen Stellungnahmen gehören der Kategorie „Kontinuität“ an.

In einem kürzlich veröffentlichten Werk von David Weiss Halivni stellt dieser seine eigene Theologie vor, nicht von Auschwitz, sondern „Nach Auschwitz“.2 Halivni spricht von einem Pendel. Der eine Pol jüdischer Geschichte ist Sinai, der andere Pol jüdischer Geschichte ist Auschwitz. Sinai ist eine Verkörperung der Anwesenheit Gottes; sie erscheint uns, stellt eine Beziehung mit uns her, gebietet uns. Am anderen Pol der Geschichte liegt Auschwitz. Auschwitz ist eine Verkörperung der Abwesenheit Gottes. Und die jüdische Geschichte wird in dieser Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit gelebt. Dies führt Halivni zu Erkenntnissen, nicht nur im Verständnis von Gottes Präsenz im Bösen und Leiden, sondern auch für das Gebet, für Fragen der Hermeneutik und für das Studium der Torah. Es ist interessant, wie Halivni die Beziehung zwischen Sinai und Auschwitz in Begriffe fasst. Für Greenberg handelt es sich um ein Kontinuum: man schreitet voran, und dann kommt man nach Auschwitz, und man erreicht einen Punkt, von dem es kein Zurück gibt. Es gibt ein Vorher, und es gibt ein Danach. Die Dinge werden nie wieder dieselben sein nach Auschwitz. Halivni seinerseits benutzt die Metapher des Pendels. Ein Pendel schwingt bis zu einem Extrem, und wenn es den äußersten Punkt erreicht, schwingt es zurück. Halivni sagt, „Auschwitz geschah, als das Pendel am absoluten Extrempunkt war. Jetzt beginnt das Pendel zurück zu schwingen“.

Was es Halivni und vielen anderen erlaubt so zu denken, ist natürlich die Tatsache, dass Auschwitz in so großer historischer Nähe zur Gründung des Staates Israel geschah. Das wirft die Frage auf: Worin liegt die theologische Bedeutung der Errichtung des Staates Israel? Die meisten Christen, so scheint mir, haben kein ausreichendes Verständnis der theologischen Bedeutung der Gründung des Staates Israel, die sich unterscheidet von der politischen oder existenziellen. Denn der Staat Israel kann nicht nur als eine Form verstanden werden, die Kontinuität und die Lebensmöglichkeit des jüdischen Volkes zu sichern, sondern – da er in Beziehung zu den Jahrtausenden von Verheißungen steht, die erfüllt wurden – auch als die Erfüllung des Glaubens. Daher ist der Auftrag, den dieser Staat im jüdischen Bewusstsein hat, sehr verschieden und ganz und gar ungleich zu dem Auftrag irgendeines anderen Staates. Somit, um zu Halivni zurückzukehren, gewährt die Gründung des Staates Israel unmittelbar nach Auschwitz die endgültige Zusage, von Gott nicht verlassen worden zu sein.

Ich komme auf die Frage nach der Einmaligkeit des Holocaust zurück, und da finde ich die Argumentation von Katz überzeugend. Nach seiner Auffassung liegt die Einmaligkeit des Holocaust mehr im historischen als im theologischen Bereich. Was den Holocaust einmalig macht, ist die Tatsache, dass nie zuvor ein Staat eine Politik als bewusstes Prinzip entwickelte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die zu einem spezifischen Volk gehören, physisch zu vernichten, und dass dieser Staat diese Politik in die Tat umsetzte. Dieser Einmaligkeit von Vorhaben, Absicht und Wille können wir die Mittel der Ausführung und die Technologie und die Effizienz und verschiedene andere Dinge hinzufügen, die dazu beitrugen, den Holocaust einmalig zu machen.

Das alles ist von historischer Einmaligkeit, nicht notwendigerweise von theologischer Einmaligkeit, und daher – so argumentiert Katz und ich stimme mit ihm überein – mag man wohl sagen, dass man eine neue Theologie braucht, und man mag wohl sagen, dass man eine neue Theologie nicht braucht. Doch welche Haltung auch immer man einnimmt, kann und soll sie doch unabhängig von der Frage nach der historischen Einmaligkeit sein. Wenn also der Holocaust einmalig ist, so kann man doch traditionelle theologische Auffassungen beibehalten, und auch wenn der Holocaust nicht einmalig ist, so kann man durchaus neue theologische Gedanken formulieren. Diese Verknüpfung der Beziehung zwischen der historischen und der theologischen Dimension, auf die sich so viele stützen, ist kein notwendiger Konnex.

In gewissem Grade ist die Frage nach der Einmaligkeit oder Nicht-Einmaligkeit abhängig davon, wie wir die Frage formulieren. Lassen Sie mich einige Formulierungen vorschlagen, die uns helfen, uns der grundlegenden theologischen Diskussion anzunähern.

Fragen und Antwortstrategien

Wie lautet die Frage, die wir zu beantworten suchen? Wenn wir auf den Holocaust und auf Auschwitz blicken: Was versuchen wir zu tun?

Die erste Option: Wir versuchen zu erklären, was geschehen ist. Erklären bedeutet auf eine Art rechtfertigen. Man gibt eine gute Erklärung, und man erhält Zugriff auf diesen Gegenstand. Man hat Zugriff, man versteht, man rechtfertigt. Also stellt man die Frage: „Wie konnte dies geschehen?“ oder „Wie konnte Gott dies zulassen?“ oder „Warum hat Gott das getan?“ Das sind alles Variationen über das Thema. Und hier treffen wir auf verschiedene markante Strategien.

Die klassische Antwort sieht diese Geschehnisse im Licht der traditionellen Lehre von Sünde und Strafe. Dieses Verständnis ist nur schwer mit der Realität von Auschwitz in Einklang zu bringen, und es führt einige Denker dazu, von dem alten, klassischen Weg, einen Sinn im Leiden zu sehen, Abstand zu nehmen. Es gibt Lohn, es gibt Strafe. Das ist fundamentale biblische Lehre.

Aber Auschwitz zwingt uns zu der Frage: Welche Sünde kann dies rechtfertigen? Warum starben die Gerechten, warum wurden ganze Gemeinden ausgelöscht? Wo ist das Verhältnis zwischen Sünde und Strafe? Wir können keine vernünftige Theodizee mehr treiben. Und in der Tat führt die Perspektive der Theodizee zu einer Art Konflikt der Interpretationen, der verschiedenen Versuche, auf die Frage nach der Verantwortung für die Schoah zu antworten. Es hängt nämlich von der eigenen historischen Auffassung ab, wie man sie versteht. Ist man Zionist, so war die Schoah die Strafe für jene, die keine Zionisten waren. Ist man Anti-Zionist, erscheint die Schoah als Strafe für den Zionismus. Ist man gegen die Assimilation, dann sieht man die Schoah als Strafe für die Anhänger der Assimilation.

Jeder liest die Geschichte in Übereinstimmung mit seiner eigenen Weltanschauung. Dies schwächt natürlich alle Bemühungen, indem es sie und die Deutung, die auf dem Gedanken von Sünde und Strafe basiert, unwahrscheinlich macht. Was diese Meinungen erbringen, ist vielmehr eine Projektion unserer Auffassungen und ein Mittel, unsere eigenen Überzeugungen aufrecht zu erhalten, als die Ermöglichung, in die Tiefen der Gründe Gottes vorzudringen und zu erklären, warum Er furchtbare Dinge tut oder geschehen lässt.

Die zweite Strategie bezieht sich auf die Geschichte und nicht auf das Thema Sünde. Anstatt also in diesen Ereignissen Gottes Strafe zu sehen, betrachten wir sie als etwas, das historische Entwicklungen in Gang setzte. Natürlich überschneiden sich diese zwei Perspektiven, aber sie sind doch unterscheidbar.

Die Gush Emunim Bewegung hat als ihre geistliche Inspiration und als ihren Lehrmeister Rabbi Zvi Yehida HaCohen Kook, den Sohn des ersten Oberrabbiners von Israel im frühen 20. Jahrhundert, Rabbi Avraham Yitzchak HaCohen Kook. Im Denken dieser beiden gibt es Kontinuität sowohl als auch Diskontinuität. Rabbi Kook, der Sohn, spricht von der Schoah als einem chirurgischen Eingriff. Sie ist eine bewusste Form, dem jüdischen Volk Leid zuzufügen, um mit der Durchführung der Operation den Patienten zu retten. Und was ist nun der Eingriff? Die Juden sollen nicht im Exil leben; Gott will, dass sie zurück gebracht werden in das Land. Da es schwierig ist, sie zu verpflanzen, muss Gott diesen Eingriff vornehmen, um sie von da zu entwurzeln, wo sie im Exil leben, und sie zurück zu bringen in das Land.

Ich persönlich halte dies für eine geschmacklose Theologie. Warum? Erstens sind die Juden immer noch zu einem großen Teil außerhalb des Landes Israel. Also war der Holocaust ein hoher Preis für eine misslungene Operation. Zweitens, um eine gebräuchliche Redensart zu paraphrasieren, mag die Operation erfolgreich gewesen sein, doch der halbe Patient ist gestorben. Und drittens hätte Gott doch sicher andere Wege zu diesem Ziel finden können, anstatt die extremen Maßnahmen zu ergreifen, die Er gewählt hat. Daher ist dies eine höchst „ideologisierte“ Form, Geschichte zu deuten. Aber vielleicht etwas ernsthafter: Das ist eine Geschichtsdeutung, die die Schoah vollständig „entkatastrophisiert“, wenn ich diesen Ausdruck verwenden darf. Sie ist eine Katastrophe jenseits aller Worte, jenseits aller Vorstellung, aber diese Deutung bringt sie wieder zurück in unsere Vorstellungswelt. Się wird zu etwas, das wir fassen und uns zusammenreimen können. Sie ist nicht länger eine Katastrophe. In Wirklichkeit ist sie eine wunderbare Sache, die Gott für uns tat, nämlich das halbe jüdische Volk zu vernichten. Er hätte uns kein größeres Geschenk machen können.

Diese Betrachtungsweise finde ich problematisch und geschmacklos. Sie ist allerdings ein Indikator für eine Richtung theologischen Denkens im Judentum, und zwar eine Richtung, die im Land Israel vorherrscht, wo die Verbindung zwischen Holocaust und Staat, Vernichtung und Überleben so eng ist, dass solche theologischen Gedankengänge möglich sind. Theologische Bewegungen sind auch kontextabhängig. Und in solchem Grad, dass die Art von Überlegungen, die man in Israel anstellt, allzu häufig, jedenfalls für meinen theologischen Geschmack, und zu schnell einen Sprung in den Bereich der Rechtfertigung macht, indem man sich auf die Geschichte beruft.

Eine andere Art, mit dem Holocaust umzugehen, besteht nicht darin, die Frage nach Gott zu beantworten, sondern Sinn zu suchen. Das ist die stärker säkulare Haltung. Viele Juden sind nicht religiös, viele von ihnen sind säkularisiert. Ihr grundsätzlicher Weg, mit dem Holocaust umzugehen, sieht ihn nicht in Beziehung zu Gott, zur Sünde oder zur Geschichte, sondern in Beziehung zur Menschheit. „Wir müssen folgende Lehre ziehen: nie wieder darf es menschliches Leiden geben. Wir müssen lernen, gut zu einander zu sein, wir müssen lernen, mitfühlend zu sein, wir dürfen uns nie abwenden vom Leid der anderen“, und weitere Erkenntnisse, die Menschen aus dem Holocaust gewonnen haben.

Dies sind offensichtlich gültige Erkenntnisse. Aber sie scheinen doch keine weiteren Völkermorde seit dem Holocaust verhindert zu haben. Aus dieser Perspektive ist es nicht wahr, dass die Welt viel aus dem Holocaust gelernt hat, wenn man einige der Geschehnisse bedenkt, die in den vergangenen sechzig Jahren bekannt wurden.

Was ich in diesen Strategien als Mangel empfinde, ist, dass sie den Holocaust alle irgendwie in den Bereich unseres Verstehens bringen und so gewissermaßen das Absurde domestizieren. Sie versuchen, etwas einen Sinn zu geben, das wir überhaupt nicht fassen können.

Nun könnte man sagen, dass es sich so mit der gesamten Theologie verhält. Sie sind alle Theologen, und wir alle versuchen beständig, das große Mysterium Gottes zu ergreifen und in eine Schublade zu stecken. So fassen wir beständig etwas, was jenseits aller Worte ist, in Wörter, in Kategorien, was jenseits aller Kategorien ist, was jenseits einer Übersetzung ist, in unseren menschlichen Verstand. Immer stülpen wir unseren menschlichen Verstand auf etwas auf, was doch weit darüber hinausgeht. Vielleicht sind wir als Theologen seit tausend Jahren daran gewöhnt, dies zu tun; wir empfinden es nicht mehr als Ärgernis, wie wir von Gott sprechen und wie wir auch Gott in eine Schublade stecken. Aber irgendwie, wenn wir mit der Realität der Schoah konfrontiert sind – vielleicht weil wir in so großer historischer Nähe leben, oder weil wir dem Bösen gegenüberstehen -, wird es doch schwerer, eine Antwort zu geben. Das war ein chirurgischer Eingriff, das war eine Strafe – das können wir verstehen, und jetzt lasst uns eine Folgerung ziehen.

Es gibt einen Punkt, an dem all diese Antworten etwas in unserem moralischen Empfinden verletzen. Vielleicht sollte ich nicht im Plural sprechen. Ich will für mich sprechen. Wenn ich über diese Themen nachdenke, dann scheint mir, dass immer etwas Unangemessenes und Problematisches darin liegt, wenn wir versuchen, eine Lehre zu ziehen oder eine Erklärung anzubieten für etwas, was sich der Erklärung entzieht. Ich wäre sehr gespannt, die Antworten professioneller Theologen zu hören, ob Sie genauso darüber denken.

Meine gegenwärtigen Bemühungen möchte ich daher nicht als Erklärung oder Rechtfertigung, nicht einmal als eine neue Theologie charakterisieren, sondern in den Kategorien einer möglichen religiösen Stellungnahme, die sich auf die Frage nach Gott in Auschwitz konzentriert.

Die religiöse Sprache der Mystik

Wie könnte eine religiöse Reaktion angesichts des Leidens lauten?

Dies ist die Vorgehensweise, die ich vorschlage: Es ist der Versuch, Auschwitz nicht in Beziehung auf die Sünde, nicht in Beziehung auf die Geschichte, nicht in Beziehung auf die Menschheit, sondern in Beziehung auf Gott zu betrachten. Wie können wir darum ringen, eine religiöse Position zu formulieren, die nicht die Ungerechtigkeit begeht, diese Wirklichkeit in unseren eigenen Schubladenmechanismus zu packen, mit dem wir Antworten finden, domestizieren und letzten Endes ent-katastrophisieren. Ich möchte weder erklären noch rechtfertigen. Was ich tun möchte, ist, eine andere Art von theologischer Sprache zu suchen.

 Und in dem Zusammenhang: das Folgende betrachtet den Holocaust nicht als einmalig.

Indem ich nach einer religiösen Sprache suche, habe ich mich damit nun in die Sphäre der Mystik vorgewagt. Wenn ich von „Mystik“ spreche, meine ich damit nicht etwas Irrationales. Vielmehr möchte ich zum Ausdruck bringen, dass es einen religiösen Denkansatz gibt, der uns über das Rationale hinausführt, wenn wir ihn denn verantwortungsvoll gehen, indem wir berücksichtigen, was unter dem Blickwinkel der Rechenschaft für das, was man als Flucht in das Mystische bezeichnen könnte, getan werden muss.

Wenn ich so von dem Mystischen spreche, setze ich voraus, dass wir in unseren Traditionen rationale Dimensionen haben, mit deren Hilfe wir analysieren, denken und verstehen. Wir haben auch jene Dimensionen, die uns geradewegs in das Zentrum der religiösen Erfahrung führen. Sie sind nicht notwendig jedermann verfügbar; denn man muss sie berühren, erleben.

Der Vatikan hat kürzlich einige Dokumente über Padre Pios Stigmata und Visionen veröffentlicht. Ich las sie und dachte: Padre Pio sprach von seiner Vision, in der Jesus zu ihm sagt „Die Undankbarkeit der Priester, wie wenig dankbar sind sie für ihre Berufung, und wie sehr schmerzt dies Jesus“. Nun, hier ist der Mystiker mit einer ganz einmaligen Vision in Gottes Gegenwart; diese Dimension ist nicht allen zugänglich. Sie ist einfach nicht offen für alle und mag sogar in einer Spannung zum Rest der Gemeinde stehen. Dennoch, sie setzt sich nicht über die Rationalität hinweg, und sie widerspricht auch nicht dem Kern ihrer Lehren.

Was ich zu tun versuche, ist vielleicht ein wenig problematisch, weil es sich stark auf die Vision und die Erfahrungen des Einzelnen stützt, die in Augenblicken mystischer Innigkeit gewonnen werden und die nicht ohne weiteres allen verfügbar sind. Gleichwohl, es ist eine Einladung zur Reflexion, die Eröffnung einer neuen Erfahrungswelt und eine Erweiterung unseres Nachdenkens über Inhalte, die so schmerzlich und komplex sind wie unsere vorliegende Aufgabe.

Meine Bemühung gründet in der Begegnung mit einem jüdischen Mystiker, der diese Zeiten durchlebte, und mit seiner Reaktion darauf. Diese Art des Antwortgebens mag allen Menschen zugänglich sein oder auch nicht. Ich glaube, das ist die größte Herausforderung, die ich mit Ihnen teilen möchte. Wie reagieren andere Menschen, die diese Erfahrung nicht gemacht haben – die Priester, die nicht Padre Pio sind, die Juden, die nicht Rabbi Shapiro sind? Welche Bedeutung hat für sie die Art mystischer Nähe zu Gott, die wir nun bedenken werden? Letzten Endes halte ich persönlich eine Art des religiösen Antwortgebens, welche darauf gründet, mit Gott im Augenblick und in der Situation gegenwärtig zu sein, für bedeutungsvoller als so viele andere Versuche, die letztlich „reduktionistisch“ sind, indem sie Gott und die gewaltigen Ereignisse auf unser Verstehen reduzieren.

Das Mystische hat verschiedene Komponenten.

Das Schweigen hat eine mystische Dimension. Ich habe einen Text veröffentlicht, der auf einer Diskussion beruht, die ich mit Kardinal Lustiger vor vierzehn Jahren während einer Konferenz führte und in der es um die Frage des mystischen Schweigens gerade als eine Antwort auf den Holocaust ging.3

Doch die Bedeutung der Mystik, von der ich heute spreche, meint Mystik als ein Leben in Gottes Gegenwart in enger Vertrautheit.

Die mystische Vorstellung, die ich mit Ihnen teilen möchte, ist der Gedanke, teilzuhaben an Gottes Leiden. Ich möchte die These vorlegen, dass eine religiöse Antwort auf den Holocaust die Form nicht der Rechtfertigung annehmen wird, sondern der Erfahrung, teilzuhaben an Gottes ureigenem Leiden.

Rabbi Kalonymus Kalman Shapiro

Und um dies zu tun, möchte ich auf das Werk eines Menschen blicken, der in einer kleinen Stadt etwas außerhalb von Warschau lebte, in einem Ort namens Piaseczno. Dieser Mann war Rabbi Kalonymus Kalman Shapiro. In jüdischen Kreisen ist er üblicherweise unter dem Namen seines Buches bekannt als Esh Kodesh, Heiliges Feuer. Er hatte eine große Gefolgschaft, vor allem unter jungen Leuten. 1943 wurde er ermordet. Der Ort seines Todes ist nicht unumstritten, aber er schien wohl in der Gegend von Lublin gelegen zu haben, wo es ein Zwangsarbeitslager gab. Offenbar wurde er dort erschossen.

Seine Lehren wurden im Warschauer Ghetto formuliert, was bedeutet, dass er Auschwitz nicht kannte; er kannte nicht das volle Ausmaß dessen, was geschah. Aber die Ungeheuerlichkeit der Vernichtung überfiel ihn, während das Werk entstand. Das Buch ist zyklisch angelegt, Jahr auf Jahr. Er schreibt sogar Bemerkungen an den Rand: „Was ich dort sagte, hatte nur im vergangenen Jahr Gültigkeit; seither haben die Dinge Ausmaße von in der jüdischen Geschichte einmaliger Größe erreicht. Nie zuvor ist so etwas geschehen“.

Es ist interessant, dass sich im ganzen Buch nie ein Versuch findet, eine neue Theologie zu schaffen oder eine neue religiöse Sprache zu finden, sogar wenn er an die Tiefen des Leidens rührt, sogar wenn er festhält, dass dieses Leiden einen Grad erreicht hat wie nie zuvor.. Dennoch glaubt er, dass er sich an die alte Theologie wenden kann. Die zunehmende Tiefe seines Antwortgebens ist viel stärker verbunden mit der immer tiefer gehenden leidenschaftlichen Antwort auf das Leiden Gottes als mit der Notwendigkeit, eine neue Theologie zu formulieren.

In der verbleibenden Zeit möchte ich die mystische Antwort des Mit-Leidens mit Gott beleuchten, wobei ich festhalte, dass dies nur möglich ist, wenn wir auch dem rationalen Verstehen, wie das Böse ertragen werden kann und wie Gott das Böse dulden kann, Raum geben. Bevor ich daher einige Texte zusammen mit Ihnen lese, möchte ich einige theologische Gedanken vorbringen, die uns erlauben, hinauszugehen über den Prozess des Rechtfertigens und in den Bereich des Erlebens vorzudringen.

Mir ist sehr bewusst, dass wir, wenn wir einfach den Sprung vom Historischen und Theologischen zum Mystischen wagen, uns dem Vorwurf der Verantwortungslosigkeit aussetzen. Um diesen Schritt zu tun, muss man auch eine gewisse Art theologischen Verstehens dafür anbieten, warum gewisse Dinge geschehen dürfen. Hat man einmal solche Parameter etabliert, kann man den tieferen Übergang zum Erleben machen.

Ich möchte drei oder vier Gedanken von Rabbi Shapiro und aus der Literatur zu dem Thema aufgreifen; dann wenden wir uns der Lektüre des Textes zu.

Die erste Idee, die wir anerkennen müssen, ist die göttliche Achtung vor dem freien Willen. Achtung vor dem freien Willen bedeutet, dass Gott dem Bösen die Möglichkeit gibt, sein grausames Spiel zu treiben. Er wird nicht notwendigerweise eingreifen, wo es Böses gibt; denn wenn Er eingriffe, würde dies die grundlegende Norm untergraben, die Gott setzte, als Er die menschliche Ordnung schuf: den freien Willen.

Natürlich ist dies die entscheidende Schwierigkeit. Warum schreitet Gott nicht ein? Wie schreitet Gott ein? Wann schreitet Gott ein? All dies gründet auf dem Prinzip, und ich denke, es ist philosophisch sehr vertretbar, dass der freie Wille solch ein elementares Prinzip der Weltgestaltung ist, dass Gott um seinetwillen sogar das Böse aushält.

Ein zweiter Gedanke, den man im Zusammenhang mit dem Holocaust gedacht hat und auf den sich Rabbi Shapiro in seinem Esh Kodesh auch bezieht, ist die Vorstellung, die im Hebräischen als hester panim wieder gegeben wird – ein Verbergen des Angesichts, des Antlitzes.

Martin Buber übersetzt dies als Gottesfinsternis, so als sei Gott die Sonne, und etwas träte zwischen uns und Gott und verdunkelte das Licht. Das ist kein philosophisches Konzept. Es ist ein biblischer Gedanke, der große bewegende, sinnträchtige Kraft hat.

Die Vorstellung ist die, dass es im Zusammenhang mit der Freiheit des menschlichen Willens eine göttliche Selbstbeschränkung gibt. Es kann die Selbstbeschränkung Gottes sein, Seine Macht nicht mit voller Kraft auszuüben, oder man kann es als die Selbstbeschränkung Gottes verstehen, Sein Gesicht abzuwenden, weil Er die Qual nicht ertragen kann. Er kann auch Sein Gesicht als Ausdruck des Zorns abwenden. Oder Er kann Sein Gesicht abwenden und so bestimmte Dinge geschehen lassen.

Es gibt verschiedene mögliche Verstehensweisen. Aber ich glaube, dass das Bild, Gott verberge Sein Antlitz, in dieses Gedankengebäude hineinpasst, obwohl es für sich viel weiteres Nachdenken erfordert.

Der Esh Kodesh verwendet weitere Denkansätze, um die allgemeinen Zustände, von denen er spricht, theologisch zu erklären.

Einer ist Dinim, das hebräische Wort für Gericht. Das bedeutet, eine richterliche Entscheidung wird gefällt. „Gericht“ führt uns in den Bereich von Sünde und Strafe. Aber Dinim weckt auch die kabbalistische Assoziation von Begrenzung, Einengung, Blockierung in der Göttlichen Strömung; irgendetwas im inneren metaphysischen Ablauf wird behindert. Gericht, Einengung, Behinderung bilden ein konzeptionelles Cluster, das sowohl das Element der Bestrafung in sich trägt als auch die Vorstellung, dass etwas blockiert ist. Diese Störung betrifft Gott, und daher sind wir, aufgrund unserer Taten, einbezogen in den inneren Ablauf des Göttlichen Strömens und dessen Behinderung. Unsere Handlungen vermögen ihn zu beeinflussen, und wir wiederum leiden als Folge des Dinim, der Beschränkungen, die Gott auferlegt werden, im Besonderen durch unsere Sünden.

Eine andere Vorstellung, die verschiedene Menschen haben, auch der kabbalistischen Literatur entnommen, veranschaulicht das Bild des tzimzum – göttliche Selbstkontraktion. In der Beschränkung Gottes durch den freien Willen ist der Gedanke des tzimzum schon impliziert. Dass Gott Seine Macht nicht völlig ausübt, weil der freie Wille so große Bedeutung hat, ist eine Form der göttlichen Kontraktion. Verschiedene Theologen, im besonderen Arthur Cohen, haben die Vorstellung des tzimzum als Erklärungshilfe für das Leiden im Kontext des Holocaust eingebracht.

Ich fasse zusammen, was ich bisher ausgeführt habe: Ich habe eine Auswahl von jüdischen Antworten beleuchtet, ich habe die Komplexität der theologischen Herausforderung aufgezeigt, eine Komplexität, die zum Teil in Beziehung steht zu der Komplexität der Beurteilung eines historischen Phänomens. Sie berührt die Fragen nach Einmaligkeit oder Nicht-Einmaligkeit, und sie stellt uns vor die Herausforderung, ob wir fortfahren können, alte Modelle aufrecht zu erhalten oder ob wir neue Modelle brauchen. Ich habe die Auffassung vertreten, dass bei der Beschäftigung mit dem Holocaust der Versuch zu erklären sehr problematisch ist, weil jede Weise der Erklärung eine Weise der Rechtfertigung wird, ob nun die Erklärung einen Bezug zu Sünde und Strafe herstellt oder zur Geschichte. Erklärungen helfen nicht wirklich, und daher sollten wir Ausschau halten nach einer religiösen Antwort, die nicht das Absurde domestiziert. Diese religiöse Antwort, so habe ich vorgeschlagen, kann im Bereich der Mystik gefunden werden.

Ich werde gleich mit Ihnen Texte von Rabbi Shapiro aus Warschau lesen, die seine mystische Antwort zeigen. Dennoch, die mystische Antwort tiefer Empathie und Teilnahme am Leiden Gottes kann nicht losgelöst werden von einem theoretischen Verstehen.

Es gibt einige Schlüsselgedanken, die wir im Sinn behalten wollen, bevor wir in das Reich der Mystik eintreten: den Gedanken des freien Willen, des Verbergens des Göttlichen Antlitzes und verschiedene Aspekte der kabbalistischen Tradition, die uns gestatten, von der Kontrahierung Gottes zu sprechen als einer Weise, Sinn zu sehen in dem, was geschieht.

Mit diesen Gedanken im Hintergrund haben wir gewissermaßen die Erlaubnis, in die stärker spirituelle, religiöse Antwort einzutreten.

Text 1: Esh Kodesh, Va Yishlach Genesis 32, 4–36, 43

14. Dezember 1940

Wir lernen im Midrash [Exodus Rabbah 2, 12] über die Verse, die die Begegnung zwischen Moses und Gott am Brennenden Dornbusch beschreiben. Der Midrash sagt folgendes: „Als Gott sah, dass Moses nachforschen wollte, rief Er ihn von innerhalb des Busches an, ‘Moses Moses!’ sagte Er“ [Exodus3, 4]. Der Name wird zweimal gerufen: Moses Moses. Der Midrash hält fest: „In dem entscheidenden Augenblick in der Akeidah [das Fesseln Isaaks], wenn wir Gott Abraham rufen hören, finden wir die Worte „Abraham, Abraham!“ [Genesis 22, 11]. In der Kantillation (Teamim) steht ein Komma zwischen den zwei Wörtern. Als jedoch Gott Moses ruft, so ist dort kein Komma: „Moses Moses“.

Warum ist das so, fragt der Midrash und antwortet: „Die Antwort kann in dem Beispiel eines Mannes gefunden werden, der unter einem unerträglichen Gewicht strauchelt. Er ruft, wer auch immer am nächsten ist: „He du, komm schnell und hilf mir, diese Last abzuwerfen!“ Gott ruft dringend: „Moses Moses!“ zweimal, schnell hintereinander ohne Satzzeichen zwischen den Wörtern, denn auf Gott lastet sozusagen eine unerträgliche Bürde. Er ruft Moses, der Ihm am nächsten ist, Ihm zu helfen, von dieser Last frei zu werden“.

Dieser Midrash dient als Ausgangspunkt für die Homilie. Was nun der Piaseczner tut, ist diesen Midrash zu nehmen und ihn mit großer existenzieller Bedeutung zu versehen, die er in seinem eigenen Kontext und seiner Situation findet. Der entscheidende Vers, den wir immer wieder sehen werden, ist der Vers aus Psalm 91, 15. Das Hebräische sagt: i’mo a-noki be ‘tza-ra, „In allen Nöten bin ich ihm nahe“. Wenn man sagt: „In allen Nöten bin ich nahe“ bedeutet dies in dem biblischen Vers, „Du, (der) Mensch, ruft Gott, und Gott ist da, um zu helfen; Gott ist in den Himmeln, gleichzeitig ist er bei dem Menschen, ihm zu helfen“. Die Rabbiner lesen es so: „In allen Nöten bin Ich ihm nahe, das bedeutet: wenn er leidet, leide Ich“. In allen Nöten bin Ich ihm nahe, nicht nur ihn zu retten, sondern Ich leide mit ihm. Das ist bereits ein Schritt, den die Rabbiner in den ersten Jahrhunderten taten, 1800 Jahre vor der Konzipierung unseres Textes. Aber diese Erkenntnis, dass Gott mit uns leidet, ist der Schlüssel zu Rabbi Shapiros vollständiger religiöser Antwort.

Hier liegt der Unterschied: Auf der einen Ebene bedeutet der Vers, „In allen Nöten bin ich ihm nahe“, dies: Wenn Juden leiden – der Herr bewahre –, dann gibt es einen Moment, in dem Gott die Not mit uns trägt.

Nicht: Ich bin mit ihm, ihn zu erretten, sondern Ich bin da, mit ihm zu leiden. Das war der Schritt, den die Rabbiner taten. Nun wird uns Rabbi Shapiro auf eine andere Ebene führen – nicht zu helfen, nicht mitzuleiden, sondern die Relationen – wer leidet und wer ist wem nahe – umzukehren. Er sagt als Einleitung:

Eine andere Ebene jedoch ist gegeben, wenn das Elend der Juden so groß ist, dass sie nicht die Kraft haben, es zu ertragen. Dann wird die Kraft zu widerstehen, auszuharren und auszuhalten, am Leben zu bleiben inmitten so schrecklicher Qualen und unbarmherziger Bedrängnis einzig und allein von dem Heiligen, dem Segensreichen gewährt. In dieser Situation ruht die Hauptlast der Bürde gewissermaßen auf Gott. Es ist nicht menschliche jüdische Kraft, die solche Todesqual erträgt und ihr widersteht, sondern die Kraft Gottes, die Er den Juden gibt. Es ist bei weitem die größere Bürde des Leidens, die von Gott selbst getragen wird. Und so fleht Gott das jüdische Volk an, wie Er damals Moses anflehte, „Bitte, befreit mich von dieser unerträglichen Last“.

Was also bedeutet dies „In allen Nöten bin ich ihm nahe“? Nicht mehr: ‘Ich bin da zu helfen’ oder ‘Ich leide mit ihm’, sondern ‘Ich bin Der, welcher leidet’. Nun ist alles umgekehrt. Ihr Juden seid mit Mir in Meinem Leiden, nicht: Ich bin mit euch in eurem Leiden. So hat Rabbi Shapiro den biblischen Vers „In allen Nöten bin ich ihm nahe“ genommen und er hat ihn erweitert bis dahin, dass göttliches Leiden so tief ist, dass Gott uns um Hilfe bittet, seine Last mitzutragen, seinen Schmerz zu teilen.

Der Piaseczner fragt: „Wie könnten wir inmitten solch furchtbarer Angst und Pein denn Gott helfen, Ihn von seiner unerträglichen Last zu befreien?“ Stellen Sie sich doch vor, was es für jemanden bedeutet, nicht mehr zu fragen: „Gott, wie kannst Du mir helfen?“, sondern „Gott, wie kann ich Dir helfen?“ Stellen Sie sich vor, das Bewusstsein zu verändern, von der Sorge um uns selbst – Gott bewahre uns – zu dem Denken: O Gott, Du leidest so furchtbar, was können wir für Dich tun? Bedenken Sie doch, was es heißt für jemanden, dessen Sohn ermordet wurde, der vier oder fünf Familienmitglieder verloren hat, zuerst in der Bombardierung, dann im Warschauer Ghetto, umgeben von Menschen in den furchtbarsten Situationen, dass er seinen Geist unter solchen Bedingungen erheben kann. Er sitzt nicht in der Bequemlichkeit dieser Räumlichkeiten hier und betreibt Theologie, er ist im Warschauer Ghetto. Er fragt nicht, wie wird Gott mich retten, sondern: wie kann ich Gott helfen, Seine Last zu tragen. Welche Stärke des Geistes verlangt es von jemandem, so vollständig seine Sicht umzuwandeln, seine Perspektive so vollständig zu verwandeln – deine ganze Familie ist tot, Menschen stehen täglich an deiner Türschwelle, das Leiden steigt an und türmt sich auf vor deiner Tür -; du wendest dich Gott zu und sagst: „Gott, Du leidest so schwer, was kann ich für Dich tun?“

Und er sagt das nicht zu sich selbst. Dies wird zu der Gemeinschaft gesagt, und das bedeutet, dass die Frage, die ich früher mit dem Hinweis auf Padre Pio und Priester gestellt habe – was kann nur von den Mystikern gesagt werden und was zu der großen Gemeinschaft -, fast durch den Kontext beantwortet wird. Er greift diese Frage, wie geholfen werden könnte, Gottes Bürde zu erleichtern, auf und teilt sie an einem Sabbat Nachmittag mit seiner ganzen Gemeinde. Offenbar werden nicht alle imstande sein zu folgen. Die Tatsache, dass er einen Gedanken, der aus seinem eigenen mystischen Erfahren erwächst, seiner Gemeinde vorstellt als einen Weg, ihrer Erfahrung eine Neuorientierung zu geben, so dass es nicht Gott ist, der ihnen hilft, sondern sie, die Gott helfen, verlangt nach einer überaus großen Kraft des Geistes: „Wie könnten wir inmitten solch furchtbarer Angst und Pein denn Gott helfen, Ihn von seiner unerträglichen Last zu befreien? Wir können es tun durch Buße, durch Gebet, durch Nächstenliebe und durch das Mitgefühl, das wir einander zeigen“.

Pfarrer Manfred Deselaers gab zu einem früheren Zeitpunkt auf die Frage: „Wo war Gott in Auschwitz?“ die Antwort: „Gott war in dem Mitleiden, das Menschen einander zeigten“. Das ist wirklich dieselbe Lehre, die Rabbi Shapiro gibt. Das Mitgefühl, das wir einander zeigen, lindert Gottes Leiden. Unser Gebet, unsere Taten der Nächstenliebe, sowohl wie wir zu Gott stehen, aber auch wie wir zueinander stehen, all das hat eine Wirkung auf die übernatürliche Welt, auf die höhere Welt.

Als das Leiden nicht in sich so unerträglich und Er, Gott, nur auf der ersten Ebene jenes „In allen Nöten bin ich ihm nahe…“ war, damals hätten wir uns möglicherweise fragen können, ob wir der Rettung und Erlösung würdig wären. Aber in den gegenwärtigen Umständen, sagt er 1940 in Warschau, ist die Not so groß – der Barmherzige stehe uns bei -, dass eine Stufe erreicht worden ist, auf der all die Last des Elends gewissermaßen wirklich auf Gott selbst liegt. Es ist so qualvoll, wir können es nicht mehr ertragen. Es ist so schmerzlich, nur Gott kann es tragen. Jetzt muss im Himmel oben große Eile bei Gnade und Errettung herrschen, denn Er, Gott, ist unschuldig, und warum sollte Gott, unser Vater, unser König – Gott bewahre! – so viel Schmerz leiden müssen?

So ist alles umgestaltet worden, und sogar das Flehen um Erlösung wurde zu einem Flehen um die Erlösung Gottes. Lass Erlösung geschehen, denn Gott hat nichts getan, dass Er dies verdiente. Um Gottes willen muss dies enden. Lasst uns alles tun, was wir können, um dies zu beenden. Um Gottes willen, lasst uns mitfühlend für einander sein, lasst uns Nächstenliebe zeigen, lasst uns Buße tun, lasst uns Gott nahe sein, lasst uns alles Menschenmögliche tun, um diese große Bürde zu lindern, die auf den Himmeln lastet.

Das ist der erste Abschnitt, der den Gedanken einführt, Teil zu nehmen am göttlichen Leiden als einen Weg, unsere Vision umzuwandeln, und ich denke, dass er aus Rabbi Shapiros eigenem mystischen Erfahren erwächst. Rabbi Shapiro ist wirklich einer der seiner selbst bewusstesten Mystiker in der Geschichte jüdischen Denkens. Ich bin einer seiner großen Bewunderer. Die meisten Menschen bewundern ihn wegen seines Buches Esh Kodesh, geschaffen zwischen 1940 und 1942. Ich begann, ihn durch seine früheren Werke zu schätzen, in denen er die Kraft seiner eigenen, persönlichen mystischen Erfahrung in ein Erziehungsprogramm verwandelt. Dieses ist mit solch  erfekter Klarheit formuliert, dass es ihn zu einer der gewinnendsten und zugänglichsten Gestalten in der Geschichte der jüdischen Mystik gemacht hat. Rabbi Shapiro, schon vor dem Krieg zum Mystiker gereift, sammelte seine spirituellen Kräfte und wendete sie auf unseren besonderen Zusammenhang an. Der Schlüssel ist die Umwandlung des Bewusstseins vom Ich weg zu Gott.

In Treue zu seinem Wesen als Mystiker – und in der Tat ist dies beinahe ein Schlüssel zum Verständnis aller großen jüdischen Mystiker – finden wir in seinen Schriften eine starke Sehnsucht nach der Wiederkehr der Prophetie. Über Prophetie zu nachzudenken ist ja einer der Wesenszüge der jüdischen Mystik. Christen kennen noch Propheten, das heißt, sie bezeichnen noch große Gestalten, wie Martin Luther King, als Propheten. Wir haben keine Propheten mehr. Das liegt natürlich zum Teil daran, dass wir den Begriff „Prophetie“ anders verwenden. Äußerst selten, ein paar Mal in 2000 Jahren, würden Juden sagen, der und der ist ein Prophet. Das kam durch das Christentum zurück. Manche Menschen sagen von Heschel „Er war ein Prophet“. Aber wir würden den Begriff mit Bezug auf solche Gestalten wie Heschel oder King nicht im engeren Sinn verwenden, denn unser Grundverständnis ist, dass die Prophetie erloschen ist. Gleichwohl, wir befinden uns in einem Prozess, die Prophetie spirituell wiederzugewinnen, indem wir Prophetie wieder erstreben, und zwar Prophetie nicht als soziale Utopie und Botschaft für die Menschheit verstanden, sondern als tiefe Vereinigung mit Gott und als mystische Erfahrung. Man bewegt sich in die Prophetie durch das mystische Leben. In der mystischen Literatur finden Sie Hinweise auf Prophetie, die Sie in keiner anderen Literatur finden. Bereits in seinen Vorkriegsschriften bespricht Rabbi Shapiro Prophetie sehr ausführlich. Man kann sehen, dass er sich bemüht, einen spirituellen Zustand der Prophetie zu erreichen. Das ist Teil des Kontextes des folgenden Abschnittes:

Text 2: Esh Kodesh, Mattot, Numeri 30, 2–32, 42; 22.

September 1941

Es ist unmöglich, Prophetie zu vollbringen in einem Zustand der Depression. Der Talmud [Shabbath 30b] sagt: „Die Göttliche Gegenwart kann sich auf eine Person nur durch simcha [Freude] stützen und ähnliches gilt für Dinge der Halachah [Gesetz].

Man kann nur auf der Grundlage von Freude zu einem rechten Entscheid des Gesetzes kommen, nicht durch Traurigkeit.

Das berührt auch die Fähigkeit eines Menschen, eine homiletische Lehre aus einer schmerzlichen Erfahrung zu ziehen, denn sogar das ist unmöglich, wenn die Person untröstlich und völlig niedergeschlagen ist. Es gibt sogar Zeiten, in denen ein Mensch, wegen der Unermesslichkeit des Zusammenbruchs und Niedergangs – möge der Barmherzige uns schützen -, sich unmöglich zwingen kann, irgendetwas zu sagen oder Ereignisse zu deuten.

Man vergegenwärtige sich diese Situation. Alles bricht zusammen. Menschen sterben, Menschen sind elend, Menschen hungern. Sie kommen zum Rabbi, und sie verlangen Deutung. Wir sind wieder bei der Frage, ob wir eine Deutung anbieten können oder nicht. Er sagt: „Ich bin auch verzweifelt. Woher nehme ich die Kraft zu erklären, woher nehme ich die Kraft zu deuten?“ Man kann keinen Sinn erkennen und anbieten, wenn man zerschlagen ist. Um Sinn zu bieten, braucht man Kraft. Wenn man diese Kraft nicht hat, woher verschafft man sich Sinn? Hören wir hinein in diese Situation: Sie sind leidgeprüft. Sie haben Ihre Familie verloren, Sie haben jeden verloren. Sie können keine Lehre darin erkennen. Das bringt mich zurück zu meiner Einleitung über die Schwierigkeit, Lehren zu ziehen und Sinn zu vermitteln.

Womit kann er sich selbst stärken, zumindest ein wenig, solange die Rettung nicht erschienen ist? Und wodurch kann der Geist erhoben werden, und sei es auch das kleinste Bisschen, wenn er danieder liegt und so gebrochen ist?Gewaltige Fragen erwachsen aus dieser Situation. Wie lautet die Antwort?

Als erstes durch Gebet und das Vertrauen, dass Gott, der Barmherzige Vater, niemals Seine Kinder vollständig verwerfen würde. Es kann nicht möglich sein, Gott bewahre, dass Er uns in Todesgefahr fallen ließe, der wir jetzt um Seines Heiligen Namens willen ausgesetzt sind. Gewiss, Er wird sofort Gnade erweisen und uns noch in diesem Augenblick erretten – aber woher nehmen wir Kraft angesichts jener, der Heiligen, die schon – Gott schütze uns – ermordet wurden: Familienmitglieder, unsere Lieben und andere, nicht mit uns verwandte Juden, von denen viele uns anrühren wie unsere eigene Seele? Und wie werden wir uns Mut machen, zumindest irgendwie, angesichts der furchterregenden Nachrichten, alte und neue, die wir hören, die unser Mark erschüttern und unsere Herzen brechen? Durch den Gedanken, dass wir nicht allein sind in unserem Leid; Gott, gesegnet sei Er, der es gleichsam mit uns trägt, wie geschrieben steht [Psalm 91, 15]: „In allen Nöten bin ich ihm nahe“.

Es gibt also keine Fähigkeit, eine Lehre zu ziehen, es gibt keine Möglichkeit, Sinn zu finden. Wie lautet die religiöse Antwort? Das ist die Erkenntnis, dass wir nicht allein sind in unserem Leiden. Man sieht, dass der Gedanke des Mitleidens mit Gott als Weg dient, Gott gegenwärtig zu sein, sogar inmitten dieser Not.

Und nicht nur mit diesem Gedanken, sondern noch mit einer anderen, zusätzlichen Reflexion: Es gibt Leiden, das wir individuell wegen unserer Sünden tragen, oder Liebesschmerz, der uns weich stimmt und reinigt. In all diesem leidet Gott einfach mit uns. Aber dann gibt es ein Leiden, in dem wir, sozusagen, mit Ihm leiden – leiden um der Heiligung Seines Namens willen.

Die Umkehrung bedeutet nicht nur, dass wir mit Ihm leiden, sondern dass wir für Ihn leiden. Unser Leiden wird als eine Form des Martyriums für Gottes Namen angenommen.

Sie sehen, dass dieser Text wiederum den Gedanken des Mitleidens mit Gott darlegt. Sie sehen ihn kontextualisiert, Sie sehen die Spannung zwischen dem Versuch, berechtigten Sinn zu finden und dem Versuch, was nicht legitimer Sinn wäre, und Sie sehen den neuen Gedanken der Heiligung des Namens Gottes als eine weitere Nuance in dem Bemühen, in all dem einen Sinn zu entdecken.

Text 3: Esh Kodesh, Paraszat ha-Chodesh Exodus 12, 1–20;

September 1941

Wir fahren fort mit dem Bezug zur Prophetie. Um eine Prophezeiung zu empfangen, muss ein Mensch im Zustand der Freude sein.

Man könnte fragen: Wie konnte Moses eine prophetische Offenbarung empfangen, wenn ein Mensch im Zustand der Freude sein muss, um eine Prophezeiung zu empfangen? Neben der Tatsache, dass der Pharao versuchte, ihn zu töten, war Moses in quälender Angst wegen des jüdischen Volkes. Moses hatte solches Mitgefühl mit dem Leid der Juden, dass er später zu Gott sagte: „Bitte, verzeih ihre Sünde. Wenn nicht, dann lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast“ (Exodus 32, 32). Das genau ist der Grund, weshalb Gott Moses zum ersten Mal im Brennenden Dornbusch erschien. Rashi (Exodus 3, 2), unser großer Kommentator, erklärt die Wahl des Dornbusches, indem er den Vers zitiert „In allen Nöten bin ich ihm nahe“.

Gott kommt also hernieder in den Dornbusch als Ausdruck des Leidens, und Er kommt zu dem Busch, weil Moses mit dem jüdischen Volk leidet. Moses ist vollständig von Leid umhüllt, wie also kann Moses eine Prophezeiung empfangen?

Nun folgt das Neue. Der Talmud (Hagigah 5b) stellt die folgenden zwei Verse einander gegenüber: Ein Vers lautet: „Am Orte seines Weilens Kraft und Freude“ (1 Chronik 16, 27). Gottes Wohnsitz, an dem Er weilt, ist erfüllt von Kraft und Freude. Folglich bedeutet bei Gott zu sein einen Zustand der Freude. Andererseits steht geschrieben: „Meine Seele weint im Verborgenen“ (Jeremia 13, 17). Der Talmud stellt folgende Frage: Wie kann man sagen, dass Gott im Verborgenen weint, wenn es heißt, dass vor Gott nur Freude herrscht, mit anderen Worten, was ist Gottes Zustand des emotionalen Seins? Ist Gott voll Freude, oder weint Gott? Der Talmud antwortet: Es gibt äußere Gemächer, und es gibt innere Gemächer. Das äußere geistliche Verstehen von Gott berührt gewissermaßen diese externen Kammern. In diesem Verständnis ist Gott nur Freude. Daher kann man nicht ohne Freude zu Gott gelangen.

Aber wenn man tief, ganz tief zu Gott vordringt, zu den inneren Gemächern, entdeckt man, dass Gott auch leidet. Weil Gott sowohl Freude als auch Leiden kennt, wird dies die Grundlage zum Verständnis dafür sein, dass eine Prophezeiung sogar da erlangt werden kann, wo keine Freude ist. Dies ist der Schritt, den Rabbi Shapiro tun wird.

Solange Gott nur Kraft und Freude am Orte Seines Verweilens empfindet, solange Gott Freude ist, können Propheten auch nur weissagen, wenn auch sie im Zustand der Freude sind. Aber wenn Gott gleichsam zusammen ist mit den Juden in ihrem Leid und ihrer Not, dann kann Prophetie auch den Propheten erreichen, der gleichermaßen Schmerzen leidet wegen der Bedrängnis der Juden.

So wird man identisch mit Gott. Wenn Gott leidet, kann man sogar durch Leid Prophezeiung empfangen, denn man wird eins mit Gott, und so ist man eins mit Gottes Leiden.

Im Talmud, wie eben festgestellt, lesen wir einerseits, dass geschrieben steht „Meine Seele weint im Verborgenen“ (Jeremia 13, 17), und der Talmud fragt: „Gibt es ein Weinen im Antlitz des Heiligen, Gesegneten?“ Schließlich gibt es keinen Kummer vor Ihm, denn es heißt: „Am Ort Seines Weilens Kraft und Freude“ (1 Chronik 16,27). Der Talmud sagt: Das eine ist das innere Gemach, das andere das äußere. Lernt also, dass in den äußeren Gemächern des Himmels immer Freude herrscht; in den inneren Gemächern weint Gott in seiner Verzweiflung über das Elend der Juden.

Wir sprachen früher über die Gottesfinsternis, das Verbergen des Göttlichen Angesichts, hester panim, Gott wendet Sein Gesicht ab. Es ist möglich in der Zeit des hester panim, der Verborgenheit des Göttlichen Angesichts, dass Gott sich versteckt. Wohin hat Gott Sein Gesicht gewendet? Er hat es von den äußeren Gemächern ab und den inneren zugewendet. Er hat es abgewendet von der Freude, die in die Welt ausstrahlt, hin zu Seinem eigenen Leiden. Welche Schönheit und Empfindsamkeit liegen in dieser Deutung! Wir denken, dass, wenn Gott sein Gesicht abwendet, Er gar nichts fühlt. Er ist in einem Zustand der Teilnahmslosigkeit. Im Gegenteil, wenn Gott Sein Gesicht abwendet, so kehrt Er Sein Gesicht ab von den äußeren Gemächern der Freude hin zu den inneren Gemächern des Leidens. Gott wendet Sein Angesicht weg in einem Akt des tiefsten Leidens, damit niemand sehe, wie schmerzvoll Er weint. Gott empfindet auf die innigst mögliche Weise, gerade wenn Er Sein Antlitz abwendet. So mag in einer Zeit des hester panim, wenn Gott sich in den inneren Gemächern verbirgt, ein Jude auch eintreten und dort mit Gott allein sein, jeder Jude auf je eigene Weise.

Was für ein erstaunlicher Gedanke: Er nimmt seinen Midrash, der von Gott in Seinen inneren Gemächern spricht, und sagt: Wenn Gott in Seinen inneren Gemächern ist, so kann ich dort sein mit Gott. Gott geht nicht irgendwohin, um von mir zu entfliehen. Wenn Gott dorthin geht, so ist dies eine Einladung an mich, Ihm zu folgen. Und er ist sich dessen bewusst, dass nicht jeder dies in derselben Intensität erleben kann. Er weiß von den Mystikern, dass einige Menschen dorthin gelangen können, andere mögen dazu nicht imstande sein. Jeder mag solch einer Lehre nach seinen eigenen Fähigkeiten folgen, aber das Bemühen geht dahin, Gott in Seinen inneren Gemächern  zu begegnen, mit Gott zu weinen, mit Gott zu leiden. Dort, in den inneren Gemächern, werden Torah und Anbetung jedem Menschen offenbart, der eintritt. Staunenswert, eine neue Offenbarung. Du weißt nicht, wie du dienen sollst; du bist so gebrochen. Der Rat lautet: Geh dahin, wo Gott weint, und Er wird dich lehren, wie du Ihm jetzt dienen sollst.

Wir sprachen bereits darüber, wie die Mündliche Torah vornehmlich im Exil offenbart wurde. Rabbi Shapiro zählt die verschiedenen Offenbarungen von Torah auf, die in Zeiten des Leidens erfolgten. Und weiter sagt er:

Es gibt Zeiten, in denen ein Mensch sich Gedanken macht über sich selbst und denkt: „Ich bin verzweifelt, ich kann jeden Moment in Tränen ausbrechen, und tatsächlich breche ich immer wieder unter Tränen zusammen. Wie könnte ich denn Torah lernen? Was kann ich tun, um die Kraft zu finden, nicht nur Torah zu lernen, sondern neue Torah zu entdecken, neue Frömmigkeit?“ Dann gibt es Zeiten, in denen der Mensch sich an die Brust schlägt und sagt: „Ist es nicht nur mein hochmütiges Herz, das mir dazu bringt, so halsstarrig zu sein? Ist es nicht nur mein Herz, das es mir so schwer macht, die Torah zu lernen inmitten meines Elends, inmitten all des Elends der Juden, deren Leiden so furchtbar ist?“Er fragt sich also, ob es nicht sein eigener Fehler ist. Und dann antwortet er selbst:

„Aber ich bin so verzweifelt. Ich habe so viel geweint, mein ganzes Leben ist erfüllt von Kummer und Trostlosigkeit“. Er ist verloren in seiner introspektiven, selbst-analysierenden Verwirrung. Aber wie wir bereits weiter oben sagten, ist es der Heilige, Gesegnete, der in den inneren Gemächern weint, und wer auch immer sich ganz nah an Gott drängt durch die Torah, wird fähig, dort gemeinsam mit Gott zu weinen und auch fähig, die Torah mit Ihm zu lernen.

So wird dies ein Augenblick größter mystischer Intimität. Das Leid ist so groß, dass du nicht lernen kannst; du spürst, dass das Herz hart ist, aber du drängst dich immer näher an Gott heran, und was tust  du dann in den inneren Gemächern? Du lernst schließlich die Tora mit Gott unter diesen Bedingungen des Leidens.

Das ist der Unterschied. Die Pein und der Kummer, die jemand wegen seiner eigenen Situation leidet, allein, in der Vereinsamung, kann einen Menschen zerbrechen. Er kann sogar so tief fallen, dass er dadurch gelähmt ist. Aber die Tränen, die ein Mensch gemeinsam mit Gott vergießt, machen ihn stark. Er weint und gewinnt Kraft. Er ist am Ende seiner Kräfte und ist doch gestärkt zu lernen und anzubeten. Nur beim ersten oder zweiten Mal fällt es einem Menschen schwer, sich wieder aufzurichten – wegen des Leids. Wenn er mutig ist, wenn er sich mit seinem Kopf und ganzen Wesen ausstreckt, um die Torah zu berühren und anzubeten, erlangt er Zugang zu jenen inneren Gemächern, in denen Gott weilt. Dort klagt er mit Gott, gleichsam allein mit Ihm. Dann kann er sogar inmitten tiefsten Schmerzes die Torah lernen und Gottes segensreiche Zuwendung verehren.

Wir haben hier somit eine Art mystischer Union, basierend auf der Intensität des Leidens und der Identifizierung mit Gott. Ich stelle Ihnen dies als ein Beispiel vor, wie jemand durch diese intensive Leidenserfahrung in der Zeit der Schoah hindurch leben kann, wenn auch nicht an diesem besonderen Ort. Ich denke nun wird deutlicher, was ich meinte, als ich sagte: eine religiöse Antwort des bei Gott Seins, und nicht so sehr eine Erklärung.

In gewissem Sinne setze ich ganz bescheiden die Tradition des Rabbi Shapiro fort. Sie haben bemerkt, wie viele von Rabbi Shapiros Sätzen Ich-Aussagen enthalten, dennoch spricht er von sich wie in der dritten Person. Er sagt: „Ich bin so verzweifelt, ich habe so viel geweint, mein ganzes Leben ist erfüllt von Kummer und Trostlosigkeit“. Schließlich und endlich läuft diese ganze theologische Reflexion auf eine Balance hinaus zwischen unserer Fähigkeit, in der ersten Person zu sprechen und dann mit einer größeren Objektivität zu sprechen. Sie läuft darauf hinaus, was wir akzeptieren können, was wir leben können, was Sinn ergibt für uns. Ich habe Sie darauf hingewiesen, dass die mystische Antwort – und dies ist ein wundervolles Beispiel des mystischen Antwortgebens – auf gewissen Einsichten beruht. Sie sehen, wie Rabbi Shapiro bestimmte Ideen verwendet, Sie sehen, wie er Bezug nimmt auf das Verbergen des Angesichts.

Der andere Gedanke, und ich habe das Wort bis jetzt nicht benutzt, ist Glaube. Es ist eine Antwort des Glaubens. Andere Gedanken können sehr leicht wegführen vom Glauben. Sie werden zu Antworten der Vernunft. Es ist ein Vernunft gemäßer Ablauf; es war Vernunft gemäß, dass der Holocaust dem Staat Israel voraufging , es war vernünftig für diese historische Reaktion, es war vernünftig. Aber nichts von alledem ist Vernunft gemäß. Und die Schönheit von Rabbi Shapiros Zeugnis ist, dass es uns in die reine Sphäre des Glaubens und der Glaubenserfahrung führt. Die Kraft des Glaubens ist die Stärke des Lebens mit Gott, welches unsere Perspektive verwandelt in die Perspektive Gottes, indem wir mit Gott leiden, leiden mit Gottes Leid.

Das ist die tiefste Antwort auf die Frage: „Wo ist Gott im Holocaust?“ Gott ist da als Leidender. Wenn wir Ihn nicht sehen, so deshalb, weil Er so viel weint, dass Er sein Angesicht von uns abwenden muss. Unsere Antwort sollte darin bestehen, ganz nah an Ihn heran zu rücken, die neue Offenbarung zu empfangen und den Mut, bis zu jener Zeit, da der Kampf zwischen Gut und Böse entschieden ist und die äußere Rettung, die äußere Lösung der Situation, stattfinden kann. Aber bis die äußere Lösung geschieht, gibt es den inneren Prozess. In ihm gibt es eine Art Sieg, denn am Morgen, als du aufwachtest, warst du ganz niedergeschlagen; du konntest nicht beten, du konntest keinen Sinn entdecken. Wenn du die Kraft aufbringst, dich selbst in die Gegenwart Gottes zu versetzen, dich mit Seinem Leiden zu vereinigen und neue Lehren zu gewinnen, dann ist das ein kleiner Sieg. Dies ist ein machtvolles Zeugnis für die Kraft des Glaubens.

Rabbi Shapiros Worte wurden im Kontext des Warschauer Ghettos geschrieben. Sie stellen keine heutige Reflexion über die Bedeutung von Auschwitz dar. Sie können aber vielleicht einen Weg zeigen, wie wir über Auschwitz nachdenken können, obwohl sie nicht im Rahmen des Diskurses „nach Auschwitz” entstanden sind.

Elie Wiesel

Ich möchte mit den Worten eines Autors schließen, der Auschwitz überlebt hat, der beständig mit seiner theologischen Bedeutung ringt und der die Gedanken des Rabbi Shapiro auf seine Weise und in seiner Sprache neu denkt. Die Perspektive ist eine geringfügig andere, und theologische Fragen treffen zusammen mit poetischer Ausdrucksweise. Religiöse Antworten, wie oben erörtert, verbinden sich mit dem Ringen um die Frage, ob es eine Antwort gibt auf die theologische Herausforderung, die Auschwitz darstellt, ob es sie geben kann. Da der Autor, Elie Wiesel, kein Philosoph ist, sondern ein Dichter und Schriftsteller, kann er sein Ringen zum Ausdruck bringen, ohne danach zu streben, Spannungen aufzulösen, sondern er ermöglicht dem Leser, die Spannungen zu teilen. Hierin ist er auch der nicht-systematischen Denkweise nahe, die für die chassidische Literatur charakteristisch ist. Elie Wiesels Worte kommen dem sehr nahe, was wir bei Rabbi Shapiro sehen, aber sie sind auch mit neuer Kraft formuliert und mit einem Fragezeichen, das sie für Nach-Holocaust Reflexionen angemessen macht. Ich möchte daher meine Ausführungen beschließen, indem wir einige Abschnitte von Elie Wiesel miteinander teilen, in denen die Gedanken, denen wir oben begegneten, in dem Rahmenwerk seiner eigenen Bemühung entwickelt sind, Sinn in den Geschehnissen von Auschwitz zu finden.

Was uns zustößt, lässt Ihn nicht unberührt. Was Ihm widerfährt, betrifft uns. Wir gehen den gleichen Weg, nehmen an derselben Suche teil, leiden aus denselben Gründen und geben unserer gemeinsamen Hoffnung denselben Stellenwert.

Doch diese Leidensgemeinschaft birgt einige Schwierigkeiten. Sie ist zweideutig in ihrer Tragweite. Soll sie die Prüfung des Menschen erschweren oder erleichtern?

Hilft uns die Vorstellung, dass Gott gleichfalls leidet, dass Er mit uns und unseretwegen leidet, unsere Strafe zu ertragen, oder macht sie nicht im Gegenteil ihre Last schwerer? Da auch Gott das Leiden kennt, haben wir sicher kein Recht, uns zu beklagen. Wir können jedoch sagen, dass das Leiden des einen das der anderen nicht aufhebt, sondern zu ihm hinzukommt. Die beiden summieren sich, ohne sich auszugleichen. Demnach wäre das göttliche Leiden kein Trost für uns, sondern eine zusätzliche Strafe. Und folglich dürften wir den Himmel getrost fragen: „Haben wir denn noch nicht genug Kummer? Musst Du uns Deinen zusätzlich aufbürden?”

In Wahrheit steht es uns überhaupt nicht zu, für Gott zu entscheiden. Er allein besitzt die Freiheit, unter Seinen tausend Möglichkeiten zu wählen, Seine Leiden neben unsere zu stellen. Wir können sie weder herausfordern noch zurückweisen.

Wir können nur versuchen, uns ihrer würdig zu erweisen. Ohne je zu verstehen? Ja, ohne zu verstehen. Auf der Ebene Gottes unterliegt alles dem Geheimnis. […] Doch ich gebe zu, dass mir dies manchmal nicht genügt. Wenn ich an die Erschütterungen unseres Jahrhunderts denke, kann ich mich mit nichts zufriedengeben. In diesem Zusammenhang will ich wissen, welchen Platz Gott einnimmt und welche Rolle Er spielt. Wie hat Gott es fertiggebracht, Sein Leiden und zudem das unsrige auszuhalten? Müssen wir davon ausgehen, dass das eine zur Rechtfertigung des anderen dient? Sicher nicht. Nichts kann Auschwitz rechtfertigen. Und wenn Gott selbst mir eine Rechtfertigung anböte, ich würde sie, glaube ich, zurückweisen.

Treblinka hat alle Rechtfertigungen außer Kraft gesetzt. Und alle Antworten.

Das Reich hinter Stacheldraht wird für immer ein unermessliches Fragezeichen bleiben, für die Menschen wie für ihren Schöpfer. Angesichts einer solchen Häufung von Leid und Todesqualen, die in der Geschichte ohnegleichen sind, hätte Er eingreifen oder sich wenigstens äußern müssen. Ich nehme gern an, Er habe sich in Seinem immerwährenden Mitleid von unserem Schmerz überwältigen lassen, den Er auf Seine ihm eigene Art noch verstärkte. Doch auf welcher Seite stand Er? Stand Er nur auf der Seite der Opfer? Will Er nicht Vater aller Menschen sein?
Als solcher zerbricht Er unseren Selbstschutz und erschüttert uns zutiefst. Einen Vater, der zuschaut, wie einige Seiner Kinder die anderen abschlachten, kann man doch nur bedauern. Gibt es ein vollkommeneres Leiden, bitterere Schuldgefühle?

In diesem Dilemma steckt der Gläubige am Ende dieses Jahrhunderts: Gott hat es geschehen lassen, um dem Menschen etwas zu zeigen, und wir wissen nicht, was es war. War es Sein Leiden? Er hätte Seinem eigenen Leiden ein Ende machen können, ja machen müssen, indem er das Martyrium der Unschuldigen beendete. Warum hat Er es nicht getan? Ich weiß es nicht, und ich glaube, ich werde es nie wissen.

Zweifellos legt Er keinen Wert darauf, erkannt zu werden. Doch genauso ratlos bin ich angesichts der Menschen. Niemals werde ich ihren moralischen Niedergang, ihren Fall verstehen. Es gab eine Zeit, da versetzte mich das alles in Wut und reizte mich zum Widerstand gegen die Menschheit, die sich mitschuldig gemacht hat.

Später empfand ich vor allen Dingen Trauer für die Opfer.

Der Midrasch bemerkt in einem Kommentar zu jenem Vers des Propheten Jeremia, in dem Gott sagt: „Ich werde heimlich weinen”, es gebe einen Ort namens „Geheimnis”, und Gott ziehe sich dorthin zurück, um zu weinen, wenn er traurig sei.

Für uns befindet sich dieser geheime Ort in der Erinnerung. Sie besitzt ihr eigenes Geheimnis.

An anderer Stelle wird im Midrasch erzählt, Gott habe, als Er die Leiden Seiner unter alle Völker zerstreuten Kinder erblickte, zwei Tränen vergossen, die in den Ozean fielen. Die Tränen machten einen solchen Lärm, dass man es von einem Ende der Welt bis zum anderen hören konnte. Ich liebe es, diese Geschichte immer wieder zu lesen. Und ich sage mir: Vielleicht hat Gott mehr als zwei Tränen vergossen, als Er die Tragödie Seines Volkes in unserem Jahrhundert erblickte. Doch aus Feigheit haben die Menschen sich die Ohren zugehalten.

Ist dies endlich eine Antwort? Nein: es ist eine Frage. Eine Frage mehr.4

Wiesel arbeitet mit den Gedanken, die sich bei Rabbi Shapiro finden. Es ist eine Glaubensaussage, aber vielleicht hat dieser Glaube eine Umwandlung durchlaufen. Wiesel kann nicht mehr bei Gott in Seinem Leiden sein und gleichzeitig die schwierigen Fragen beiseitelassen. Die Fragen verfolgen ihn. Er kehrt zwar zurück zu der Vorstellung vom göttlichen Leiden und göttlichen Weinen, aber nun als eine Aussage, die gleichzeitig eine des Glaubens und eine des Protestes ist. Wiesel versucht zu verstehen, wo Rabbi Shapiro damit zufrieden war, einfach in der Gegenwart des Gottesleids zu leben.

Ist dies ein Unterschied, der aus dem geistlichen Leben und der geistlichen Qualität dieser beiden Individuen resultiert, oder ist es ein Unterschied in der Sichtweise infolge der Offenbarwerdung des Ausmaßes des Schreckens des Holocaust? Hätte Rabbi Shapiro den Holocaust durchlebt, könnte er seine Perspektive aufrecht erhalten haben oder hätten Wiesels Nöte sich ihm aufgezwungen? Wir werden es nie wissen.

Als religiöse Denker mögen wir zwei Denkansätzen gegenüber stehen, einander sehr nahe, aber auch sehr unterschieden. Sollte ein Glaube nach dem Holocaust sich bemühen, eine Antwort in seine Perspektive zu integrieren? Kann er sich zufrieden geben mit der erfahrungsmäßigen Dimension der religiösen Antwort? Stellt das Bestreben, eine Antwort zu suchen, bereits einen Herabstieg von den Höhen der mystischen Partizipation am göttlichen Leiden dar?

Und bedeutet Wiesels Scheitern im Suchen nach einer Antwort, die nur weitere Fragen aufwirft, dass es besser für uns ist, wenn wir uns bemühen, den Glauben des Rabbi Shapiro zu leben? Dies sind die Fragen, mit denen wir fortwährend ringen müssen, wenn wir Gottes Spuren in der Wirklichkeit von Auschwitz suchen.


  • 1 Vor kurzem veröffentlichte Katz ein ausgezeichnetes Werk zum religiösen Denken über den Holocaust, Wrestling with God. Jewish theological responses during and after the Holocaust, gen. ed. S. T. Katz, assoc. eds. S. Bidreman, G. Greenberg, Oxford 2007, und einige der Texte, die ich später mit Ihnen teilen möchte, finden sich in diesem Buch. Es enthält knappe und sehr kraftvolle Analysen und gibt einen recht umfassenden Überblick über religiöse Antworten auf den Holocaust. Wenn ich daher ein spezielles Werk für Ihre Bibliothek empfehlen sollte, damit Sie weitere Reflexionen über das Thema anstellen könnten, so wäre es dies.
  • 2 D. Weiss Halivni, Jewish Theology After Auschwitz, Oxford 2007.
  • 3 A. Goshen-Gottstein, Speech, silence, song: epistemology and theodicy in a teaching of R. Nahman of Breslav, “Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel” 30 (2003) Nr. 1–4, S. 143–187.
  • 4 E. Wiesel, Alle Flüsse fließen ins Meer, Hamburg 1995, S. 140–143.

Aus dem Englischen übersetzt von Annegret Fuehr
Veröffentlicht in: Dialog an der Schwelle von Auschwitz, Band 2. Krakow, 2011, S 29-57.