ENZYKLIKA
FRATELLI TUTTI
DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
ÜBER DIE GESCHWISTERLICHKEIT
UND DIE SOZIALE FREUNDSCHAFT

[…]

SIEBTES KAPITEL
WEGE ZU EINER NEUEN BEGEGNUNG

225. In vielen Erdteilen sind Friedenswege erforderlich, die zur Heilung führen; es sind Friedensstifter vonnöten, die bereit sind, einfallsreich und mutig Prozesse zur Heilung und zu neuer Begegnung einzuleiten.

Von der Wahrheit her neu beginnen

226. Einander neu zu begegnen bedeutet nicht die Rückkehr in eine Zeit vor den Konflikten. Im Laufe der Zeit haben wir uns alle verändert. Der Schmerz und die Auseinandersetzungen haben uns verändert. Außerdem gibt es für leere Diplomatie, für Verstellung, für Doppelzüngigkeit, für Verheimlichung, für gute Manieren, die die Realität verschleiern, keinen Platz mehr. Wer sich heftig gestritten hat, muss in nackter Wahrheit klar miteinander reden. Sie alle müssen lernen, eine bußfertige Gesinnung anzunehmen, welche die Vergangenheit akzeptieren kann, um die Zukunft von eigener Unzufriedenheit, von Verwirrungen oder Projektionen frei zu halten. Allein die historische Tatsachenwahrheit kann Grundlage für das beharrliche, fortgesetzte Bemühen um ein gegenseitiges Verständnis und um eine neue Sichtweise zum Wohle aller sein. Tatsächlich benötigt der Friedensprozess einen fortdauernden Einsatz. »Er ist eine geduldige Arbeit der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die das Gedächtnis an die Opfer ehrt und schrittweise eine gemeinsame Hoffnung eröffnet, die stärker ist als die Rache«.[209] So sagten die Bischöfe des Kongo im Hinblick auf einen wiederkehrenden Konflikt: »Friedensabkommen auf dem Papier werden nie ausreichen. Es wird notwendig sein, weiterzugehen und die Forderung nach der Wahrheit über die Ursprünge dieser wiederkehrenden Krise einzubinden. Das Volk hat das Recht zu erfahren, was passiert ist«.[210]

227. Denn »die Wahrheit ist die untrennbare Gefährtin der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Die drei vereint sind wesentlich, um den Frieden aufzubauen, und andererseits verhindert jede Einzelne von ihnen, dass die anderen verfälscht werden […] Die Wahrheit darf nämlich nicht zu Rache führen, sondern vielmehr zu Versöhnung und Vergebung. Wahrheit heißt, den vom Schmerz zerstörten Familien zu berichten, was mit ihren vermissten Angehörigen geschehen ist. Wahrheit heißt, das zu bekennen, was den von den Gewalttätern angeworbenen Minderjährigen passiert ist. Wahrheit heißt, den Schmerz der Frauen anzuerkennen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden sind. […] weil jede gegen einen Menschen begangene Gewaltakt eine Wunde am Fleisch der Menschheit ist; jeder gewaltsame Tod mindert unser Person-Sein. […] Gewalt bringt mehr Gewalt hervor, Hass erzeugt mehr Hass und Tod führt zu weiterem Tod. Wir müssen diesen scheinbar unvermeidlichen Kreislauf durchbrechen«.[211]

[…]

Wert und Bedeutung von Vergebung

236. Einige ziehen es vor, nicht von Versöhnung zu sprechen, weil sie meinen, dass Konflikte, Gewalt und Gräben zum normalen Funktionieren einer Gesellschaft gehören. Tatsächlich gibt es in jeder Gruppe von Menschen mehr oder weniger subtile Machtkämpfe zwischen verschiedenen Parteien. Andere argumentieren, Vergebung zu üben bedeute, den eigenen Raum aufzugeben, sodass andere die Lage beherrschen. Aus diesem Grund sind sie der Ansicht, es sei besser, ein Machtspiel aufrechtzuerhalten, das ein Kräftegleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppierungen ermöglicht. Wieder andere meinen, Versöhnung sei etwas für Schwache, die nicht zu einem ernsthaften Dialog imstande sind, und sich deshalb dafür entscheiden, den Problemen durch ein Verbergen der Ungerechtigkeiten zu entkommen. In der Unfähigkeit, sich den Problemen zu stellen, wählen sie einen Scheinfrieden.

Der unvermeidliche Konflikt

237. Vergebung und Versöhnung sind für das Christentum äußerst wichtige Themen; in unterschiedlicher Form auch in anderen Religionen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass Glaubensüberzeugungen nicht entsprechend verstanden und so dargestellt werden, dass sie am Ende Fatalismus, Handlungslosigkeit oder Ungerechtigkeit nähren oder – als entgegengesetztes Extrem – Intoleranz und Gewalt.

238. Christus hat nie dazu aufgerufen, Gewalt oder Intoleranz zu schüren. Er selbst verurteilte offen die Anwendung von Gewalt, um sich durchzusetzen: »Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein« (Mt 20,25-26). Andererseits fordert das Evangelium, »siebzigmal siebenmal« (Mt 18,22) zu vergeben, und führt das Beispiel des unbarmherzigen Knechtes an, dem vergeben wurde, der aber seinerseits nicht fähig war, anderen zu vergeben (vgl. Mt 18,23-35).

239. Bei der Lektüre weiterer Texte des Neuen Testaments können wir feststellen, dass tatsächlich die ersten Gemeinden, inmitten einer heidnischen Welt mit weit verbreiteter Korruption und vielen Verirrungen, ein Gespür für Geduld, Toleranz und Verständnis besaßen. Einige Stellen sind in dieser Hinsicht sehr klar: Es wird dazu eingeladen, die Gegner »mit Güte« (2 Tim 2,25) zurechtzuweisen. Oder man ermahnt dazu, »niemanden zu schmähen, friedfertig zu sein, gütig und alle Freundlichkeit allen Menschen gegenüber zu zeigen! Denn auch wir waren früher unverständig« (Tit 3,2-3). In der Apostelgeschichte heißt es, dass die von einigen Vorstehern verfolgten Jünger »Gunst beim ganzen Volk« fanden (2,47; vgl. 4,21.33; 5,13).

240. Wenn wir jedoch über Vergebung, Frieden und soziale Eintracht nachdenken, stoßen wir auf einen überraschenden Ausdruck Christi: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein« (Mt 10,34-36). Das muss im Kontext des Kapitels gelesen werden. Dort wird deutlich, dass vom Thema der Treue zur eigenen Entscheidung die Rede ist, ohne sich dafür zu schämen, selbst gegen Widerstände und sogar, wenn sich die Angehörigen gegen diese Entscheidung stellen. Es ist daher keine Einladung, den Konflikt zu suchen, sondern einfach den unvermeidlichen Konflikt zu ertragen. Die Achtung vor anderen Menschen darf nicht dazu führen, um des vermeintlichen Friedens in Familie und Gesellschaft willen sich selbst untreu zu werden. Der heilige Johannes Paul II. hat gesagt, dass die Kirche »keineswegs die Absicht [hat], jegliche Form sozialer Konflikte zu verurteilen. Die Kirche weiß nur zu gut, dass in der Geschichte unvermeidlich Interessenskonflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen auftreten und dass der Christ dazu oft entschieden und konsequent Stellung beziehen muss«.[223]

Berechtigte Kämpfe und Vergebung

241. Es geht nicht darum, auf unsere eigenen Rechte zu verzichten und Vergebung für einen korrupten Machtinhaber, einen Kriminellen oder jemanden, der unsere Würde herabsetzt, vorzuschlagen. Wir sind gerufen, ausnahmslos alle zu lieben, aber einen Unterdrücker zu lieben bedeutet nicht, zuzulassen, dass er es weiter bleibt; es bedeutet auch nicht, ihn im Glauben zu belassen, dass sein Handeln hinnehmbar sei. Ihn in rechter Weise zu lieben bedeutet hingegen, auf verschiedene Weise zu versuchen, dass er davon ablässt zu unterdrücken; ihm jene Macht zu nehmen, die er nicht zu nutzen weiß und die ihn als Mensch entstellt. Vergeben heißt nicht, zuzulassen, dass die eigene Würde und die Würde anderer weiterhin mit Füßen getreten wird oder dass ein Krimineller weiterhin Schaden anrichten kann. Wer Unrecht erleidet, muss seine Rechte und die seiner Familie nachdrücklich verteidigen, eben weil er die ihm gegebene Würde schützen muss, eine Würde, die Gott liebt. Wenn ein Verbrecher mir oder einem geliebten Menschen Schaden zugefügt hat, kann mir niemand verbieten, Gerechtigkeit zu fordern und dafür Sorge zu tragen, dass diese Person – oder irgendjemand anders – mir oder anderen nicht wieder Schaden zufügt. Das ist mein Recht, und Vergebung negiert diese Notwendigkeit keineswegs, sondern verlangt sie sogar.

242. Der springende Punkt ist, dies nicht zu tun, um eine Wut zu schüren, welche die eigene Seele und die Seele unseres Volkes krankmacht, oder wegen eines ungesunden Wunsches nach Vernichtung des Nächsten, der eine Reihe von Rachefeldzügen auslöst. Niemand erreicht auf diese Weise inneren Frieden oder versöhnt sich mit dem Leben. Die Wahrheit ist: »Keine Familie, keine Gruppe von Nachbarn, keine Ethnie und noch weniger ein Land haben Zukunft, wenn der Motor, der sie vereint, sie zusammenbringt und die Unterschiede zudeckt, die Vergeltung und der Hass sind. Wir dürfen uns nicht abstimmen und uns zusammentun, um Rache zu üben, um dem, der uns Gewalt angetan hat, das Gleiche zu tun und scheinbar legale Gelegenheiten der Vergeltung zu planen«.[224] Auf diese Weise wird nichts gewonnen und auf lange Sicht alles verloren.

243. Es stimmt, »es ist keine leichte Aufgabe, das vom Konflikt hinterlassene bittere Erbe von Ungerechtigkeit, Feindseligkeit und Misstrauen zu überwinden. Dies kann nur geschehen, indem man das Böse durch das Gute besiegt (vgl. Röm 12,21) und jene Tugenden pflegt, welche die Versöhnung, die Solidarität und den Frieden fördern«.[225] Wer auf diese Weise »die Güte in sich wachsen lässt, dem schenkt sie ein ruhiges Gewissen und eine tiefe Freude, auch inmitten von Schwierigkeiten und Unverständnis. Sogar angesichts erlittener Beleidigungen ist die Güte keine Schwäche, sondern eine wirkliche Kraft, die fähig ist, auf Vergeltung zu verzichten«.[226] Wir müssen im eigenen Leben erkennen, dass »das harte Urteil über meinen Bruder oder meine Schwester in meinem Herzen, die nicht verheilte Wunde, das nicht verziehene Böse, der Groll, der mir nur wehtun wird, ein Stück Krieg ist, das ich in mir trage, ein Feuer in meinem Herzen, das gelöscht werden muss, damit es nicht zu einem Brand wird«.[227]

Die wahre Bewältigung

244. Wenn Konflikte nicht gelöst, sondern in der Vergangenheit verborgen oder begraben werden, kann Schweigen manchmal bedeuten, sich an schweren Fehlern und Sünden mitschuldig zu machen. Wahre Versöhnung aber geht dem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern wird im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst. Der Kampf zwischen verschiedenen Gruppen kann, »wenn Feindseligkeiten und gegenseitiger Hass ferngehalten werden, allmählich zu einer ehrlichen Diskussion, die auf der Suche nach Gerechtigkeit beruht, werden«.[228]

245. Ich habe wiederholt ein Prinzip vorgeschlagen, »das zum Aufbau einer sozialen Freundschaft unabdingbar ist, und dieses lautet: Die Einheit steht über dem Konflikt. […] Es geht nicht darum, für einen Synkretismus einzutreten, und auch nicht darum, den einen im anderen zu absorbieren, sondern es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält«.[229] Wir sind uns wohl bewusst, »dass sich immer dann, wenn wir als Einzelner oder Gemeinschaft lernen, etwas Größeres als uns selbst und unsere persönlichen Interessen anzuzielen, sich gegenseitiges Verständnis und Engagement [in ein Umfeld] verwandeln […] wo Konflikte und Spannungen – auch jene, die man einst für unversöhnlich gehalten hätte – zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt«.[230]

Erinnerung

246. Von dem, der auf ungerechte und grausame Weise viel gelitten hat, kann man nicht eine Art „gesellschaftliche Vergebung“ verlangen. Versöhnung ist eine persönliche Angelegenheit: niemand kann sie einer ganzen Gesellschaft aufzwingen, selbst wenn sie gefördert werden muss. Im rein persönlichen Bereich kann jemand aus freier und großzügiger Entscheidung heraus darauf verzichten, eine Strafe zu fordern (vgl. Mt 5,44-46), selbst wenn die Gesellschaft und ihre Rechtsprechung dies berechtigterweise verlangen. Es ist jedoch nicht möglich, eine „allgemeine Versöhnung“ zu verordnen und zu glauben, Wunden per Dekret zu schließen oder Ungerechtigkeiten mit einem Mantel des Vergessens überdecken zu können. Wer kann das Recht beanspruchen, im Namen anderer zu vergeben? Es ist ergreifend, die Fähigkeit zur Vergebung einiger Menschen zu sehen, die imstande waren, über den erlittenen Schaden hinwegzugehen; es ist aber auch menschlich, die zu verstehen, die das nicht können. Was jedenfalls niemals vorgeschlagen werden darf, ist das Vergessen.

247. Die Shoah darf nicht vergessen werden. Sie ist »ein Symbol dafür […] wie weit die Ruchlosigkeit des Menschen gehen kann, wenn er, durch falsche Ideologien angestiftet, die grundlegende Würde eines jeden Menschen vergisst, der eine absolute Achtung gebührt, gleich welchem Volk der Mensch angehört und welche Religion er bekennt«.[231] Wenn ich an sie erinnere, komme ich nicht umhin, dieses Gebet zu wiederholen: »Denk an uns in deiner Barmherzigkeit. Gib uns die Gnade, uns zu schämen für das, was zu tun wir als Menschen fähig gewesen sind, uns zu schämen für diesen äußersten Götzendienst, unser Fleisch, das du aus Lehm geformt und das du mit deinem Lebensatem belebt hast, verachtet und zerstört zu haben. Niemals mehr, o Herr, niemals mehr!«[232]

248. Die Atombombenangriffe von Hiroshima und Nagasaki dürfen nicht vergessen werden. Noch einmal »gedenke [ich] hier aller Opfer und verneige mich vor der Stärke und der Würde derer, die über viele Jahre hinweg als Überlebende jener ersten Augenblicke die heftigsten körperlichen Schmerzen und in ihrem Geist die Keime des Todes ertragen haben, die an ihrer Lebenskraft weiter gezehrt haben. […] [Wir] dürfen […] nicht zulassen, dass die gegenwärtigen und künftigen Generationen die Erinnerung an das Geschehene verlieren; jene Erinnerung, die Garantie und Ansporn ist, um eine gerechtere und brüderlichere Welt zu erbauen«.[233] Wir dürfen auch nicht die Verfolgungen, den Sklavenhandel und die ethnischen Säuberungen vergessen, die in verschiedenen Ländern stattfanden und noch stattfinden, und so viele andere historische Ereignisse, für die wir uns schämen, Menschen zu sein. Man muss sich immer an sie erinnern, immer und immer wieder, ohne zu ermüden oder gefühllos zu werden.

249. Heute ist die Versuchung groß, das Blatt wenden zu wollen, indem man sagt, dass schon so viel Zeit verstrichen ist und wir vorwärtsblicken müssen. Um Gottes willen, nein! Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung. Wir müssen »das kollektive Bewusstsein lebendig erhalten« und »den nachfolgenden Generationen das schreckliche Geschehen« bezeugen. So wird das Gedächtnis an die Opfer wachgerufen und bewahrt, »damit das menschliche Gewissen immer stärker werde gegenüber jedem Willen zur Vorherrschaft und zur Zerstörung«.[234] Das haben die Opfer selbst nötig – Menschen, gesellschaftliche Gruppen oder Nationen –, um nicht einer Logik nachzugeben, die dazu führt, die Repressalien oder jede Art von Gewalt im Namen des erlittenen Leids zu rechtfertigen. Deshalb beziehe ich mich nicht nur auf die Erinnerung an die Schrecken, sondern auch auf die Erinnerung an diejenigen, die inmitten eines vergifteten und korrupten Umfeldes die Würde zurückgewinnen konnten und sich mit kleinen oder großen Gesten für Solidarität, Vergebung und Geschwisterlichkeit entschieden haben. Es tut sehr gut, sich an das Gute zu erinnern.

Vergebung ohne Vergessen

250. Vergebung beinhaltet nicht das Vergessen. Allerdings besteht vor Fakten, die in keiner Weise geleugnet, relativiert oder verheimlicht werden können, immer noch die Möglichkeit der Vergebung. Auch wenn es Dinge gibt, die niemals toleriert, gerechtfertigt oder entschuldigt werden sollten, können wir dennoch verzeihen. Auch wenn es etwas gibt, das wir auf gar keinen Fall vergessen dürfen, dann können wir dennoch verzeihenFreie und aufrichtige Vergebung besitzt eine Größe, die die Unermesslichkeit der göttlichen Vergebung widerspiegelt. Wenn Vergebung bedingungslos ist, dann kann auch demjenigen vergeben werden, der sich gegen Reue sträubt und nicht in der Lage ist, um Vergebung zu bitten.

251. Diejenigen, die vergeben, vergessen nämlich nicht. Aber sie weigern sich, von der gleichen zerstörerischen Kraft besessen zu werden, die ihnen Leid zugefügt hat. Sie durchbrechen den Teufelskreis und stoppen das Vordringen der zerstörerischen Kräfte. Sie beschließen, die Gesellschaft nicht weiterhin mit der Rachsucht anzustecken, die früher oder später wieder auf sie selbst zurückfällt. Denn Rache löst nie wirklich das Ungemach der Opfer. Es gibt Verbrechen, die so entsetzlich und grausam sind, dass den Täter leiden zu lassen nichts bringt, um verspüren zu können, dass der Schaden wiedergutgemacht wurde; es würde nicht einmal ausreichen, den Verbrecher zu töten, noch könnte man Foltermethoden finden, die mit den möglichen Leiden der Opfer vergleichbar wären. Rache ist keine Lösung.

252. Wir sprechen auch nicht von Straflosigkeit. Aber Gerechtigkeit wird nur aus Liebe zur Gerechtigkeit selbst, aus Respekt vor den Opfern, zur Verhinderung weiterer Verbrechen und zur Wahrung des Gemeinwohls wahrhaft gesucht, nicht als vermeintliche Entladung des eigenen Zornes. Vergebung ist genau das, was es ermöglicht, Gerechtigkeit zu suchen, ohne in den Teufelskreis der Rache zu geraten oder der Ungerechtigkeit des Vergessens zu verfallen.

253. Wo es beiderseitige Ungerechtigkeiten gab, sollte klar erkannt werden, dass sie möglicherweise nicht von gleicher Schwere waren oder nicht vergleichbar sind. Gewalt durch staatliche Machtstrukturen befindet sich nicht auf der gleichen Ebene wie Gewalt durch bestimmte Gruppierungen. Jedenfalls kann nicht verlangt werden, dass nur an die ungerechten Leiden einer der beiden Seiten erinnert wird. Wie die Bischöfe Kroatiens lehrten, »schulden wir jedem unschuldigen Opfer den gleichen Respekt. Hier darf es keine ethnischen, konfessionellen, nationalen oder politischen Unterschiede geben«.[235]

254. Ich bitte Gott, »unsere Herzen auf die Begegnung mit den Mitmenschen jenseits der Unterschiede von Ansichten, Sprache, Kultur und Religion vorzubereiten; unser ganzes Sein mit dem Öl seiner Barmherzigkeit zu salben, das die Wunden der Fehler, der Verständnislosigkeiten und der Streitigkeiten heilt; und wir bitten ihn um die Gnade, uns demütig und gütig auszusenden auf die anspruchsvollen, aber fruchtbaren Pfade der Suche nach dem Frieden«.[236]

[…]

Gegeben zu Assisi, beim Grab des heiligen Franziskus, am 3. Oktober,
Vigil vom Fest des „Poverello“, im Jahr 2020, dem achten meines Pontifikats.

Franziskus



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