Vergebungs- und Versöhnungsbitte der Polnischen Bischofskonferenz

Tschenstochau am 25. August 2000

1. Das große Jubiläum des Erlösers feiernd, freut sich die katholische Kirche in Polen gemeinsam mit der Gesamtkirche über die Erlösung der Welt und lädt alle ein, an dieser Freude teilzuhaben.

Eine der wichtigsten Verpflichtungen, die diese Zeit uns diktiert, ist christliche Umkehr, die Versöhnung sowohl mit Gott als auch mit den Menschen verlangt. Versöhnung und Geschwisterlichkeit sind besonders da gefordert, wo schmerzhafte und ärgerniserregende Teilungen sowie Streitigkeiten, manchmal auch dramatische Spannungen, Konflikte oder sogar Kämpfe stattgefunden haben. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten des Großen Jubiläums hat die Gesamtkirche die mühsame Anstrengung der Reinigung des Gedächtnisses in Angriff genommen. Diesen Prozeß hat auch die katholische Kirche in Polen begonnen.

Im Heiligen Jahr, das eine Zeit der Versöhnung und der Gnade ist, wenden wir uns noch einmal der Vergangenheit zu, um die Versöhnung Gottes mit den Menschen, die Christus uns verdient hat, um so erfolgreicher und fruchtbarer zu verkünden, damit wir im Geiste des Evangeliums Jesu Gegenwart und Zukunft gestalten.

Die Bischöfe der katholischen Kirche in Polen fühlen sich besonders verpflichtet, das Thema der Reinigung des Gedächtnisses und der Versöhnung aufzugreifen. Es ist nämlich eine Eigenschaft der Kirche, den Dialog ununterbrochen jederzeit und mit jedem Menschen aufzunehmen und zu zeigen, daß Dialog nicht eine beliebige Haltung ist, sondern eine evangelische Verpflichtung aller Jünger Christi. Er ist die Muttersprache der Menschheit.

„Dialog ist vor allem ein Stil des Handelns, eine Haltung und ein Geist, der das Handeln durchdringt. Er setzt Mut voraus, Achtung und Zuneigung jedem Menschen gegenüber und auch Anerkennung seiner persönlichen Identität, seiner Weisen, sich selbst und seine Werte auszudrücken. So sollte Dialog Norm und Stil der ganzen christlichen Sendung sein, und auch seiner einzelnen Elemente, sowohl, wenn es um Präsenz und Zeugnis im Alltag geht, als auch in bezug auf einen Dienst oder direkte Voraussagen. Eine Sendung, die nicht vom Geist des Dialogs durchdrungen wäre, wäre im Widerspruch mit den Erfordernissen wirklicher Menschlichkeit und den Geboten des Evangeliums.“ (Erklärung des Sekretariats für die Nichtchristen von 1984, 21 u. 29).

Es ist wichtig, daß wir diese Botschaft nicht nur nebeneinander, sondern – bei voller Bewahrung der eigenen Identität und gegenseitiger Achtung – auch gemeinsam verwirklichen können und wollen.

2. Unsere Gedanken wenden sich zuerst den Juden zu, weil uns zahlreiche und tiefe Bande mit ihnen verbinden (Nostra aetate, 4).

„Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches; sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren‘ unserer Religion“ (Johannes Paul II., Ansprache in der Großen Synagoge in Rom am 13. April 1986).

Die katholische Kirche in Polen bemüht sich seit Jahren, Wege der Versöhnung mit dem Volk Israel zu finden, das Gott berufen hat mit einer „unwiderruflichen Berufung“, mit dem Volk, das weiterhin „Gegenstand der Liebe Gottes bleibt“ (Röm 11,28-29). Diese treue Liebe Gottes ist eine Garantie und ein lesbares Zeichen Seiner Liebe zu jedem Menschen, der ständig Vergebung und innere Erneuerung braucht. Von ihr ziehen auch wir Christen Nutzen, weil auch wir untreu und abtrünnig sind und der Reue und Umkehr bedürfen.

Das Bewußtsein der barmherzigen Liebe Gottes sowie der besonderen Gnade, die wir während des Großen Jubiläums erfahren dürfen, bewirkten, daß wir uns dem Prozeß der Gewissenserforschung der Kirche in Polen angeschlossen haben, die in der Person des Primas um Vergebung für die Haltung derjenigen von uns gebeten hat, die Personen anderer Bekenntnisse nicht ernst nehmen oder Antisemitismus tolerieren. Wir glauben, daß die Söhne und Töchter der katholischen Kirche in Polen, individuell – in ihrem Gewissen – oder gesellschaftlich – in der Gemeinschaft der Gläubigen – diesen besonderen Akt aufnehmen.

Auf der Geschichte und der gegenwärtigen Identität der Juden lastet das Drama des Holocaust. Die Vernichtung von einigen Millionen Männern, Frauen und Kindern, geplant und durchgeführt von deutschen Nationalsozialisten, wurde vor allem im okkupierten Polen realisiert, auf von den Deutschen verwaltetem Territorium. Aus der Perspektive einiger Jahrzehnte zurückschauend, machen wir uns um so deutlicher jenes unaussprechliche damalige Drama des jüdischen Volkes bewußt.

An dieser Stelle rufen wir noch einmal den denkwürdigen Brief des polnischen Episkopates in Erinnerung, der zur Würdigung des 25jährigen jubiläums der Konzilserklärung Nostra aetate veröffentlicht und am 20. Januar 1991 in den Kirchen unseres Heimatlandes verlesen wurde. Die Generation der Teilnehmer und Zeugen des II. Weltkrieges tritt unwiederbringlich ab. Wir müssen also treu und würdig die Erinnerung an das, was geschehen ist, festhalten und den Nachkommen weitergeben. Im Geist der Buße des Jubiläums müssen wir uns eingestehen, daß neben der ehrenhaften Haltung der Rettung vieler jüdischer Leben durch Polen auch unsere Sünden aus der Zeit der Vernichtung bestehen: Gleichgültigkeit oder Feindschaft gegenüber Juden. Alles ist zu tun, um die christliche Solidarität mit dem Volk Israel wieder aufzubauen und zu vertiefen, damit nie und nirgends ein ähnliches Unglück noch einmal geschehen kann. Ebenso sind alle Erscheinungen von Judenfeindschaft, Antijudaismus (also Abneigung, die aus einer falsch verstandenen kirchlichen Lehre erwächst) und Antisemitismus (Haß, den nationalistische oder rassische Gründe gebären), die unter Christen vorkamen und noch immer vorkommen, effektiv zu überwinden. Wir erwarten, daß mit ähnlicher Entschiedenheit Antipolonismus überwunden wird.

Antisemitismus – ähnlich wie Antichristlichkeit – ist eine Sünde und wurde, wie auch alle anderen Formen von Rassismus, als solche durch die Lehre der Kirche verworfen. Diese Perspektiven und Möglichkeiten hat uns vor allem die vom Heiligen Vater im Heiligen Jahr unternommene Pilgerreise in das Heilige Land gezeigt. Ihre tiefsten Inhalte erlauben uns, die Hoffnung zu haben, daß die einen wie die anderen – Christen und Juden – mutig den Weg einschlagen können, den Johannes Paul II. während seiner Pilgerreise ins Heilige Land in seiner Rede in Yad Vashem gewiesen hat:

„Laßt uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine antijüdischen Gefühle seitens der Christen und keine antichristlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, die jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen.“

Wir hoffen, daß die Söhne und Töchter der Kirche in Polen, individuell in ihrem Gewissen, sich jenen besonderen Akt vom 20. Mai 20001 zu eigen machen. Er soll dienen der „Reinigung und der Aufmerksamkeit auf all das, was Gott wohlgefällig sein kann. Er soll den Weg ebnen für das Gebet der einen für die anderen.“

3. Einen wichtigen Platz in der Jubiläumsreflexion und in den Feierlichkeiten nimmt der Dialog der Kirche mit den anderen Religionen ein. Dessen Bedeutung und Rolle nimmt an Bedeutung zu, wenn wir auf die Gefährdungen achten, die sich aus der Säkularisierung und dem Laizismus ergeben, ebenso auch aus der Verfolgung der Christen in einigen islamischen Ländern. Angesichts dessen sind wir verpflichtet, glaubwürdig Zeugnis zu geben von dem einzigen Gott, Schöpfer des Weltalls und eines jeden Menschen. Unsere höchste religiöse Verpflichtung ist die Anbetung und der Preis Gottes, und auch die Danksagung für alle Erweise seiner Gnade, insbesondere für die Möglichkeit, von Jesus Christus vor allen Völkern Zeugnis zu geben.

Eine der dringendsten Formen der Zusammenarbeit ist die Ausübung des Gebotes der Nächstenliebe. In einer Welt, die zusammenwächst, in der immer häufiger Gläubige verschiedener Religionen nebeneinander wohnen, dienen gegenseitige Achtung, Solidarität und Zusammenarbeit der Entwicklung des gemeinsamen Wohles. Für den Christen ist grundlegend, in das Geheimnis der Menschwerdung Einsicht zu haben, dessen feierliches Jubiläum wir gerade begehen.

In seiner Rede am 23. März 2000 im Päpstlichen Institut Notre Dame in Jerusalem sagte der Papst: Nächstenliebe

„basiert auf der Überzeugung, daß, wenn wir unseren Nächsten lieben, wir unsere Gottesliebe zum Ausdruck bringen, und daß, wenn wir unseren Nächsten verletzen, wir Gott beleidigen. Dies bedeutet, daß die Religion sich gegen jedwede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung, von Haß und Rivalität, von Gewalt und Konflikten richtet.“

In unseren Beziehungen zu Gläubigen anderer Religionen in Polen wollen wir uns die Worte zu eigen machen, die der Heilige Vater an die Muslime gerichtet hat:

„Wir müssen aus dem Reichtum unserer jeweiligen religiösen Tradition schöpfen und das Bewußtsein verbreiten, daß die Probleme der heutigen Zeit nicht gelöst werden können, wenn wir einander nicht kennen und voneinander getrennt sind. Wir alle wissen um die Mißverständnisse und Konflikte der Vergangenheit, die auch heute noch schwer auf den Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen lasten. Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften liegt, damit sich das Bewußtsein der vergangenen Kränkungen und Sünden verwandelt in den festen Entschluß zum Aufbau einer neuen Zukunft, in der es zwischen uns nur noch respektvolle und fruchtbare Zusammenarbeit geben wird.“

Dieser Wille und diese Aufgabe betrifft auch alle Gläubigen der katholischen Kirche in Polen. Nur eine Haltung des Dialoges ermöglicht ein wirkliches Erkennen dessen, was gut und heilig im Glauben und im Leben anderer Menschen ist, und ein harmonisches Zusammen- arbeiten für unser gemeinsames Wohl. Das Jubiläum ist nach dem Wunsch von Johannes Paul II. eine ausgezeichnete Gelegenheit für „ein fruchtbares Zusammenwirken im gemeinsamen Tun all der vielen Dinge, die uns einen und die sehr viel mehr sind als diejenigen, die uns trennen“ (TMA 16).

4. Eine weiterhin drängende und schwierige Aufgabe bleibt der Dialog mit den Nicht- gläubigen. In dieser Hinsicht haben wir in Polen eine spezifische Situation. Wir spüren die Bedingungen und Erbschaften, die für Länder des ehemaligen kommunistischen Blocks charakteristisch sind. Jahrelang wurden wir einer von oben, vom Staat, verordneten Säkularisierung, Indoktrination und Atheisierung unterzogen, die eine große Verwüstung in den Herzen, Gedanken und Gewissen der Menschen hinterlassen hat, ganz zu schweigen von den Opfern an Menschenleben z. B. in der Zeit des Stalinismus. Die Folgen davon werden wir noch lange spüren. Das macht unsere Beziehung zu den Nichtgläubigen nicht leichter, von denen ein Teil aktiv an diesem Prozeß beteiligt war. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß viele Nichtgläubige sich in der Zeit des Totalitarismus für die Verteidigung der Menschenrechte eingesetzt haben, darunter auch für Religionsfreiheit, und daß lange vor den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen in unserem Land der Dialog zwischen der Kirche und dem Milieu der laizistischen Humanisten aufgenommen worden war.

Ausdruck für den Willen der Kirche, die Verpflichtungen und Herausforderungen in diesem Bereich neu aufzunehmen, wurde die Veröffentlichung von Hinweisen für die Seelsorger „Nichtgläubige in der Gemeinde“ im Sommer 1999. Darin erinnert die Kommission für den Dialog mit den Nichtgläubigen, daß jeder Mensch – unabhängig von seiner Einstellung zum Glauben – ein Kind Gottes ist. Darin besteht seine Größe und Würde.

Viele Menschen, die heute Nichtgläubige sind, waren einmal in der Kirche. Nicht nur einmal wurden sie verletzt und wandten sich entmutigt ab mit dem Gefühl von Unrecht, das ihnen von Vertretern der Kirche angetan worden war. Heute – im Jahr des Großen Jubiläums – schmerzen uns diese Fälle, in denen es Menschen der Kirche an Liebe zu den Nichtgläubigen fehlte. Das erinnert uns daran, daß die Kirche auf Erden von wirklicher, aber noch unvollkommener, Heiligkeit gekennzeichnet ist (KKK 825).

Denken wir auch daran, daß in den Augen der Nichtgläubigen das Bild der Kirche von den gläubigen Menschen geprägt wird. Die richtige Einstellung zu Nichtgläubigen muß sich auf das Evangelium stützen, sich also in Liebe, Geschwisterlichkeit und Achtung ausdrücken. Obwohl die Kirche die Haltung des Atheismus völlig ablehnt, nimmt sie dennoch im Hinblick auf die gemeinsame Sorge um die Welt, in der Gläubige und Ungläubige zusammen leben, den Dialog mit denen auf, die in ihrem Leben eine andere Wahl getroffen haben. Der Schöpfer selbst hat den Menschen in seiner großen Liebe mit Freiheit beschenkt.

Die einen wie die anderen, Gläubige und Nichtgläubige, sind berufen, gemeinsam zu handeln zum Wohl ihrer lokalen Gemeinschaften, des Vaterlandes, der Welt. Die Sorge um die Armen und Bedürftigen, um gesellschaftliche Gerechtigkeit und Frieden, Widerstand gegen gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheiten, Sorge um Versöhnung und friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen und Weltanschauungen, und auch die Achtung der Würde jeder Frau und jedes Mannes, die Sorge um die Ehe, die Familie, Jugend und Erziehung – das sind beispielhafte Bereiche, die Christen und nichtgläubige Menschen auch in Polen verbinden und einander näher bringen können und sollen.

5. Wir schreiben diese Worte in Anknüpfung an die jahrhundertealte Tradition, ein Polen der Toleranz und gegenseitiger Fürsorge zu bauen, zu der die Kirche einen großen Beitrag geleistet hat. Weil sie jedoch in der ferneren und näheren Vergangenheit schweren Prüfungen unterlegen war, bitten wir diejenigen um Vergebung, die – unter welchen Umständen auch immer – von unserer Seite Unverständnis, Ablehnung oder Leiden erfahren haben, was aus unserem Vergessen der grundlegenden Wahrheit entstanden ist, daß wir alle Kinder des einen Gottes sind. Wir tun das nicht aus politischen Gründen und nicht um irgendwelcher anderer gelegentlicher Ziele oder Nutzen, sondern aus einem tiefen Bedürfnis des Herzens, das aus evangelischen Motiven erwächst. Auf diese Weise antworten wir auf den Appell von Johannes Paul II.,

„daß die Kirche, gestärkt durch die Heiligkeit, die sie von ihrem Herrn empfängt, in diesem Jahr der Barmherzigkeit vor Gott niederkniet und von ihm Vergebung für die Sünden ihrer Kinder aus Vergangenheit und Gegenwart erfleht“ (Bulle Incarnationis Mysterium, 11).

Wir tun das in der Hoffnung, daß unsere Haltung und Gesten richtig verstanden und angenommen werden als Appell an Gott und die Menschen um Versöhnung, um Zusammenarbeit in allen Angelegenheiten, die Menschen guten Willens verbinden.

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Polnischer Wortlaut in: katolicka agencja informacyjna vom 25. August 2000.
Übersetzt aus dem Polnischen von Manfred Deselaers.

Anmerkung

1) Damit ist das bereits im Text angesprochene öffentliche Schuldbekenntnis des Primas von Polen gemeint. Polens Kardinal-Primas Josef Glemp hatte am 20. Mai 2000 in Warschau im Rahmen einer umfangreichen Predigt vor versammelter Bischofskonferenz ein öffentliches Bekenntnis abgelegt. Unter anderem sagte er: „Ich bereue das Verhalten der Geistlichen, die die Liebe zu den Menschen verloren haben and ihr privates Leben ausbauten, indem sie viel reisten oder sich bequeme Wohnungen einrichteten, anstatt ihre ganze Zeit den Armen and besonders der Jugend zu widmen. Der Verlust der Liebe zu den Menschen zeigte sich manchmal in Geringschätzung von Personen anderen Bekenntnisses oder im Tolerieren von Erscheinungen von Antisemitismus. Ich bitte um Vergebung für die, die nicht treu ihre Verpflichtung erfüllen, besonders ihre seelsorgerischen oder erzieherischen, and den Religionsunterricht vernachlässigen.“ Den grundsätzlichen Sinn eines Bekenntnisaktes der Kirche hatte Kardinal Glemp bereits in einer Predigt am 14. Mai 2000 in Krakau behandelt.