Einladung zum Gespräch
Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, wurde im Jahr 1999 zur Mitpatronin Europas erklärt.
Sie wurde 1891 geboren in einer jüdischen Familie in Breslau (heute Wrocław in Polen, vor dem II. WK Deutschland). Sie studierte vor allem Philosophie in verschiedenen deutschen Städten. Nach ihrer Studienzeit ließ sie sich in der Katholischen Kirche taufen. Sie wurde eine bekannte Dozentin. Als die Nazis an die Macht gekommen waren, trat sie in ein Kloster des Karmel-Ordens ein. 1942 wurde sie vom deutschen Staat wegen ihrer jüdischen Abstammung in Auschwitz ermordet.
Zwei Schlüsselthemen werden uns begleiten: Menschenbild und Volkszugehörigkeit. Ihr Leben lang wollte Edith Stein verstehen, was der Mensch ist. Man kann den Menschen nicht verstehen ohne seine Beziehung zu anderen Menschen noch ohne seine Beziehung zu Gott. In der Zeit des zunehmenden nazistischen Nationalismus und Rassismus, in der sie lebte, wurden dies Themen von Leben und Tod. Schließlich ist sie selbst Opfer dieser verrückten Ideologie geworden. Was ist der Mensch und was bedeutet nationale Identität – das sind auch heute aktuelle Themen.
[Vorschlag für Gruppengespräche: 1. Kurze Vorstellungsrunde. 2. Zeit zum Lesen. 3. Teilen: Welcher Gedanke hat mich am meisten betroffen? Einen Satz nennen und erläutern, warum dieser Gedanke angesprochen hat. Die anderen hören zu, nicht diskutieren. Nicht zu lang reden, weil (übersetzt werden muss und) alle eine Chance bekommen sollen.]
Texte von Edith Stein
1
Ich hoffe, die Mauer wird nie so hoch, dass wir nicht mehr mit den Händen hinübergelangen.
(Brief an den polnischen Freund Roman Ingarden, Freiburg, 31.5.1917, während des Krieges. ESGA 4 (2005), Br. 18)
2
Beifolgendes Projekt dürfte Sie vielleicht interessieren. Es erinnert mich etwas an meine alte Idee, dass man in den verschiedenen Ländern Institute für »Kulturaustausch« haben sollte zur Anbahnung eines wechselseitigen Verständnisses. Es sieht zwar so aus, als käme es einem hier in 1. Linie auf das Wirtschaftliche an. Aber es liegt doch an den Leuten, die mitarbeiten werden, wie sie die Sache gestalten. Das sollten nun freilich meiner Meinung nach nicht bloß ausgezeichnete deutsche Gelehrte sein – die ja schon früher immer da waren, ohne eine ausreichende Kenntnis des Auslandes vermitteln zu können, sondern auch Vertreter der betreffenden Länder. Für polnische Geschichte und Literatur z. B. möchte ich durchaus einen Polen haben. […] Und es kommt ja in diesem Fall nicht bloß darauf an, wie die Dinge gewesen sind, sondern fast noch mehr, wie sie von der andern Seite aussehen. Gucken Sie sich doch mal um, ob es geeignete Leute bei Ihnen gibt. Vielleicht könnte man etwas in der Richtung tun.
(Freiburg, 2. 06. 1918, Brief an Roman Ingarden. ESGA 4 (2005), Br. 35)
3
Es hat mir immer sehr fern gelegen, zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.
(Brief an Sr. Adelgundis Jaegerschmid OSB vom 23.3.1938. ESGA 3 (2006), Br. 542)
4
Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas Neues. In die Synagogen, und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertraulichen Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.
(Aus dem Leben einer jüdischen Familie, ESGA 1 (2010), 331f)
5
Im Schöpfungsbericht stehen die lapidaren Worte: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Daraus ergibt sich die Forderung des Herrn: seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. „Bild Gottes sein – vollkommen sein“ – das ist es in kürzester Form ausgesprochen, was der Mensch sein soll. Aber worin besteht das Gottesbild, worin besteht die Vollkommenheit? […] Das Bild des vollkommenen Menschen ist uns gegeben im Beispiel und in der Lehre Christi. […] Auf die Frage des Jünglings: „Was soll ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ antwortet der Herr: „Wenn du zum Leben eingehen willst, halte die Gebote!“ Und als ihn die Pharisäer nach dem größten Gebot fragen, lautet die Antwort: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben aus ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit Deinem ganzen Geist … daran hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ […] Das alles zusammengenommen ergibt: der wahre Christ ist der Mensch, der die Gebote hält, aber in der Weise, dass sich die Befolgung aller Gebote aus der vollkommenen Erfüllung des größten, d.h. aus der vollkommenen Gottesliebe ergibt. […] Denn wir können Gott nur lieben, weil er uns zuvor geliebt hat.
(Bildung, ESGA 16 (2004), 77f)
6
So will ich hintreten zum Altar Gottes. Hier handelt es sich nicht um mich und meine winzig kleinen Angelegenheiten, sondern um das große Versöhnungsopfer. Ich darf daran teilnehmen, mich reinwaschen und froh machen lassen und mich mit allem meinem Tun und Leiden bei der Opferung mit auf den Altar legen. Und wenn der Herr dann zu mir kommt in der Hl. Kommunion, dann darf ich ihn fragen: „Was begehrst Du, Herr, von mir?“ Und was ich nach stiller Zwiesprache als nächste Aufgabe vor mir sehe, daran werde ich gehen.
(Frau, ESGA 13 (2010), 43f)
7
Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe. Aber es ist eine andere als die natürliche Menschenliebe. Die natürliche Liebe gilt diesem oder jenem, der uns durch Bande des Blutes verbunden oder durch Verwandtschaft des Charakters oder gemeinsame Interessen nahesteht. Die anderen sind „Fremde“, die einen „nichts angehen“, einem sogar durch ihr Wesen widerwärtig sind, so dass man sie sich möglichst weit vom Leibe hält.
Für die Christen gibt es keinen „fremden Menschen“. Der ist jeweils der „Nächste“, den wir vor uns haben und der unser am meisten bedarf, gleichgültig, ob er verwandt ist oder nicht, ob wir ihn „mögen“ oder nicht, ob er der Hilfe „moralisch würdig“ ist oder nicht. Die Liebe Christi kennt keine Grenzen, sie hört nimmer auf, sie schaudert nicht zurück vor Hässlichkeit und Schmutz. Er ist um der Sünder willen gekommen und nicht um der Gerechten willen. Und wenn die Liebe Christi in uns lebt, dann machen wir es wie er und gehen den verlorenen Schafen nach.
(Geistliche Texte. ESGA 19 (2009), 8)
8
Eine der letzten Vorlesungen, die Edith Stein im Jahr 1933 gehalten hat, betraf Volk und Volkszugehörigkeit. Einige Gedanken daraus:
Ein Volk ist eine Gemeinschaft von Menschen, größer als eine Familie, aber kleiner als die Menschheit. Ein Volk hat ein Leben, das das Leben der einzelnen Mitglieder überschreitet: es war vor der Geburt des Einzelnen da und wird nach seinem Tod sein. Doch auch ein Volk entsteht und kann vergehen. Wir kennen Völker, die entstanden sind aus anderen Völkern, die untergegangen sind. Ein Mensch, der aus einem anderen Volk gekommen ist und nun am Leben des Volkes teilnimmt und es mitgestaltet, wird Mitglied der Volksgemeinschaft.
Das Volk lebt durch seine Mitglieder, die seine Geschichte und seinen Charakter gestalten. Alle Volksmitglieder haben eine Verantwortung für das Ganze des Volkes. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, können sie zum Wohl der Volksgemeinschaft beitragen, z.B. durch gute Erziehung ihrer Kinder oder durch verantwortliches Handeln im Wirtschaftsprozess. Es gibt jedoch auch die, die dem Wohl der Gemeinschaft schaden, wie z.B. Verbrecher, die sich dadurch aus der Gemeinschaft ausschließen. Es muss Menschen geben, die bewusst die Verantwortung für das Ganze des Volkes übernehmen, die die Schätze ihres Volkes kennen und aus ihnen leben und zugleich über die Grenzen des Volkes hinaus sehen. Damit sie in ihrem Gewissen richtig entscheiden können, müssen sie verstehen, dass das eigene Volk eine Bestimmung im Plan Gottes hat, dem Schöpfer und Vater aller Menschen, und auf ein Ziel ausgerichtet ist, das letztlich das Ziel aller Völker ist.
Es kann sein, dass sich jemand im Gewissen von Gott berufen weiß, sein Volk zu verlassen und einem anderen Volk zu dienen. Und es gibt ein Leben des Gebetes in der Abgeschiedenheit, das für die Menschheit fruchtbar ist.
(Der Aufbau der menschlichen Person. ESGA 14 (2004), 144-158. Zusammengefasst von M. Deselaers)
9
Im März 1939, wenige Monate vor Beginn des II. Weltkrieges, schrieb ES im Kloster in Echt an die Priorin:
Liebe Mutter, bitte, erlauben Euer Ehrwürden mir, mich dem Herzen Jesu als Sühnopfer für den wahren Frieden anzubieten: dass die Herrschaft des Antichrist, wenn möglich, ohne einen neuen Weltkrieg zusammenbricht und eine neue Ordnung aufgerichtet werden kann. Ich möchte es heute noch, weil es die 12. Stunde ist. Ich weiß, dass ich ein Nichts bin, aber Jesus will es, und Er wird gewiss in diesen Tagen noch viele andere dazu rufen.
(Brief an Mutter Ottilia Thannisch OCD vom 26. März 1939. ESGA 3 (2006), Br. 608)
10
Die Welt, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, ist ja natürlicherweise der feste Grund, der uns trägt, das Haus, in dem wir uns heimisch fühlen, das uns nährt und mit allem möglichen versorgt, Quelle unserer Freuden und Genüsse. Wird sie uns genommen oder werden wir genötigt, uns aus ihr zurückzuziehen, so ist es wahrlich, als wäre uns der Boden unter den Füssen weggezogen und als würde es Nacht rings um uns her; als müssten wir selbst versinken und vergehen. Aber dem ist nicht so. In der Tat werden wir auf einen sicheren Weg gestellt, allerdings auf einen dunklen Weg, einen in Nacht gehüllten: den Weg des Glaubens.
(Kreuzeswissenschaft, ESGA 18 (2007), 38)
11
Wir wissen […], dass ein Zeitpunkt kommt, in dem die Seele […] völlig in Dunkelheit und Leere versetzt wird. Es bleibt ihr gar nichts anderes mehr, woran sie sich halten könnte, als der Glaube. Der Glaube stellt ihr Christus vor Augen: den Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen. In seiner Armut und Verlassenheit findet sie die ihre wieder.
(Kreuzeswissenschaft, ESGA 18 (2007), 100)
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ESGA = Edith Stein Gesamtausgabe, Herder, Freiburg Basel Wien
Die Texte wurden vorbereitet für eine internationale Begegnung zum 77. Todestag von Edith Stein, der Hl. Teresia Benedicta vom Kreuz OCD, am 9. August 2019 in Oświęcim.