Michael A. Signer
Amerikanische jüdische Theologie nach Auschwitz
Einführung: Theologie nach Auschwitz
Am Anfang soll eine kurze Überlegung zur Natur theologischer Schriften des Judentums und zur Einzigartigkeit des amerikanischen jüdischen Lebens stehen.
Das Judentum ist angesehen für sein geistiges Leben. Eine der bedeutendsten Zusammenfassungen frühen rabbinischen Denkens besagt, dass das Studium der Tora allen anderen Geboten ebenbürtig ist. Jedoch zielt das Studium der Tora auf die Interpretation von Texten und deren Anwendung darauf, ein weltliches Leben zu schaffen, das die Wünsche Gottes reflektiert und die göttliche Liebe für das jüdische Volk. Während traditionelle jüdische Autoren sich mit philosophischen Spekulationen und systematischen Darstellungen mystischer Doktrinen über das Seelenleben Gottes befassten, so schrieben sie nicht in theologischen literarischen Genres, die von christlichen Gelehrten vor dem 19. oder 20. Jahrhundert anerkannt worden wären. Die Schriften westlicher europäischer Autoren wie Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig könnten als theologische Schriften eingeordnet werden, jedoch sind ihre Beiträge ziemlich einzigartig – und aus diesem Grund stehen die Juden, die nach der Schoah theologische Schriften verfassen, in ihrer Schuld.
Amerika ist für Europa fast seit Beginn seiner Existenz ein Ort der Zuflucht gewesen. Obwohl viele der Einwanderer ihre europäischen Vorurteile mitbrachten und beibehielten, stellten die Prinzipien der Aufklärung, die auch die Grundlage für die amerikanische Verfassungsdemokratie legten, einen Bruch der schädlichen Elemente in diesen Vorurteilen dar, damit sie nicht anderen schadeten. Diese Spannung zwischen traditionellen Abneigungen und verfassungsmäßigem Schutz machte die Vereinigten Staaten von Amerika zu einer einzigartigen Erfahrung für das jüdische Volk. Das Fehlen einer staatlich geförderten Kirche in Amerika bedeutete, dass Antisemitismus und anti-jüdische Haltungen nie Teil des Geistes des amerikanischen Rechtssystems wurden.
Es ist wichtig sich ins Gedächtnis zu rufen, dass die Schoah nicht in der Heimat der jüdischen Gemeinde in Amerika stattfand. Jedoch wurden die USA nach der Schoah zu einem der Haupteinwanderungsländer für viele der Überlebenden. Die Einwanderung jüdischer Intellektueller aus Deutschland vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges schuf einen Kern von Denkern, die fähig zu ernsthafter theologischer Reflektion waren.
Wenn man jüdisches Denken über Gott und die Menschheit vor der Schoah betrachtet, so spiegelt die Liturgie einige der wichtigsten Themen der Bibel und der rabbinischen Literatur wieder:
Zum einen wurde zwischen Gott und dem Volk Israel ein Bund geschlossen, der Liebe und Verpflichtung verbindet. Sogar trotz der Zerstörung des Tempels in Jerusalem versicherten die Rabbiner Generationen von Juden, dass Gott ihnen in den Ländern ihres Exils treu bliebe. Die Antwort auf diese göttliche Treue lautete, dass das jüdische Volk ein Leben führen sollte, das sich aus dem Studium der Tora, der Einhaltung von Gottes Geboten sowie Taten handelnder Nächstenliebe füreinander und den Rest der Menschheit, der ebenso aus Gottes Kindern bestand, zusammensetzte. Alle diese Konzepte waren miteinander verbunden: durch das Studium der Tora entdeckten die Juden den facettenreichen Charakter der Gebote. Diese Gebote bildeten einen sozialen Rahmen für Taten handelnder Nächstenliebe, welche wiederum zu einer festen gesellschaftlichen Struktur führten. Bis zum 18. Jahrhundert wurde den Juden Autonomie gewährt, damit sie nach ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen leben konnten. Nach der Aufklärung passten die Juden in Westeuropa sich an die neuen Nationalstaaten, die ihnen Bürgerrechte anboten an. Jedoch behielten sie ihre eigenen Rituale bei und viele Juden legten großen Wert auf die Ausübung aktiver Nächstenliebe.
Zweitens lag dieser dreigliedrigen Weltsicht der feste Glaube zugrunde, dass Gott bei dem Volk Israels bleiben und schließlich dessen Erlösung herbeiführen würde. Diese Erzählung von der Liebe Gottes wurde jedes Jahr während des Pessah-Festes wieder zum Leben erweckt, wenn die Juden die rabbinische Nacherzählung des Auszugs aus Ägypten vorlasen. Die Liturgie der Haggadah betonte, dass Gott Israel unterstützt und vor jedem Verfolger gerettet hatte.
Drittens entsprang dem Glauben, dass Gott sie schließlich ins Land Israel zurückführen werde, die Hoffnung und der Optimismus, der die jüdische Gemeinschaft trug. Diese Hoffnung nährte ein kollektives Verantwortungsbewusstsein für die jüdischen Gemeinden in der Diaspora und die Unterstützung winziger Gemeinden, die in Israel gegründet worden waren. Im 19. Jahrhundert schufen die Juden in Ost- und Westeuropa eine neue Dimension für ihre Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion. Sich an den weltlichen Nationalbewegungen ihrer Zeit orientierend entschieden viele junge Juden, dass sie nicht länger darauf warten könnten, dass der göttliche Wille die Geschichte lenken würde. Die Rückkehr ins Land Israel würde eine kulturelle und politische Wiedergeburt für ihr Volk sein – doch die Initiative und Verantwortung dafür lag bei ihnen selbst und nicht bei Gott. Es gab viele Debatten über die Ernsthaftigkeit und Möglichkeit dieser menschlichen Initiative von allen Seiten des jüdischen Volkes. Viele Juden in Westeuropa und Amerika lehnten die Idee einer Rückkehr nach Israel ab. Sie waren davon überzeugt, dass die Hoffnung der Juden auf eine eigene Nation dem Bürgerrechtsstatus schaden würde, der in fast hundert Jahren so hart erkämpft worden war. In Russland und Osteuropa gab es viele Juden, die glaubten, dass die Rückkehr in einen weltlichen Staat im Land Israel der jüdischen Religion in der Form, wie sie sie so viele Generation ausgeübt hatten, schaden würde. Diese Debatten gewannen nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Form und Realität, als viele unterdrückte Völker – das polnische Volk eingeschlossen – ihre eigenen nationalen Hoffnungen verwirklichen konnten.
Diese drei Punkte – Leben im Geist der Gebote, die Geschichte von Gottes Liebe für Israel und die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion – wurden alle von der Schoah herausgefordert.Hitlers Politik des Völkermordes verneinte die Existenz Gottes – aber er behielt dem Volk Israel und dessen Gott einen besonderen Hass vor. Der Nazismus glaubte in seinem Kern, dass die Juden Parasiten wären, die die Menschheit infizierten. Die systematische Separation und Verfolgung der Juden in Deutschland von 1933-1939, gefolgt von der Auslöschung der jüdischen Gemeinden im Osten von 1939-1945 (einschließlich der Endlösung) war auf der Annahme begründet, dass die Welt geläutert und gereinigt sein würde. Daher kam der Ausdruck Judenrein – eine Läuterung und Reinigung einer geographischen Region von den Juden.
Die Schoah und ihr Netz von Zwangsarbeitslagern und Todeslagern warfen ein schwarzes Tuch über die Leben, Handlungen und Hoffnungen der jüdischen Gemeinde. Sie waren exiliert inmitten ihres Exils – aus ihren Dörfern und Städten umgesiedelt in Ghettos, wo sie systematisch ausgehungert wurden. Sie wurden in fremde Länder transportiert, in Todeslager, wo sie als Zwangsarbeiter schufteten (wo sie ihr Schicksal mit nicht-jüdischen Opfern teilten). In diesen Lagern waren sie der Grausamkeit der SS oder anderer Gefangener ausgesetzt, die die Aufsicht über ihre täglichen Aufgaben hatten. Sie entdeckten ein Leben, das bar der Möglichkeit war, die Gebote zu befolgen und bar von Menschen, die Nächstenliebe übten. Sie erwarteten täglich das Urteil, ob sie leben oder sterben würden – jeden Morgen wurden sie zum Appell befohlen und durchlitten den Prozess der Selektion, dessen Ergebnis von ihrem Aussehen und ihrer Gesundheit abhing. Öfter jedoch wurden się ihrer letzten Besitztümer beraubt und zum Duschen geschickt (die Duschen waren in Wahrheit Gaskammern) wo sie einen qualvollen Tod starben: Frauen, Kinder und alte Männer. Besonders im Sommer 1944 quoll aus den Krematorien der Rauch verbrennender menschlicher Körper, deren Asche in Wasserlöcher gekippt wurde. Eine ironische Umkehrung der Opfer im Heiligtum des alten Tempels in Jerusalem. Sogar die Würde eines ordentlichen Begräbnisses mit trauernden Angehörigen war diesen Menschen verwehrt.
Diese Beschreibung soll zeigen, dass die Schoah für die jüdische Theologie kein abstraktes Konzept gewesen ist. Hitlers Plan zur Vernichtung des jüdischen Volkes und die Komplizenschaft der Menschen, die an der Ermordung von Juden beteiligt waren, war nicht lediglich ein Objekt der Spekulation. Es war ein grundsätzlicher Angriff auf die Kernauffassungen des Judentums, die die Juden fast zweitausend Jahre lang gefördert hatten. Jegliche Theologie oder theologisches Denken nach Auschwitz musste sich mit der Realität auseinandersetzen, dass die Existenz von Auschwitz und anderen Todeslagern – die Endlösung – eine Negation nicht nur des jüdischen Lebens ist, sondern auch ein Angriff auf eine Lebensweise in der Gegenwart Gottes, die die Tora, die Gebote und Taten handelnder Nächstenliebe einschloss.
Wenn wir über diese Negationen nachdenken, betrachten wir drei Fragen:
Wo war Gott in Auschwitz?
Falls der Bund zwischen dem jüdischen Volk und seinem Gott für Schutz und gegenseitige Sorge stand, wo war der Gott, zu dem die Juden beteten? Wo blieb die göttliche Intervention während der Transporte zu den Todeslagern? Wo war Gott, als Kinder in ihren Tod geführt wurden? Der biblische Gott hatte erklärt, dass Gott nicht den Tod des Sünders wünscht sondern nur, dass der Sünder zu Gott zurückkehrt. Betrachtete Gott die Juden, die durch die Hände der Einsatzgruppen und auf Anweisung von Dr. Mengele starben, als Sünder? Waren die Nazis Instrumente des göttlichen Zorns ebenso wie Nebukadnezar als Geißel des göttlichen Zorns das jüdische Volk strafte?
Wo war der Mensch in Auschwitz?
Wenn die Menschen nach dem Bild Gottes geformt waren, wie konnte es dann möglich sein, Menschen so zu behandeln, wie die Juden während der Schoah behandelt wurden? Wie konnten die Menschen ihre Augen von den Grausamkeiten abwenden, die sie jeden Tag in Auschwitz verübten, und des Abends zu ihren Familien heimkehren und mit ihren Kindern spielen? Wie war es möglich, im warmen gemütlichen Zuhause in der Nähe der Lager zu schlafen, während Tausende von Menschen verhungerten, keine Möglichkeit hatten, sich zu waschen oder selbst auf die Toilette zu gehen? Wenn die Lehren des Christentums (die Geburtsreligion der Täter) das Gebot lehrte „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe“, wo war die Möglichkeit zu lieben inmitten von Auschwitz?
Was ist zu den allmählichen Veränderungen zu sagen, die bei den Juden, die in besetzten Ländern unter der Naziherrschaft lebten, auftraten?
Warum widerstanden sie ihren Wärtern nicht und weigerten sich, zu arbeiten? Warum leisteten sie nicht physischen und bewaffneten Widerstand? Wie war es möglich, dass sie sich wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen?
Und im Kontext der Konzentrationslager: Wie konnte es geschehen, dass einige von ihnen zu ‚Kapos’ – zu Aufpassern – wurden, die ihre Mitjuden schlugen?
Wie entbehrten manche schließlich jeglichen menschlichen Gefühls und Seele, dass sie in der langen Nacht der Lager zu unmenschlichen Wesen, zu Muselmännern wurden?
Wie können Juden nach Auschwitz über ihre Tradition sprechen?
Bedeutet die Schoah einen Bruch in der jüdischen Tradition? Die Juden waren Gottes einziges oder erwähltes Volk. Was bedeutet es nach Auschwitz, von Gott erwählt zu sein? Über Generationen dachten die Juden, dass ihr Auserwähltsein bedeutete, dass Gott sie beschützen würde. Bedeutete es nach Auschwitz, dass sie zum Sterben auserwählt seien?
Bedeutete Auschwitz, dass die Juden, die in ihren Tod marschierten, im Moment ihres Todes auf Erlösung warteten und nichts passierte? Der rabbinische Judaismus enthielt Hoffnung, weil er die Auferstehung der Toten versprach, das Gericht der Völker und die Rückkehr des jüdischen Volkes in sein Land unter dem Banner des Messias. Liberale jüdische Theologie des 19. Jahrhunderts interpretierte die klassischen rabbinischen Doktrinen des Jüngsten Gerichtes (Eschatologie) neu als das Anbrechen einer messianischen Ära, in der die ganze Menschheit harmonisch zusammenleben würde. Diese Rabbis und ihre Gemeinden dachten, dass sie die ersten Anzeichen des Jüngsten Gerichtes in der zunehmenden Tolerierung der Juden in der modernen Gesellschaft sähen. Ihr Optimismus wurde von den Ideen vom Fortschritt und von der Evolution der Menschheit gestützt, die unter europäischen und amerikanischen weltlichen und christlichen Intellektuellen so weit verbreitet waren.
Als die Juden in Amerika anfingen, das Ausmaß der Zerstörung der europäischen Gemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg zu begreifen, wurde die Struktur ihrer theologischen und religiösen Weltsicht ernstlich in Frage gestellt. Sie waren dem Leben in einer säkularen Gesellschaft, welche ihnen bürgerliche und religiöse Freiheiten gewährt hatte, zu sehr verhaftet, um sich wieder in die Ghettos zurückzuziehen. Allerdings konnten sie nicht weiterhin den unversehrten Glauben haben, dass alle Menschen dasselbe Ziel gegenseitigen Schutzes und Nächstenliebe verfolgten. Die Juden in Amerika hatten die Lebensweise ihrer Vorfahren hinter sich gelassen in dem Glauben, dass sie in einem besseren Land lebten. Während des 19. Jahrhunderts und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wussten sie, dass ihre alte Welt immer noch existierte. Sie konnten sich selbst als ‚fortschrittlich’ betrachten. Als ihnen jedoch bewusst wurde, dass Tausende ihrer Angehörigen ermordet worden waren und als sie die Erzählungen der Flüchtlinge hörten, der Überlebenden der Lager und von den Nachkriegs-Pogromen in Russland, Polen und Ungarn, standen sie plötzlich alleine da, ohne Vorfahren, oder mit in die Armut getriebenen europäischen Juden. Die Gründung des Staates Israel bot wenig Anleitung dafür, wie sie sich gegenüber der jüdischen Tradition verhalten sollten. Er entstand aus politischen Überlegungen nach dem Zweiten Weltkrieg und entwickelte sich nach dem Muster eines Nationalstaates – durch Kriege und Waffen. Diese Gründung und Entwicklung war keine Erfüllung biblischer Prophezeiungen oder der vielfältigen Erzählungen vom Jüngsten Gericht im Talmud-Traktat Sanhedrin. Nicht die Stimme Gottes wurde gehört, sondern nur das Geräusch von Waffen, politischen Reden und internationaler Diplomatie. Die liturgische Formulierung des Ober-Rabbinates in Israel, das der neue Staat „der Beginn des Erblühens unserer Erlösung“ sei, zeigt einen hermeneutischen Versuch, den modernen Staat mit den seit Alters her überlieferten Träumen zu verbinden. Das Selbstbewusstsein bezüglich des Platzes des Staates Israel in der jüdischen Theologie hat unter den jüdischen Theologen hitzige Diskussionen provoziert und provoziert sie immer noch.
Wir möchten uns jetzt mit einigen Antwortversuchen auf die theologischen Herausforderungen, die der Holocaust darstellt, auseinandersetzen. Unsere Zusammenfassung wird lediglich eine geistige Karte des Gebiets darstellen, die von jüdischen Denkern nach der Zerstörung der europäischen Gemeinden gezeichnet wurde. Es sollen drei verschiedene Arten theologischer Herangehensweisen diskutiert werden. Als erstes sollen Gotteslehren untersucht werden, die die Schoah in einem Kontinuum rabbinischer oder biblischer Bilder und Gedanken sehen: der Holocaust als Kontinuität. An zweiter Stelle stehen die Lehren, die den Holocaust als einen Bruch mit der Vergangenheit oder als eine Unterbrechung beschreiben. Für diese Theologen gibt es keine Möglichkeit, eine Kontinuität jüdischer Theologie vor und nach Auschwitz aufrechtzuerhalten. Im dritten Teil sollen die Versuche der jüdischen Theologen untersucht werden, die die Diskontinuität oder Unterbrechung, die der Holocaust verursacht hat, anerkennen, die aber ebenso eine neue Herangehensweise an die Theologie entwickeln. Für diese Theologen ist Auschwitz ein Punkt der Neuorientierung, ein Wendepunkt in der Geschichte philosophischen und theologischen Denkens über den Judaismus. Sie wollen einen neuen Zweck im jüdischen Leben in der Welt nach der Schoah finden. Der Überblick soll mit einigen Anmerkungen zur Rolle der Schoah in der öffentlichen Darstellung des Judaismus in Amerika abgeschlossen werden.
Der Holocaust als Kontinuität
Im Denken einiger jüdischer Theologen ist der Holocaust keine einzigartige Tragödie, sondern lediglich eine weitere dem jüdischen Volk von Gott gesandte Tragödie. Die Tragödie bricht herein, weil das jüdische Volk sündhaft ist und Gott als sein liebender Vater es bestrafen muss, damit es bereut und sich ihm wieder in Liebe zuwendet. Der Bund wird erhalten und Gott möchte das jüdische Volk begünstigen. Deshalb folgt eine Strafe der nächsten, damit es sich nur auf Ihn verlässt und auf keinen irdischen Herrscher.
Als erstes wurde diese Art Theologie von Rabbi Yoel Teitelbaum, dem Oberhaupt der hassidischen Satmar-Dynastie präsentiert. Aus seiner Perspektive wurde der Tod der osteuropäischen Juden als göttliche Strafe für die Sünden der westeuropäischen Juden, die sich von der Religion ihrer Vorfahren abgewandt hatten, erklärt. Teitelbaum betrachtete jedwede Vermischung rabbinischen Judaismus’ mit westeuropäischer Kultur als Verletzung des Bundes mit Gott: Philosophie, Chemie oder Jura zu studieren und gleichzeitig nach den Geboten zu leben, sei unmöglich. Es sei nur ein Schritt zur Anpassung an die Gesellschaft und verstoße gegen das Ideal, dass die Juden Gottes einziges Volk seien. Für Teitelbaum bedeutet diese Einzigartigkeit die Abschottung von der Welt der anderen Völker. Gott richtete seinen Zorn gegen die Juden in Osteuropa, weil diese ein sündiges Volk waren.
Wir werden sehen, dass Teitelbaums Theologie ernste Kritik hervorgerufen hat. Viele chassidischen Rabbis hingen nicht einer solch strengen Sichtweise an. Jedoch stellt diese Sichtweise einen Versuch dar, die Schoah als Teil des Schicksals des jüdischen Volkes in seinem Bund mit dem Gott seiner Vorfahren zu betrachten.
Ein weiterer Versuch, der jüdischen Lehre den Rahmen historischer Kontinuität zu geben, stammt von Rabbi Ignaz Maybaum, einem liberalen Rabbi, der den Krieg überlebte und in England sein Amt ausübte. Er vertrat die Auffassung, dass der Holocaust ein Moment göttlicher Offenbarung für die Welt gewesen sei. Die Wahl fiel für einen einzigen Zweck auf das Volk Israel: um die Völker der Welt zu Gott zu rufen. Maybaum stimmt jedoch nicht mit Teitelbaums Auffassung überein, dass Auschwitz eine göttliche Strafe für das jüdische Volk gewesen sei. Er behauptet, dass die Juden in Auschwitz Jesus von Nazareth am Kreuz vergleichbar gewesen seien. Sie waren unschuldige Opfer, deren von Gott bestimmtes Opfer die Errettung der Menschheit möglich machte. In seinen Worten: „The Golgotha of modern mankind is Auschwitz. The cross is replaced by the gas chambers“1.
In Maybaums Lehre ist es Churban – die Zerstörung – die das Ende einer Ära und den Beginn einer neuen anzeigt. In der Geschichte der Juden ermöglichte die Zerstörung des ersten Tempels, eine differenziertere und universellere Religion zu entwickeln, die von den späteren Propheten gelehrt wurde. Die Zerstörung des zweiten Tempels förderte die universale Religion der Rabbis, die es möglich machte, dass Juden in der ganzen Welt in enger Beziehung zu Gott leben konnten, durch die Tora, die Gebote und die Nächstenliebe.
Die letzte Zerstörung war die Schoah, die die Welt aus den mittelalterlichen Strukturen des Nationalstaates in die weltumspannende Verwirklichung einer gemeinsamen Menschheit entließ.
Maybaum behauptete, dass Gott Adolf Hitler und das Nazi-Regime als Instrumente genutzt hatte, um eine sündige Welt zu reinigen, zu läutern und zu strafen. Sechs Millionen Juden waren unschuldig ermordet worden. Wichtiger allerdings war für Maybaum, dass zwei Drittel des jüdischen Volkes überlebt hatten. In diesen Überlebenden sah er den ‚rettenden Rest’, den der Prophet Jesaja beschrieben hatte: “Nur für eine kleine Weile hab ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen hole ich dich heim. Einen Augenblick nur verbarg ich vor dir mein Gesicht in aufwallendem Zorn, aber mit ewiger Huld habe ich Erbarmen mit dir, spricht dein Erlöser, der Herr“ (Jesaja 54, 7-8).
Wir haben gesehen, wie Rabbi Teitelbaum und Rabbi Maybaum entgegengesetzte Schlüsse aus den gleichen biblischen Belegen zogen. An beiden Herangehensweisen an das Problem der jüdischen Lehre nach Auschwitz kann man profunde Kritik üben. Beide gründen ihre Herangehensweise auf der sicheren Annahme, dass Gottes Bund mit Israel ewig bestehen wird und dass es eine Kontinuität in der Beziehung zwischen Gott und Israel vor und nach dem Holocaust gibt. Ihre Ansichten wurden jedoch von der Mehrheit der jüdischen Theologen, die sich mit der Bedeutung jüdischen Lebens im Schatten von Auschwitz auseinandersetzen, nicht akzeptiert.
Der Holocaust als einschneidender Bruch
1951 veröffentlichte Martin Buber, einer der wichtigsten jüdischen Denker der Vorkriegszeit, einen Essay mit dem Titel Der Dialog zwischen Himmel und Erde. In diesem Essay zeichnete er ein Bild von Gott, mit dem er andeutete, dass das Verhältnis zwischen den Juden und Gott nach Auschwitz einen tiefgreifenden Bruch erlitten hatte.
In dieser Zeit wird gefragt und gefragt: Wie ist nach Auschwitz ein jüdisches Leben möglich? Ich möchte diese Frage richtiger fassen: Wie ist in einer Zeit, in der es Auschwitz gibt, noch ein Leben mit Gott möglich? Die Unheimlichkeit ist zu grausam, die Verborgenheit zu tief geworden. ‚Glauben’ kann man an den Gott noch, der zugelassen hat, was geschehen ist, aber kann man noch zu Ihm sprechen? Kann man ihn noch anrufen? Wagen wir es, den Überlebenden von Auschwitz, dem Hiob der Gaskammern, zu empfehlen: „Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn in Weltzeit währt seine Huld!“?2
Diesen Textabschnitt fasste Buber in dem Gedanken zusammen, dass Gott ‚verborgen’ war oder dass Er sein Gesicht verborgen hatte. In Abwesenheit Gottes war ein Dialog oder die Ich-Du-Beziehung nicht möglich. Das Konzept, dass Gott ‚sein Gesicht verbarg’ gründete in Bildern aus der Bibel und der rabbinischen Literatur. Es wird verwendet, um das Fehlen göttlicher Intervention angesichts der Todeslager und der Endlösung zu beschreiben.
Aber war dieses ‚verborgene Gesicht Gottes’ dem Abschnitt aus Jesaja entnommen, den Maybaum zitiert hatte? Verbarg sich Gott für einen Moment, um dann bereit zu sein, eine tiefere und vielfältigere Beziehung mit dem jüdischen Volk einzugehen? Zwei Theologen, Arthur Cohen und Richard Rubenstein, interpretieren das Verborgensein Gottes während des Holocausts als lediglich den Beginn eines tieferen Bruchs mit traditionellen jüdischen Gottesvorstellungen.
Arthur Cohens Buch The Tremendum ist eine Betrachtung über das Leben in und nach den Todeslagern. Er beginnt seine Argumentation damit, dass ‚Denken’ und ‚Todeslager’ unvereinbar seien – sie können nicht zusammengebracht werden. Die Todeslager löschen die Möglichkeit des Denkens aus. Diese Behauptung wurde durch die Memoiren sowohl Jean Amerys als auch Charlotte Delbos bestätigt. Beide Verfasserinnen vertreten die Auffassung, dass unter den Bedingungen ständigen Hungerns, endloser Arbeit und anhaltender Grausamkeit die Fähigkeit, abstrakt zu denken, verloren geht, ebenso wie die Fähigkeit, sich zu erinnern. Wie kann man auf der Grundlage solcher Aussagen über die Todeslager nachdenken? Cohen schlägt eine von Ehrfurcht und Demut geprägte Herangehensweise vor: uns fehlen schlichtweg die Worte. Die Theologie – was Sprechen (logos) über Gott (theos) bedeutet, muss eine neue Ausdrucksform finden.
Deshalb beschreibt Cohen die Todeslager und die dort gemachten Erfahrungen als ‚tremendum’, basierend auf Rudolph Ottos Auffassung von Gott als mysterium tremendum. Cohen benutzt allerdings die verkürzte Form – nur tremendum – weil die Todeslager die Umkehrung des Lebens und die Feier des Todes sind. Diese Umkehrung ist so bedeutend, dass Cohen das Nachdenken über dieses Erlebnis nicht als ‚überschreitend’ (transcending) bezeichnet, sondern ein neues, künstliches Wort schafft – ‚unterschreitend’ (subcending) – darunter gehend.
Das Tremendum stellt keine Kontinuität dar, sondern einen einschneidenden Bruch in der Tradition. Weil die bestehende Sprache das Tremendum nicht erklären kann, muss nach dem Bruch eine neue Sprache zur Beschreibung Gottes entwickelt werden.
Nach Cohen müssen die Juden der Tatsache ins Gesicht sehen, dass das fundamental Böse Teil der Welt ist. Nach dem Traditionsbruch muss Gott ein Universum tolerieren, in dem weder das Böse noch Gottes Gegenwart als irreal angesehen werden. Sogar dämonische Elemente müssen als bedeutungs- und wertvoll betrachtet werden. Der Bruch, der während des Tremendums stattfand, bedeutet, dass der Theologe die Realität Gottes nicht länger von Gottes Beteiligung an der Schöpfung trennen kann. Die bequeme Allianz zwischen liberalem jüdischen Denken und Optimismus ist vom Tremendum zerstört worden.
Wenn der Bruch mit der Vergangenheit erst einmal anerkannt ist, ist das jüdische Volk frei, das Tremendum zu ‚untergehen’ (to subscend) und Gott sowie die göttliche Beziehung zur Welt neu zu definieren. Gott muss sich mit einem Universum abfinden, dessen Geschichte vom Bösen gezeichnet ist. Die Geschichte muss eine dämonische Struktur und untilgbare Taten enthalten. Die Beziehung Gottes zu den Menschen erlaubt eine entscheidende Freiheit von den Zwängen der Güte. Und genau der Missbrauch dieser menschlichen Freiheit hat die Schoah möglich gemacht. Cohen beschreibt das Tremendum als die schamlose Nutzung menschlicher Freiheit. Er beginnt damit, eine Sprache für eine erneuerte Theologie zu finden, die in der jüdischen mystischen Tradition steht. Die kabbalistische Tradition kann ein Vokabular zur Beschreibung des Seelenlebens Gottes zur Verfügung stellen, das sowohl das Gute als auch das Böse in einer angespannten Balance beinhaltet. Beide haben ein Eigenleben. Gut und Böse sind dynamisch und immerfort sich verändernd im Wortschatz der kabbalistischen Tradition.
Cohens eingehende Überlegungen zum Tremendum behandeln das Thema auf eine neue Art. Er hat nie vollständig eine konstruktive Theologie für das jüdische Leben entwickelt, aber seine Gedanken machten es anderen möglich, sich in neue Richtungen zu bewegen. Der Bruch mit einem traditionellen Verständnis von Gott und der Menschheit im Tremendum ist keine Gelegenheit, sich vom Judaismus abzuwenden, sondern die Möglichkeit, neue Interpretationen in einer größeren Bandbreite zu verwirklichen.
Richard Rubenstein ist Rabbi, Philosoph und ein profunder Student der Psychologie. Seine Ansichten den Holocaust betreffend waren kontrovers und provokativ. Über die Jahre hat er eine Kehrtwendung vollführt und damit gezeigt, dass er fähig ist, seine Standpunkte zu überdenken.
Ein Treffen mit Heinrich Gruber, einem lutherischen Pastor, der der bekennenden Kirche angehörte und ein radikaler Gegner der Nazis war, stellt den Anfangspunkt für Rubensteins Nachdenken über die Schoah dar. 1961 erklärte Gruber Rubenstein, dass die Juden ihre Ablehnung und fortwährende Kreuzigung von Jesus Christus beenden müssten. Der Holocaust sei die Strafe für das jüdische Volk dafür gewesen, dass sie Gottes Aufforderung, an Seinen geliebten Sohn zu glauben, nicht gefolgt waren. Nach anfänglichem Entsetzen dachte Rubenstein sehr genau über das Wesen des biblischen Bundes und dessen Aufforderung zum Gehorsam nach. Er kam zu dem Schluss, dass Gruber die Heilige Schrift korrekt interpretiert hatte. Gott bestraft die, die ihm nicht folgen. Sogar wenn man die Existenz Jesus Christus’ nicht für möglich hält, folgte nach rabbinischer und biblischer Auffassung dem Auserwähltsein von Gott die göttliche Strafe. Aus Rubensteins Perspektive war dies die einzig erlaubte Interpretation der Bibel und der Rabbis. In der Folge wählte Rubenstein einen einschneidend anderen Interpretationsansatz. Unter Nutzung der Sprache protestantischer Theologen der 1960er Jahre wie Thomas Altizer stellte er fest, dass das traditionelle rabbinische Gottesverständnis „tot“ sei. Dies war allerdings eine unglückliche Wortwahl, die viele Rabbis und Theologen dazu brachte, die Bedeutung von Rubensteins Ansichten abzulehnen. Rubenstein behauptete nicht, dass „Gott tot sei“. Er vertrat die Auffassung, dass das überlieferte Verständnis des Bundes des Gottes Israels tot sei und dem jüdischen Volk in einer Welt nach der Schoah nicht länger Leben spenden könne. Er lehnte die Doktrin vom Auserwähltsein von Gott ab, da sie nach den Schrecken der Todeslager keinen Sinn mehr machte. (Seine Ablehnung dieses Konzeptes war nicht neu. Mordechai Kaplan hatte die Vorstellung des auserwählten Volkes bereits vor der Schoah in seiner neuen Theologie vom Jüdischen Rekonstruktivismus verworfen.)
In späteren Jahren formulierte Rubenstein seine Gedanken über das Wesen des jüdischen Volkes neu. Er behauptete, dass die Religion der Rabbis mit ihrem Beharren auf dem Auserwähltsein von Gott in theologischer Hinsicht ohne Wert sei. Jedoch bildeten die jüdische Gemeinde und ihre Rituale ein vorteilhaftes psychologisches Umfeld, damit Menschen sich einander annähern und so das Gefühl der Einsamkeit und Entwurzelung, das die Welt nach Auschwitz prägte, überwinden konnten.
Rubenstein hat vielleicht den Gott der rabbinischen Tradition abgelehnt. Er lehnte jedoch nicht die Möglichkeit ab, Gott zu entdecken. Gerade in Gottes Abwesenheit in der Geschichte entdeckte Rubenstein neue Bereiche, sich Gottes bewusst zu werden. Die Natur und die Erde waren die Grundlage für eine erneuerte Beziehung zum Göttlichen. Wieder bediente sich Rubenstein der zeitgenössischen Sprache des „Heidentums“ mit seinen Vorstellungen von Mystik und Pantheismus (Gott ist überall in der Natur zu finden) um sich über den Gott der Geschichte hinaus zu bewegen. Die dialektisch-mystische Interpretation schließt die klare Schuldzuweisung an Israel sowie für den Holocaust die Kategorie einer von Gott auferlegten Strafe aus. Schöpferische Zerstörung und gar Zerstörung, die die Kategorien von Gut und Böse überschreitet, mögen dem Leben der Gottheit innewohnen – nicht jedoch die strafende Zerstörung3.
Aus Rubensteins Ablehnung des ‚Auserwähltsein durch Gott’ können weitere ethische Implikationen abgeleitet werden. Die Schoah zeigt das Böse, das die Säkularisierung des Auserwähltseins mit sich bringt: den Nationalstaat, der sich selbst als auserwählt und als Gott zugehörig betrachtet. Wenn aus dem Auserwähltsein erstmal Zuversicht erwächst, wird es möglich, „überflüssige Bevölkerungsgruppen“ zu schaffen, die eliminiert werden können.
Es ist eher auf dem Gebiet der Geschichte denn auf dem Gebiet des Göttlichen, dass Rubenstein feststellt, dass es durch Auschwitz einen weit geringeren Bruch gibt, als wir uns eingestehen möchten. Die Idee des Auserwähltseins führt zur Idee des Heiligen Krieges: dass eine erwählte Nation anderen Nationen ihren Willen aufzwingen kann. Die noch nicht weit zurückliegenden Tragödien im ehemaligen Jugoslawien und in der Sowjetunion zeigen, dass das Konzept des „Auserwähltseins“ einen fortwährenden Zyklus der Zerstörung schafft.
Der Holocaust als Bruch und Gelegenheit zur Erneuerung
Wir haben gesehen, wie sowohl Arthur Cohen als auch Richard Rubenstein den Holocaust als einschneidende Unterbrechung der rabbinischen und biblischen Tradition beschreiben. Beide bestehen darauf, dass der Bruch dem jüdischen Erleben zugrunde liegt. Beide versuchen, den Abgrund zu überbrücken und neue Wege des Denkens zu weisen.
Hier werden wir uns auf drei Denker konzentrieren (oder einen Schriftsteller und zwei Denker), die die Elemente der Unterbrechung im Holocaust anerkennen, jedoch die neuen Möglichkeiten für das jüdische Volk und die Menschheit nach Auschwitz betonen.
Elie Wiesel ist kein Philosoph, sondern ein Romanschriftsteller. Er wurde in Sighet in Ungarn in eine chassidische Familie hineingeboren. Der chassidische Richtung des Judentums benutzt seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert die Erzählung oder Geschichten, um moralische oder theologische Belehrungen weiterzugeben. Wiesel benutzt sein Talent als Autor sehr geschickt – seine Schriften über den Holocaust waren in der öffentlichen Theologie der amerikanischen jüdischen Gemeinde sehr einflussreich. Tatsächlich haben Wiesels Romane vielen Juden meiner Generation die Augen für die Grausamkeiten des Holocausts und seine Lehren geöffnet. Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass von Wiesel mehr Juden in Amerika von Auschwitz und seinen Lehren erfahren haben als von irgendeinem anderen Autor, der in diesem Essay besprochen wird (mit der möglichen Ausnahme von Emil Fackenheim).
Wiesels früheste Romane beschreiben die Erfahrungen eines jungen Mannes, der aus seinem Dorf geholt und nach Auschwitz transportiert wird und den Todesmarsch am Ende des Krieges überlebt. Sie erlauben den Einblick in die Welt eines Kindes, für das Gott eine liebende, es umgebende Präsenz war. Diese Liebe wurde durch einen schnellen Transport nach Auschwitz beseitigt. Dort war es auch, dass der Junge Zeuge wurde, wie ein Kind gehängt wurde. In diesem Moment verlor er seinen Glauben an Gott und seine Fähigkeit, an die Tradition seiner Vorfahren zu glauben. Am Ende von Night, seinem ersten Roman, haben wir einen Jungen vor uns, der mehr tot als lebendig ist.
Die anderen zwei frühen Romane gestatten einen weiteren Einblick in die Wiedereingliederung des Jungen in die Gesellschaft und die Wiederherstellung seines Glaubens an Gott. Wiesels junger Protagonist macht eine Reise vom Dunkel ins Licht – vom Abgrund der Verzweiflung zur Wiedererlangung des Glaubens. Sein Roman The Gates of the Forest konzentriert sich auf das Problem der Wahlmöglichkeiten, mit denen sich die Juden während des Krieges konfrontiert sahen. In einer Reihe von Dialogen zwischen einem jungen Mann und einem chassidischen Rabbi werden dem Leser die Möglichkeiten geistigen Widerstandes aufgezeigt.
Ich kann Ihnen selbst sagen, dass die Worte des Dialoges mich verfolgen, seit ich sie als Betreuer in einem jüdischen Sommerlager im Jahre 1967 gelesen habe. Der Rabbi fragt: „Wie können wir wissen, dass nicht auch in einem Lied Widerstand liegt? Oder in einem Gebet?“. Die Erfahrung eines quälenden Gefühls der Unzulänglichkeit und Ohnmacht, die viele junge Juden machten, wenn sie Erzählungen über die Todeslager und die Tötungsgruppen fanden etwas Heilung in den Romanen Elie Wiesels. Wir werden auch sehen, dass Irving Greenberg und Emil Fackenheim – die verbleibenden zwei Autoren – beide die literarische Bildersprache und die Erzählungen Wiesels in ihren akademischeren theologischen Überlegungen nutzen.
Irving Greenberg hielt eine Rede bei dem ersten großen Symposium zum Holocaust, das im Juni 1974 in der Kathedrale des Hl. Johannes in Amerika stattfand. Greenbergs Essay trug den Titel Cloud of Smoke, Pillar of Fire: Judaism, Christianity, and Modernity after the Holocaust4. Greenberg, ein orthodoxer Rabbi mit einem Doktor in analytischer Philosophie bot einen Rahmen, der sich als sehr wichtig für alle folgenden Diskussionen in Amerika über die Schoah erwies.
Greenberg erklärt, dass Auschwitz ein Ausgangspunkt für Juden und Christen war. Weder die Religion noch der Bund blieben von den Folgen von Auschwitz verschont. Keiner überlebt die Schoah ohne Wunden. Keine Gruppe ist noch dieselbe wie vorher. Viel wichtiger ist, wie Greenberg anführt, ist, dass die Moderne und die Aufklärung mit ihren Forderungen nach Toleranz und Demokratie ebenfalls scheiterten. Die bequeme Allianz zwischen Christentum, Judaismus und Moderne resultierte in der Tragödie der Schoah.
Als erstes Prinzip führt Greenberg die Möglichkeit an, dass der Holocaust eine Offenbarung ist, die Chance eröffnet, Gott auf einem neuen Weg zu entdecken. Allerdings spricht Greenberg eine sehr wichtige Warnung aus: „Es darf keine Behauptung, weder theologischer noch anderer Natur, aufgestellt werden, die nicht auch in der Gegenwart verbrennender Kinder glaubwürdig wäre“. Diese schockierende Aussage führt einen Grund an für eine demütige Haltung bei theologischen Überlegungen und bewahrt uns alle davor, einfache Antworten zu geben.
Der Holocaust ruft Christen, Juden und andere auf, sich dem Totalitätsanspruch dieses kulturellen Augenblicks absolut zu widersetzen. Diese Erfahrung macht sie frei, so dass sie auf den Anspruch an sie selbst, der von ausserhalb des Systems dieser Zivilisation kommt, antworten können und sich beziehen können auf ein göttliches Anderes, das Grenzen setzt und über die Absolutheitsansprüche der zeitgenössischen philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen Systeme zu Gericht sitzt. Sich danach auszurichten, heißt, sich wieder den Möglichkeiten des Exodus und der Unsterblichkeit zu öffnen5.
Diese Möglichkeit, den Juden den erlösenden Moment des Auszugs aus Ägypten zu zugestehen oder Ostern den Christen, ist nicht naiv. Auschwitz stellt eine Trennungslinie dar, jedoch keinen Bruch mit den Traditionen. Für Greenberg ist es ein Augenblick der Kritik an der Verquickung religiöser Offenbarung und weltlicher Moderne. Der Judaismus und die Christenheit müssen prophetisch handeln um den Verführungen zu begegnen, dass der Säkularismus alle Antworten bereit halten würde – das Unterschiede schlecht seien und Homogenität und Uniformität das ultimativ Gute. Dieses ‚ultimativ Gute’ fand seinen Abschluss in den Vorstellungen der Nazis von der Gleichschaltung und den Öfen von Auschwitz als das Jüngste Gericht, wer leben darf und wer sterben muss.
Auch ist den Christen und Juden nach Auschwitz kein einfacher Glaube gestattet. Greenberg bezeichnet religiösen Glauben nach Auschwitz als dialektisch. Wir pendeln zwischen Momenten ekstatischer Kommunion mit dem Göttlichen und dem Versinken in tiefste Verzweiflung. Greenberg nennt den Glauben nach Auschwitz „moment faith“.
Die Antwort ist, daß Glaube heißt, in der Gegenwart des Erlösers zu leben, man aber im Augenblick des völligen Chaos, des Völkermords, nicht in seiner Gegenwart lebt. Man muss der Wirklichkeit des Nichts treu sein. Der Glaube ist ein Augenblick der Wahrheit, aber es gibt Augenblicke, in denen er nicht wahr ist. Das kann man mit Sicherheit bei dialektischen Wahrheiten nachweisen, wo Berufung auf die Wahrheit im falschen Moment Lüge ist. Jerusalem von Auschwitz überwältigen zu lassen, heißt lügen (das ist eine Wahrheit zum unpassenden Zeitpunkt) und durch Jerusalem Auschwitz leugnen zu lassen, heißt aus dem gleichen Grund zu lügen6.
Greenberg zeigt auch biblische Quellen für eine Neuinterpretation unter dem Gesichtspunkt dieser Dialektik vom ‚Moment-Glauben’. Bei Ijob, beim leidenden Gottesknecht im Buch Jesaja und im dritten Kapitel der Klagelieder finden wir Quellen, die unsere Momente des Glaubens verstärken werden. Das Bild brennender Kinder wird uns jedoch immer wieder in die Stille und Demut zurückführen.
Einen umfassenden Rahmen für die Neuinterpretation des Judaismus nach dem Schrecken von Auschwitz findet man in Emil Fackenheims To Mend the World: Foundations of a Post-Holocaust Theology. Wo andere eine Leere und die Abwesenheit Gottes während des Holocaust feststellen, vertritt Fackenheim die Auffassung eines ‚Ereignisses’, das er als eine ‚Präsenz’ beschreibt.
Fackenheim lehnt den Gedanken ab, dass der Holocaust eine göttliche Strafe gewesen sei – die seinige ist jedoch keine traditionelle Theologie. Er setzt sich mit verschiedenen Ideen der Offenbarung auseinander und kommt zu seinen eigenen Schlüssen. Es gibt, wie er es nennt, „root experiences“, die in der Heiligen Schrift gefunden werden können: der Auszug aus Ägypten, die Durchquerung des Roten Meeres und die Übergabe der Gebote am Berg Sinai. Dies sind alles Momente, die einen rettenden Gott zeigen. Nach Fackenheim gibt es aber auch das, was er als „epoch making events“ bezeichnet, die die ‚Wurzel-Erlebnisse’ prüfen und herausfordern: die Zerstörung des Tempels, das Erleben der Diaspora – und schließlich den Holocaust. Der Holocaust ist in Fackenheims System ein desorientierendes Ereignis. Es war kein Rückfall in die Barbarei, sondern ein vollständiger Bruch mit den früheren Wertesystemen des Judaismus, der Christenheit und der westlichen Philosophie. Es ist ein Bruch, aber keine Leere.
In einer sehr durchdachten Argumentation führt Fackenheim an, dass Tikkun oder eine Wiederherstellung nach dem Bruch möglich ist. Eine Wiederherstellung ist möglich, weil es sogar in der dunkelsten Nacht des Holocaust mit all seinen Beispielen des Bösen, Momente des Tikkun gab. Die Menschen widerstanden der nazistischen Logik des Todes:
Nur in dieser Mitternacht von dunkler Verzweiflung kommt Nach-Holocaust-Gedankengut zu einem scheinenden Licht. Die Nazilogik der Zerstörung war unwiderstehlich: und trotzdem wurde ihr widerstanden. Diese Logik ist eine Neuigkeit in der menschlichen Geschichte, der Quelle von beispiellosem, dauerndem Horror: Aber der Widerstand dagegen von Seiten der am radikalsten Ausgesetzten ist auch eine Neuigkeit in der Geschichte und er ist die Quelle eines beispiellosen, dauernden Wunders. Die befehlende Stimme von Auschwitz zu hören und ihr zu gehorchen, ist eine ontologische Möglichkeit, hier, und nicht, weil das Hören und Gehorchen schon dann und dort eine reelle Wirklichkeit waren7.
Ein Beispiel für diese Gegenwelt des Widerstandes in den Lagern gibt Fackenheim mit einer Anekdote einer nicht-jüdischen Gefangenen, Pelagia Lewińska:
Aber von dem Augenblick an, als ich dieses motivierende Motiv erkannte […] war es mir, als ob ich von einem Traum erwacht wäre […] Ich fühlte mich unter dem Gebot, zu leben. […] Und wenn ich in Auschwitz sterben sollte, dann als ein menschliches Wesen, unter Bewahrung meiner Würde. Ich würde nicht zu jener verachtenswerten Brut degenerieren, als welche mich meine Feinde gerne gesehen hätten. […] Und es begann ein schrecklicher Kampf darum, der Tag und Nacht anhielt8.
Weil es diese Momente in den Lagern und den Ghettos gab, ist es für Juden und Christen möglich, eine geordnete Welt zu schaffen, die auf dem Verhalten dieser Seelen gründet. Juden und Christen haben beide die Möglichkeit und die Verantwortung, die Welt wieder herzustellen. Diese Wiederherstellung beginnt mit der Rückkehr der Gemeinden zu ihren jeweiligen Traditionen und damit, sie mit der Realität der Brüche zu konfrontieren, die der Holocaust verursacht hat. Dieser Prozess wird in jeder Gemeinde zu einem gewissen Grad unterschiedlich ablaufen.
Juden und Christen müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Juden nach der Schoah ein neues Gebot haben: sie müssen überleben, um Hitler nicht posthum zu einem Sieg zu verhelfen. In Fackenheims System wird dieses Überleben durch die Gründung des Staates Israel gesichert. Fackenheim erklärt, dass nach der Schoah sowohl Juden als auch Christen Zionisten werden müssen. Der Staat Israel führt das jüdische Volk wieder auf den Pfad der Geschichte zurück. Er bietet ihnen ein Testgelände, das zum einen einen sicheren Hafen bietet, sie zum anderen mit ethischen Herausforderungen konfrontiert, denen sie sich seit zweitausend Jahren nicht gegenüber gesehen haben. Das jüdische Volk in der Diaspora und im eigenen Land musste von den Erfahrungen Tikkuns während des großen Bruches Gebrauch machen immerwährend sein Gewissen erforschen.
Ich bin der Komplexität von Fackenheims Theologie nicht gerecht geworden, sondern habe nur eine kurze Zusammenfassung geboten. Sie ist umfassend und trotzt jeder einfachen Antwort.
Einige Abschlussbemerkungen
Lassen Sie mich einige abschließende Bemerkungen machen, insbesondere im Hinblick auf die öffentliche Diskussion über die Schoah in der jüdischen Gemeinde in Amerika.
Die Schoah ist ein orientierendes Ereignis für amerikanische Juden. Sowohl in Momenten ernster Überlegungen als auch in Momenten ernster Selbstkritik, denken sie über die Bedeutung der Schoah nach. Es gibt Zeiten, da wird die Verbindung zwischen der Schoah und dem Staat Israel als die moderne Erfüllung vom Exil und der Rückkehr ins gelobte Land der Bibel beschrieben. Diese Argumente hört man sehr oft in Amerika und es ist schwer, ihnen zu widerstehen.
Die Schoah ist Bestandteil des liturgischen Kalenders der meisten Juden in Amerika. Unsere Gemeinden gedenken der Schoah jeden Mai nach dem Muster, das in Israel entwickelt wurde. Noch einmal möchte ich das tiefe Gefühl von Zerrissenheit und Wiederherstellung betonen, von Terror und Heilung, das aufkommt, wenn der israelische Unabhängigkeitstag dem Zyklus von Yom HaSchoah folgt.
Die Schoah hat für die amerikanischen Juden eine ernsthafte Neubewertung des Wertes eines geistigen Lebens mit sich gebracht. Richard Rubenstein und Arthur Cohen folgend, benutzen viele amerikanische jüdische Denker der jüngeren Generation kabbalistische Symbolik und Gottesbeschreibungen als Teil ihrer Wiedereingliederung in die jüdische Tradition. Eine solche Wiederentdeckung birgt bestimmte Gefahren, jedoch ist das Gedenken an die Opfer der Schoah eine wichtige Verbindung zwischen amerikanischen Juden und ihrer europäischen Vergangenheit geworden. Sogar der israelische Staat entdeckt jetzt den Wert dieser Vergangenheit wieder.
Wie wir bei Greenberg und Fackenheim sehen können, stellt die Schoah eine wichtige Brücke für Christen und Juden dar, um in eine ernsthafte Diskussion einzusteigen. Es gibt immer noch viel Widerstand unter den Christen, sich mit ihrer Verantwortung für das Überdenken ihrer Theologie über den Judaismus auseinanderzusetzen und die Konsequenzen einer zweitausendjährigen kontra-jüdischen Tradition zu entdecken. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den Lehren und Taten von Johannes Paul II. wurden jedoch die ersten wichtigen Schritte gemacht.
Anmerkungen:
- 1 „Das Golgotha der modernen Menschheit ist Auschwitz. Das Kreuz ist durch die Gaskammern ersetzt“.
- 2 In: M. Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, bibliotheca judaica, Gerlingen 19932, S. 178.
- 3 R. L. Rubenstein, After Auschwitz. History, Theology, and Contemporary Judaism, Balitmore and London 19922, S. 174.
- 4 Auszugsweise deutsch in: I. Greenberg, Augenblicke des Glaubens, in: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie nach Auschwitz, hrsg. v. M. Brocke u. H. Jochum, Gütersloh 1992, S. 136-177.
- 5 Vgl. Greenberg, Cloud, a.a.O., S. 31. Deutsch in: Greenberg, Augenblicke …, a.a.O., S. 143.
- 6 Greenberg, Augenblicke …, a.a.O., S. 146.
- 7 E. L. Fackenheim, To Mend the World: Foundations of Future Jewish Thought, New York 1982, S. 201.
- 8 Vgl. Fackenheim, a.a.O., S. 217. Deutsch in: Ch. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, S. 295.
Übersetzt von Alexandra Kerkau
Veröffentlicht in: Dialog an der Schwelle von Auschwitz. Kraków 2003, S. 111-131.