Marek Nowak

Erfahrungen mit dem Dialog in Polen

– ein Studium der Praehistorie

            Zunächst möchte ich eine Vorbemerkung machen. Wenn ich im Folgenden über die Erfahrungen des Dialogs in Polen spreche, beschränke ich mich auf die Beziehungen der katholischen Kirche zur jüdischen Gemeinschaft. Ich fühle mich nicht kompetent, über die Problematiken der anderen christlichen Bekenntnisse zu sprechen.
            Nach Meinung von Stanisław Krajewski begann der christlich-jüdische Dialog in großem Ausmaß durch die Erschütterung, die durch die Shoah hervorgerufen worden war, und wurde mit der Entstehung des israelischen Staates vertieft1. Doch auch weiterhin spielte zunächst in Polen, nach Ansicht des Autors, die Erschütterung durch die Vernichtung der Juden eine geringe Rolle, was vor allem der politischen Nachkriegstragödie Polens zuzuschreiben sei.2 „Die Polen waren zunächst so sehr mit der eigenen Niederlage, mit ihrem Leiden und ihrer Bedrohung beschäftigt und später mit den erzwungenen territorialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, dass sie der jüdischen Katastrophe nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkten.“3 Erzbischof Henryk Muszyński weist außerdem noch auf Schwierigkeiten politischer Natur hin, die von den damaligen Machthabern geschaffen wurden: „Damals konnte man keinen ehrlichen Dialog führen, denn man musste sich den auferlegten Konventionen anpassen und das bedeutete, ihn im Geist des Antizionismus und der Bedrohung zu führen. Jeglicher Kontakt zwischen der Kirche und den Juden wurde als eine politische Angelegenheit gewertet. Einen Dialog konnte man überhaupt nur privat führen.“4
            Ein weiterer Grund, den Dialog nicht aufzunehmen, stellte der Antisemitismus von Teilen der antikommunistischen Untergrundbewegung dar. Dieser führte zu einer die Juden verunglimpfenden Verallgemeinerung, deren Kernaussage war, dass die Juden eine kollektive Schuld an der Einführung des Kommunismus im Allgemeinen und im Besonderen an seiner Entstehung in Polen trügen. Das war auch einer der Gründe, warum die Juden nach dem Krieg eher als Begünstigte denn als Opfer angesehen wurden5. An dieser Stelle bleibt kein Raum, um Erwägungen über die Anzahl der Funktionäre jüdischer Herkunft in Spezialeinheiten der Volksrepublik Polens anzustellen (ebenso wenig darf man den Antisemitismus innerhalb der kommunistischen Nomenklatur vergessen). Eher sollte man sich in Erinnerung rufen, dass das besagte Stereotyp seine Wurzeln schon vor dem Krieg hat. Laut einigen nationalen Ideologen sei die Verbindung zwischen Juden und dem Kommunismus auf angeborene, psychische Wesenszüge zurückzuführen, denn jedes Volk habe seine spezifische Mentalität, deren Wurzeln man in „der Stimme von Rasse und Blut“ suchen müsse.6 Das Stereotyp des Juden, der heimlich ein Komplott gegen Polen schmiedet, ist älter als das kommunistische Manifest, davon zeugt z. B. die „Nie-Boska Komedia“ [die ungöttliche Komödie]7. Über ihren Autor Zygmunt Krasinski schrieb der Schriftsteller Mickiewicz, dass er „sich zu einem nationalen Frevel hinreißen ließ, indem er den Charakter der Israels verunglimpfte: er präsentiert das israelische Volk als eines, das nur auf den geeigneten Moment warte, um den Adel und die Bauern zu vernichten und die Vernichtung des Christentums zu vollenden. Den Vertretern Israels legt er die hässlichsten und abscheulichsten Worte, die man sich nur vorstellen kann, in den Mund.“8
            Das Ereignis, das nach der Shoah einen besonders dunklen Schatten auf die polnisch-jüdischen und die katholisch-jüdischen Beziehungen in Polen warf, war das Kielcer Pogrom9. Immer mehr Details scheinen die Hypothese zu bestätigen, dass sowjetische Spezialeinheiten einen erheblichen Anteil an der Provokation zum Mord hatten – laut den in Polen zitierten russischen Quellen habe hinter der ganzen Aktion Nikolaj Seliwanowski gestanden, der vom NKWD geschickt wurde als Berater des Sicherheitsministeriums. Ziel der Provokation sei es gewesen, den Alliierten ein Argument zu liefern für die Unabdingbarkeit der Anwesenheit sowjetischer Truppen in Polen.10 Nichtsdestotrotz bin ich nicht der Erste, der die Frage stellt: selbst wenn es sich wirklich um eine Provokation handelte, warum ist sie dann so perfekt gelungen? Warum haben so viele Menschen daran geglaubt, dass Juden Morde an christlichen Kindern verüben? Dies wurde in der katholischen Monatszeitschrift “Znak“ sofort kommentiert: „Auf polnischer Erde ergießt sich Blut, es wird gemordet. Die Teilnahme der polnischen katholischen Bevölkerung, des einfachen Mannes von der Strasse, ist – dahingestellt, ob es sich um eine Provokation handelte oder nicht – ein unzweifelhaftes Faktum. Passanten griffen nach harten Gegenständen, die Frauen skandierten. Die Parole «Schlagt die Juden» verbreitete sich in den Strassen und Gassen. Wo sind wir? In einem Staat, der seit Jahrhunderten christlich geprägt und stolz auf seine Zugehörigkeit zur westlichen Kultur ist? Oder in einem Staat, der einst ein Vorbild sein kann für das Zusammenleben in einem gespaltenen Europa, zerrissen durch brudermordende Religionskriege und befleckt durch Pogrome?“11 Am Ende dieses Kommentars des Redaktionsteams stehen drei Worte: Schande, Schande, Schande!12 Und mit dieser Schande leben wir wohl bis heute in Polen.
            Mit dem Kielcer Pogrom im Gepäck traten wir ein in die Nacht des Stalinismus. Zur selben Zeit fanden im Westen wichtige Ereignisse statt, so z. B. Treffen des Internationalen Rates der Christen und Juden und die Konferenz in Sellisberg.13 Im Bereich des christlich-jüdischen Dialogs tat sich zu dieser Zeit sehr viel, dessen Spuren man im Buch von Pater Gregory Baum finden kann. In Polen wurde es noch vor der Veröffentlichung der Konzilsdeklaration Nostra Aetate14 publiziert. Leider wurde da auch deutlich, dass der Großteil der jüdischen Bevölkerung sich weit von Polen entfernt befand – hinter der unüberwindbaren Barriere des eisernen Vorhangs. Die fehlenden Kontakte, die gegenseitige Unkenntnis und die Tatsache, dass man sich in unterschiedlichen politischen und militärischen Lagern befand, mussten unzweifelhaft einen negativen Einfluss auf die Beziehungen zueinander haben.
            In den Tagen, als das Konzil die Deklaration über die Beziehungen zu den nichtchristlichen Religionen veröffentlichte, fand in unserem Land ein Ereignis statt, das wieder Hoffnung schöpfen ließ: an der Lubliner katholischen Universität hielt Dr. Richard Rubenstein, Seelsorger von jüdischen Studenten aus Pittsburgh, einige Vorlesungen.15
            Es mag sein, dass die christlich-jüdischen Beziehungen in Polen nach dem Konzil Auftrieb bekommen haben; kurz darauf geschah jedoch etwas, das unsere Land wieder um einige Jahrzehnte zurückwerfen sollte – ich spreche von der durch die kommunistische Regierung angeordneten antisemitischen Kampagne im März 1968.16 Die Tragödie, die über Polen hereinbrach, bestand nicht allein darin, dass Tausende unserer Mitbürger zur Emigration gezwungenen waren, sondern auch in einer „Auschwitzlüge“ eigener Art, die in der Manipulation von Geschichtsbüchern und Enzyklopädien ihren Ausdruck fand. Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel vorlesen, dass ich in der Presse zum Thema der organisierten Geschichtsfälschung zu jenen Zeiten fand: „Es war der September 1967, als Ewa Kuryluk mit ihrem Vater Karol Kuryluk die Ujazdowski Allee entlang spazierte. In der Mitte der Allee marschierte eine Gruppe Menschen. Sie skandierten: «Nieder mit den Enzyklopädien!» und trugen Transparente mit der Aufschrift: «PWN17 ins Lager!» Der Vater war wie vom Blitz getroffen. Er war doch der Direktor des Wissenschaftsverlages. Während der Redaktion der großen Enzyklopädie hatte er durchgesetzt, dass der Begriff „Konzentrationslager“ vom Begriff des Vernichtungslagers, indem Juden ermordet wurden, unterschieden wurde. Abends kam ein Anruf vom Zentralkomitee. Dem PWN wurde zur Last gelegt, dass er die Leiden der Juden auf Kosten der Polen hervorgehoben habe, es sich um eine zionistische Verschwörung handele. Es roch schon nach März. Der Vater bekam einen Herzinfarkt. […] Der Wissenschaftsverlag schickte den Abonnenten der Enzyklopädie eine ‚korrigierte’ Seite mit dem Begriff Lager zu.“18 Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass zu dieser Zeit in Polen ein Versammlungsverbot bestand.
            Man darf in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, welche Formen damals die Denkmäler für Massenvernichtungslager annahmen. Stanisław Krajewski schrieb: „Das Denkmal der Opfer des Faschismus wurde in Birkenau 1967 enthüllt. […] Dieses Denkmal stellte für mich stets ein weitaus größeres Problem dar als das Kloster, das die Aufmerksamkeit so vieler auf sich zog. Auf dem Terrain des Krematoriums aufgestellt, erinnerte nichts an die Juden, es enthielt kein einziges jüdisches Motiv.“19 Zum wiederholten Male konnte man sich davon überzeugen, dass es schon 1967 nach März roch. Allerdings muss ich hier etwas hinzufügen: Die, die wir heute in Auschwitz sind, dürfen den heutigen Museumsleiter nicht dafür verantwortlich machen, was sich 1967 abspielte.
            Priester Waldemar Chrostowski schrieb: „Als eigentlichen Anfang des katholisch-jüdischen Dialogs muss man die Gründung des Unterausschusses für den Dialog mit dem Judentum durch die polnische Bischofskonferenz im Frühjahr 1986 nennen […]. Die erste Sitzung des Unterausschusses fand am 13.5.1986 in Warschau statt“.20 Dieses Datum sollte man wohl als symbolisch betrachten.
            Es ist es jedoch wert, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was Stanisław Krajewski die „Praehistorie des polnischen Dialogs“ nannte und was insbesondere dem öffentlichen Engagement von Zeitungen wie „Więź”, „Znak” und „Tygodnik Powszechny” zu verdanken ist.21 Auch die Verdienste der protestantischen Presse und deren Umfeld wie z.B. „Jednoty“ oder „Zwiastuna“ sind nicht zu vergessen. Ich möchte mich deshalb im weiteren Verlauf meines Vortrages vor allem auf „prähistorische“ Ereignisse konzentrieren, die formal gesehen vielleicht weniger bedeutsam sind, jedoch in großem Einfluss zum Verlauf des Dialoges hatten. Von mir selbst kann ich sagen, dass – auch wenn ich damals selbst nicht an jenen Ereignissen teilnahm, weil ich zu jung war und bestimmte Stereotype aus meinem Elternhaus übernommen hatte – heute ein sentimentales Gefühl in mir aufsteigt, wenn ich die verschiedenen Berichte jener Jahre betrachte.
            Ein jüdischer Publizist unterstrich in besonderem Maße die Bedeutung der Woche der jüdischen Kultur, die seit Anfang der 70er Jahre vom Warschauer Club der katholischen Intelligenz organisiert wurde. Sie stellte ein besonderes Ereignis dar und beschränkte sich nicht nur auf Vorträge, sondern war auch mit Aktionen zur Pflege des jüdischen Friedhofs verbunden.22 Mitorganisatoren der Woche waren das Kloster der Auferstehungsschwestern, die römisch-katholische Gemeinde St. Augustinus (die sich auf dem Gelände des ehemaligen Gettos befindet) und die evangelisch-reformierte Gemeinde.23 Der jüdisch-christliche Dialog wurde, das ist offensichtlich, zu einem wichtigen Impuls für den ökumenischen Dialog. Hier lohnt es sich m. E. daran zu erinnern, was Pfarrer Dembowski während der Predigt bei einer heiligen Messe, die in der evangelisch-reformierten Kirche gefeiert wurde, sagte: „Wir sehen heute, dass antisemitische Parolen in unserer polnischen Gesellschaft auf ihre Weise wirkungsvoll sind, und wir begegnen ihnen täglich. Das tut weh. Und das bedeutet Verrat zu begehen am höchsten Wert, am Evangelium Christi. Deshalb ist es gut, dass wir uns zum Gebet treffen und dass wir dieser Wahrheit ins Gesicht sehen wollen. Den Kopf in den Sand zu stecken hilft uns nicht weiter“.24
            Laut Stanisław Krajewski ist „das wichtigste Geschehen dieser Periode der Beginn des Pontifikates von Johannes Paul II“25. „Die große theologische Rückbesinnung“ – in Bezug auf die katholisch-jüdischen Beziehungen, wenn auch nicht nur darauf – „kam nach Polen aus dem Vatikan“.26 Der Papst besuchte schon knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt Polen, wobei eine der wichtigsten Stationen seiner Pilgerreise das Lager Auschwitz-Birkenau war. „Ich verweile für einen Moment mit Euch, liebe Teilnehmende dieses Treffens, vor der Tafel mit hebräischer Aufschrift. Diese Inschrift ruft die Erinnerung an ein Volk wach, dessen Söhne und Töchter zur völligen Vernichtung bestimmt waren […]. Dieses Volk, das von Gott Jahwe das Gebot «Du sollst nicht töten!» erhielt, erfuhr in besonderem Ausmaß das Morden am eigenen Leibe. An dieser Gedenktafel darf niemand gleichgültig vorbeigehen.“27 Genau damit begann für die polnische Gesellschaft der schmerzhafte Prozess der Abkehr von der oben erwähnten eigenen Auschwitzlüge. Wie schmerzhaft dieser Prozess war, zeigten u. a. die Zwischenfälle im Zusammenhang mit dem Kloster der Karmelitinnen oder mit den Kreuzen in der Kiesgrube28.
            Das nächste Ereignis, dass einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität der christlich-jüdischen Beziehungen in Polen ausübte, war die Entstehung der Solidarność und der Kriegszustand. Das war der Moment, als “viele Tabus gebrochen wurden“.29 Hier sollte ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, dass es die Solidarność war, die die Kampanie [von 1968] verurteilte und eine Gedenktafel stiftete, die an die Niederschlagung der Studentenunruhen auf dem Hof der Warschauer Universität erinnert. Auf dem Denkmal der Opfer des Arbeiteraufstandes vom Juni 1956 in Posen fügte sie das Datum 1968 hinzu als eines von vielen Gedenkdaten an Volksaufstände und unmenschliche Unterdrückung.“30 Die Erfahrungen des Jahres 1980 und der Zeit des Kriegszustandes waren, laut Stanisław Krajewski, „eine Zeit der Nähe, die später vielleicht als Dialog fruchtbar werden kann“.31 Marcin Kula bezeichnete dies als die Erfahrung, sich als „Volkskommune“ zu verbinden“.32
            Ein weiteres bedeutsame Datum in der christlich-jüdischen Annäherung in Polen war das Jahr 1983 – der 40. Jahrestag des Warschauer Gettoaufstandes und zugleich der zweite Besuch des Papstes in Polen. Als wichtiges Ereignis sollte man das Erscheinen der Doppelnummer der Monatszeitschrift „Znak“ (1983, Nr. 2-3), die jüdischen Themen gewidmet war, sehen.
            Die Feier des Jahrestages war ein Teil der Politik der Regierung, die nach der Verhängung des Kriegszustandes aus der internationalen Isolation treten wollte – man wollte auf diese Weise eine eigentümliche Revision des März ’68 bewirken und „das Bild des offiziellen Polens in der Meinung der Juden weltweit“ korrigieren.33 Der „letzte lebende Zeuge des Warschauer Gettoaufstandes, Marek Edelmann, boykottierte jedoch die Feierlichkeiten“.34
            Allerdings muss man anmerken, dass die staatlichen Feierlichkeiten nicht die einzige Weise waren, diesen Jahrestag zu ehren. 1983 geschah etwas, das man sicher als einen Präzedenzfall in den katholisch-jüdischen Beziehungen bezeichnen kann. In den Kirchen wurde der jüdischen Aufständler des Warschauer Gettos gedacht, und ein katholischer Bischof sprach in einer Synagoge. So hielt z. B. in Warschau der Kardinal Josef Glemp während der heiligen Messe, die er in der St. Augustinus Kirche feierte, eine entsprechende Predigt. Der Messe wohnten auch geladene Vertreter der jüdischen Gemeinschaft bei. Bischof Kazimierz Majdański35 nahm an der Eröffnungsfeier der Nożyka-Synagoge in Warschau teil. In Krakau wurden unter Vorsitz von Kardinal Franciszek Macharski Gebete in der Mariacki-Kirche gesprochen.
            Meiner Meinung nach spielte das Jahr 1983 eine bedeutend größere Rolle als das Jahr 1986. Zwar ist es nicht das Geburtsjahr der Unterkommission zum Dialog mit dem Judentum, aber es war der eigentliche Beginn der interreligiösen Kontakte mit der jüdischen Gemeinschaft. Ich erlaube mir hier eine Verbindung zu den Ereignissen im Jahre 186136 zu knüpfen – die christliche und die jüdische Gemeinschaft fühlten damals eine geistige Nähe angesichts der gemeinsamen Erfahrungen der Unfreiheit37.
            Auch Papst Johannes Paul II erinnerte in seiner Generalaudienz am 13. April 1983 des 40-sten Jahrestages des Aufstandes38 und fand während seiner zweiten Pilgerreise nach Polen Zeit für ein Gebet am Denkmal der Helden des Gettos. Aus einem Bericht von Malgorzata Niezabitowska geht hervor, dass dieser Punkt ursprünglich nicht im Programm vorgesehen war, sondern erst auf ausdrücklichen Wunsch des Gastes hinzugefügt wurde39.
            Leider geschah ein Jahr später etwas, das eine ganze Reihe von Missverständnissen und gegenseitigen Beschuldigungen hervorrief: es wurde mit dem Bau des Karmelklosters in Auschwitz begonnen. „Unter polnischen Juden weckte der Bau des Klosters […] weder Entrüstung noch das Gefühl, dies sei Teil einer allgemeinen Aktion, um die jüdische Bedeutung des Lagers zu schmälern […]. Die für die Kirche überraschende Reaktion der Juden aus dem Ausland war jedoch deutlich: Das Kloster wurde als Affront und Bedrohung aufgefasst“40. Man kann wohl sagen, dass die Kirche in Polen eine „Rechnung bezahlen“ musste für ein Flugblatt der Organisation „Kirche in Not“, insbesondere für die Zeilen, die besagten, dass das Kloster Zeuge der siegreichen Kraft des Kreuzes Jesu Christi sein werde und eine geistige Festung für die Bekehrung der verirrten Brüder41. Doch das ist nicht alles. Die Kirche in Polen musste auch für ihre tatsächliche Dejudaisierung des Lagers Auschwitz-Birkenau bezahlen. Die krisenreiche Situation in Oświęcim, die damals entstand, zog sich im Grunde genommen bis ins Jahr 1999. Es macht an dieser Stelle wenig Sinn, den langjährigen Konflikt in allen Einzelheiten zu besprechen; wichtig erscheint mir zu erwähnen, dass er auch positive Seiten hatte. Er führte z.B. zur Entstehung des Zentrums für Dialog und befruchtete und vertiefte das gegenseitige Kennenlernen. Auch die Unterkommission (später Kommission) des polnischen Episkopates für den Dialog mit dem Judentum „entstand als eine Art «Rettungsdienst»“42 als Antwort auf die Krise in Oświęcim. Ich möchte hier anfügen, dass auch meine ersten Erfahrungen auf dem Weg des Dialogs mit dem Höhepunkt des Konfliktes, der im Jahre 1989 eintrat, verbunden sind. Meine Erfahrung war auf ihre Art irgendwie paradox, weil ich aus einer nationaldemokratischen Familie stamme und diese Krise mich eher in damals virulenten antisemitischen Stereotypen hätte bestärken müssen. Dies geschah jedoch nicht, allerdings muss ich bekennen, dass die wichtigste Rolle für meine geistliche Wende die Lehre der Kirche zum Thema Juden und Judentum spielte.
            Wahrscheinlich das letzte zur prähistorischen Epoche gehörende Ereignis des Dialogs in Polen waren die Tage des Judentums in Pienieżna. Sie fanden am 16.-17. 4. 1986 statt, also drei Tage nach dem Besuch von Johannes Paul II in der römischen Synagoge und nicht ganz einen Monat vor der ersten Sitzung der Unterkommission des polnischen Episkopats zum Dialog mit dem Judentum. Die Tage des Judentums waren eine der Veranstaltungen, die vom Priesterseminar der Steyler Missionare im Rahmen eines Zyklus von „Pienieznier Begegnungen mit den Religionen“ organisiert worden waren. An die hundert Teilnehmer waren gekommen, aber die Bedeutung dieser Tage lässt sich nicht alleine in der Anzahl der Besucher messen. Unter den Vortragenden waren Monika und Stanisław Krajewski sowie Konstanty Gebert. Die große Bedeutung dieser Tage lässt sich in Worten zusammenfassen, die einer der Teilnehmer, Dr. Anatol Leszczynski vom Jüdischen historischen Institut, gesagt hat: „Ich bedaure, dass mein Vater diesen Augenblick nicht mehr erleben konnte“43.
            Damit sind wir am Ende des prähistorischen christlich-jüdischen Dialogs in Polen angelangt. Das Jahr 1986 war auf seine Weise auch der Beginn meiner Geschichte, weil ich damals in das Noviziat der Dominikaner eintrat. Aber das ist eine andere Geschichte.
            Ich könnte jetzt sagen, dass 1989 nach dem Untergang des Realsozialismus alles wie in einem Märchen war und alle „glücklich und zufrieden lebten“. Doch leider begann in diesem Moment nicht die Idylle, sondern es entfachte sich ein Streit um den Dialog. Die verschiedenen Anhänger des Dialoges haben nun gleichwertige Chancen, und der Begriff „öffentliche Debatte“ betrifft nunmehr nicht mehr nur ein Dutzend Menschen hinter verschlossenen Türen. Einer der wichtigsten Aspekte der Debatte um die jüdische Thematik nach 1989 ist die erneute Entdeckung der Tragödie, die der Holocaust war.
            Elf Jahre: das war eine Epoche von Errungenschaften, aber auch etlicher Rückschläge. Stanisław Krajewski schrieb dazu: „Es gibt schon einiges, worauf wir stolz sein können“, denn das Zentrum für Dialog ist entstanden, es bestehen zahlreiche Vereine – z. B. der Polnische Rat der Christen und Juden, das Institut für den katholisch-judaistischen Dialog wurde gegründet, einmal im Jahr findet der Tag des Judentums in den katholischen Kirchen in Polen statt, „aber vor allem ist dies eine Herausforderung, die noch vor uns liegt.“44


  • 1 Stanisław Krajewski; Żydzi, Judaizm, Polska. Warszawa 1997, S. 336.
  • 2 A.a.O. S. 337.
  • 3 Ebd.
  • U początków dialogu [Über die Anfänge des Dialogs. Gespräch mit Erzbischof Henryk Muszyński, Metropolit von Gnesen], „Maqom“ 1996, Nr. 1, S. 9.
  • 5 S. Krajewski, Żydzi…, S. 337-338; Marcin Kula, Trudna sprawa. Stosunki polsko-żydowskie1918-1989 [Eine schwierige Angelegenheit. Polnisch-jüdische Beziehungen von 1918-1989], „Przegląd Powszechny“ 1990, Nr. 7-8, S. 82-83.
  • 6 Jacek Majchrowski, Problem żydowski w programach głównych polskich obozów politycznych (1918-1939) [ Das „Judenproblem” in den Programmen der wichtigsten polnischen politischen Lager (1918-1939)], „Znak“ 1983, Nr. 2-3, S. 386-387; siehe ebenso: Mirosława Pałaszewska, Zofia Kossak a kwestia żydowska, [Zofia Kossak und die jüdische Frage] „Słowo. Dziennik Katolicki“ 1995, 25-27 VIII, S. 12. In diesem Artikel stößt man auf einige radikal rassistische Aussagen der Autorin.
  • 7 Paris 1835.
  • 8 Adam Mickiewicz, Literatura słowiańska, kurs III, wykład XI, in: Ders., Dzieła, t. XI, Warszawa 1955, S. 109-110.
  • 9 Beim Pogrom in Kielce im Juli 1946 gab es 42 jüdische Todesopfer.
  • 10 T.T.S., Prowokacja NKWD, „Rzeczpospolita“, 1 IV 2000, S. 5.
  • 11 Sprawa piekąca, „Znak“ 1946, Nr. 2, S. 224.
  • 12 Ebd., S. 225.
  • 13 Grzegorz Ignatowski, Kościoły wobec przejawów antysemityzmu [Die Kirchen gegen antisemitische Vorurteile], Łódź 1999, S. 40, 47.
  • 14 Gregory Baum, W stronę jedności, ZNAK, Kraków 1964, S. 210-227.
  • 15 Dr Richard L. Rubenstein na KUL, „Zeszyty Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego“ 1966, Nr. 1-2, S. 185-186.
  • 16 M. Kula, Trudna sprawa…, S. 86-87.
  • 17 Polskie Wydawnictwo Naukowe: Polnischer Wissenschaftlicher Verlag
  • 18 Magdalena Grochowska, Ćma, ryba, lunatyczka [Fledermaus, Fisch, Mondsüchtiger], in: „Wysokie obcasy“, dodatek do „Gazety Wyborczej“, 2000, Nr. 28, S. 15.
  • 19 S. Krajewski, Żydzi…, S. 240.
  • 20 Waldemar Chrostowski, Stan i perspektywy dialogu katolicko-żydowskiego w Polsce [Stand und Perspektiven des Katholisch-jüdischen Dialogs in Polen.], „Przegląd Powszechny“ 1990, Nr. 7-8, S. 98.
  • 21 S. Krajewski, Żydzi…, S. 341.
  • 22 Ebd., S. 342.
  • 23 J. Ch., Tydzień kultury żydowskiej [Jüdische Kulturwoche], „Więź“ 1980, Nr. 7-8, S. 277-279; Bronisław Dembowski, Patrzeć na historię w prawdzie [Der Wahrheit der Geschichte ins Gesicht blicken], „Więź“ 1985, Nr. 4-5-6, S. 73-74.
  • 24 B. Dembowski, Patrzeć…, S. 74.
  • 25 S. Krajewski, Żydzi…, S. 344.
  • 26 Ebd., S. 349.
  • 27 Jan Paweł II, Homilia w czasie Mszy św. w byłym obozie Brzezince [Predigt während der heiligen Messe auf dem ehemaligen Lager Birkenau], in: ders, Musicie od siebie wymagać [Ihr müßt von Euch fordern], „W drodze“, Poznań 1984, S. 172.
  • 28 Auf dem Gelände einer ehemaligen Kiesgrube, in der zu Beginn der Lagerzeit Erschießungen von Häftlingen stattgefunden hatten, und das neben dem ehemaligen Theatergebäude lag, in dem die Karmelitinnen vor ihrem Umzug in ein neues Kloster gewesen waren, wurden über hundert Kreuze für die dort Ermordeten aufgestellt. Nachdem diese Aktion von der Polnischen Bischofskonferenz als Provokation bezeichnet worden war (Hirtenbrief vom 26.08.1998), sind sie entfernt worden. Vorher stand dort schon ein großes Kreuz, das stehen blieb.
  • 29 S. Krajewski, Żydzi…, S. 344.
  • 30 Ebd.
  • 31Waldemar Chrostowski, Kościół katolicki w Polsce a dialog chrześcijańsko-żydowski [die katholische Kirche in Polen und der christlich-jüdische Dialog], „Maqom“ 1996, Nr. 2,  S. 17.
  • 32 Grzegorz Polak, Dni Judaistyczne w Pieniężnie [Jüdische Tage in Pieniezna], „Więź“ 1986, Nr. 4, S. 153.
  • 33 Ebd., S. 155.
  • 34 S. Krajewski, Żydzi…, S. 370.
  • 35 Ehemaliger Konzentrationslagerhäftling. Marcin Kula, Trudna sprawa…, S. 89.
  • 36 Polnischer Aufstand gegen die russische Besatzungsmacht.
  • 37 S. Krajewski, Żydzi…, S. 344.
  • 38 M. Kula, Trudna sprawa…, S. 89.
  • 39 Ebd, S. 90.
  • 40 Ebd, S. 91.
  • 41 Kard. Józef Glemp, Getto broniło ludzkiej godności. Homilia wygłoszona w kościele św. Augustyna w Warszawie z okazji 40 rocznicy powstania w Getcie Warszawskim 10 IV 1983 [Das Getto verteidigte die menschliche Würde. Predigt in der Kirche St. Augustinus aus Anlass des 40. Jahrestages des Aufstands im Getto, am 10.04.1983], „Chrześcijanin w Świecie“ 1983, Nr. 4, S. 91-94; Bischof Kazimierz Majdański, Pokój wam! Przemówienie na otwarciu synagogi w Warszawie 18 IV 1983 [Friede sei mit Euch! Ansprache bei der Eröffnung der Synagoge in Warschau am 18.04.1983], „Chrześcijanin w Świecie“ 1983, Nr. 4, S. 95-96; Modlitwa za pomordowanych Żydów. Liturgia słowa [Gebet für die ermordeten Juden. Wortgottesdienst], „Ruch Biblijny i Liturgiczny“ 1983, Nr. 4, S. 342-344.
  • 42 S. Krajewski, Żydzi…, vgl. dort Anm. Nr. 13 auf S. 195.
  • 43 Jan Paweł II, Wspomnienie 40 rocznicy powstania w Getcie Warszawskim podczas audiencji generalnej, in: Żydzi i judaizm w dokumentach Kościoła i nauczaniu Jana Pawła II (1965-1989), pod red. ks. Waldemara Chrostowskiego i ks. Ryszarda Rubinkiewicza SDB, Akademia Teologii Katolickiej, Warszawa 1990, S. 126-127.
  • 44 Małgorzata Niezabitowska, Pod Pomnikiem Bohaterów Getta [Am Gettokämpferdenkmal] „Więź“ 1983, Nr. 8-10, S. 282.

Übersetzt von Sanna Schondelmayer und Manfred Deselaers

Veröffentlicht in: Dialog an der Schwelle von Auschwitz. Band 1. Kraków 2003, S. 199-210.