Manfred Deselaers
Gott und das Böse
Anthropologisch-theologische Reflexion
Einführung
Nicht erst seit Auschwitz quält uns die Frage nach der Macht des Bösen, nach dem Wesen des Menschen und nach seiner Beziehung zum Guten und zu Gott. Die folgenden Überlegungen fragen nach dem „Sitz im Leben“ von „Gott“ und „dem Bösen“ im Hinblick auf die menschliche Biografie. Sie tun das mit Hilfe der Philosophie von Emmanuel Levinas, die auf Immanuel Kant aufbaut. Paul Ricoeurs Werk über die „Phänomenologie der Schuld“, Sören Kierkegaards Überlegungen „Über die Angst“ und „Die Krankheit zum Tode“, Józef Tischners Untersuchungen über „Das menschliche Drama“, Bernhard Weltes Analyse „Über das Böse“ im Werk von Thomas von Aquin und Gedanken von Karol Wojtyła sind weitere wesentliche Bausteine dieser Reflexion. An anderer Stelle habe ich die Gedanken ausführlich entfaltet1, ich möchte sie hier in einer leichter lesbaren Form zusammenfassen.
I DIE STRUKTUR DER GÜTE
Das Böse ist böse, weil es etwas Gutes verletzt oder zerstört. Hinter jedem Bösen scheint so das Gute auf, durch das sich das Böse erst als solches entlarvt. Das Gute ist also vor dem Bösen. Von dieser Priorität des Guten gegenüber dem Bösen geht die biblische Botschaft aus. Am Anfang steht die Güte Gottes, die die Schöpfung prägt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: es war sehr gut“. Im folgenden Kapitel wollen wir versuchen, uns ein Bild vom ursprünglichen Gutsein des Menschen zu machen. Dann fragen wir nach dem Grund des Abfalls vom Guten, nach der Struktur des Bösen und schließlich nach der Möglichkeit der Heilung.
Berufung zur Liebe
„Ich“ kann nur jemand sagen, der angesprochen wurde und Antwort gibt. Bevor der Mensch irgendetwas ist, ist er „vorursprüngliche Empfänglichkeit“2, in der er den Anruf vernehmen kann, der seinem Leben Sinn gibt. Die Mutter vermittelt: „Es ist gut, dass es Dich gibt! Diese Welt will, dass Du da bist.“ Das ist wie eine Verheißung für die Zukunft. Diese Mutterschaft ist eine fundamentale Dimension in jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Sie bedeutet Anerkennung der Person, Einsetzung der Freiheit und Eröffnung von Zukunft.
Es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie der Freiheit, die sie einsetzt, sofort einen Inhalt gibt. Liebe will Liebe als eine freie Antwort, die aus dem Herzen des Anderen kommt. Liebe bedeutet nicht nur Bejahung, sondern auch Berufung. So wie die Mutterschaft als Prototyp der Liebe angesehen werden kann, die trägt und Leben schenkt, kann die Liebe, die durch die erotische Begegnung auf den Weg gebracht wird, als Prototyp der Liebe gelten, die in die Ganzhingabe ruft. In dieser Liebe empfange ich meine Identität als Mit-dem-Anderen-sein und Für-den-Anderen-sein. Diese „Fremdbestimmung“ entfremdet nicht. Indem ich als von der Liebe Ergriffener liebend Antwort gebe, erlebe ich die mit wachsender Liebe wachsende Fremdbestimmung als menschlich immer erfüllender. Obwohl ich es vielleicht könnte – denn die Liebe vergewaltigt nicht, sondern befreit – will ich mich ursprünglich von der Liebe nicht abwenden. Ich käme gar nicht auf die Idee, liegt doch da mein ganzes Lebensglück! Der menschliche Wille ist immer dem Guten zugeneigt.
Die Beziehung zum Anderen hat ein alles entscheidendes Charakteristikum: sie erreicht ihn nie. Denn das Wesentliche in der Begegnung ist nicht das Äußere der Erscheinung des anderen Menschen. Wenn er oder sie mich anschaut, dann spricht mich etwas an, was von „jenseits“ der äußeren Erscheinung kommt, aus einer Dimension der Unendlichkeit. Das, was dahinter liegt, ist nicht zu „begreifen“, und doch macht es das Eigentliche aus. Es bleibt Geheimnis, dessen Ruf nicht auffordert, es kennen zu lernen, um dann wie ein Faktum gewusst zu sein, sondern sich anzunähern mit Achtung und Ehrfurcht. Ich kann nie wissen, woran ich mit dem Anderen bin. Ich kann nur vertrauen.
Selbst die größte Hingabe für den Anderen ist nur in zweiter Linie eine Aktivität. Die bleibende Basis ist eine lebendige Passivität: offenes Dasein-für, Bereitschaft, sich betreffen zu lassen, hörendes und dienendes Bereitsein. Sie will dem Leben des Anderen zum Aufblühen verhelfen, sie ist Verantwortung für die freien Initiativen des Anderen. Nur so kann ich den Anderen als Anderen ernst nehmen. Warten und Geduld sind deshalb wesentliche Bestandteile der Beziehung. Die Liebe zwingt nicht, sondern lebt von der Verheißung.
Die Welt des „Es gibt“
Das, was mich vom Anderen erreichen und was ich „haben“ kann, ist das, was sein Ausdruck ist. Das, womit allein ich den Anderen erreichen, was ich ihm geben kann, ist mein Ausdruck. Der Ausdruck entsteht zwischen uns, zwischen mir „diesseits“ und dem Anderen „jenseits“, indem die Welt, die zwischen uns liegt, zum Träger unserer Botschaft wird. Wenn ich dem Anderen einen Strauß Rosen schenke, sagen sie unendlich viel mehr, als äußerlich zu beschreiben ist. Wenn ich den Körper des geliebten Menschen liebkose, liebkose ich mehr als den Körper, ja, im Grunde liebkose ich nicht den Körper, sondern den Leib, insofern er Ausdruck der Wahrheit des Anderen ist, die jenseits des äußerlich Berührbaren wohnt. Und doch ist anders als vermittels dieser Äußerlichkeiten, des Sinnlichen, Begegnung und Liebe nicht möglich. Nur leibhaftige Liebe ist Liebe. Nur sie kommt auf eine „jenseitige“, gnadenhafte Weise beim Anderen an und kann Freude auslösen. Die Blumen landen in der Vase, die Küsse auf der Haut, aber das Gemeinte im Herzen. Das Antlitz, der ganze Leib sind nur eine Spur des Anderen. Alles, was zwischen uns ist, hat deshalb kerygmatischen Charakter, ist Verkündigung seiner Bedeutung für unsere Beziehung. Allem, was zwischen uns ist, ist diese Bedeutung eingezeichnet, Gabe zu sein im Geschehen der Liebe.
Die Zeit der Liebe ist wesentlich Zeit der Arbeit. Um dem Anderen gut zu tun, entwerfe ich die Welt auf eine gemeinsame hin. Alles, was „es gibt“, sammle, plane, verwalte, beherrsche ich. Alles kommt unter die Herrschaft meiner Sinngebung, die ihr Licht wiederum vom Antlitz des Anderen her hat. Mein konkretes In-der-Welt-sein ist wesentlich bestimmt durch die Vorgaben, in die ich mich geworfen finde. Mein Charakter ist bestimmt von den Prägungen, die ich mit meiner Geburt erhalten habe und von der Geschichte, die mir vorausging. Diese Endlichkeit begrenzt meine menschlichen Möglichkeiten, aber nicht meine Freiheit, sie gibt ihr nur einen Ort. Meine Freiheit empfängt ihre alles entscheidende Bestimmung vom Antlitz des Anderen, der mich in meiner gegebenen Situation anruft. Diese Gebundenheit an das Konkrete gilt selbst für die Phantasie, die mich orientiert. Weil es Liebe nur leibhaftig gibt, sind auch die Zielvorstellungen, die mich bewegen, leibhaftig und streben eine leibhaftige, endliche Erfüllung an, die der unendlichen Bedeutung Ausdruck verleiht. Deshalb ist jedes konkrete Bild des Glücks immer nur vorläufig und zu überholen. Es ist Symbol, das verweist.
Der „Ort“ im Menschen, an dem die Jenseitsbezogenheit und Diesseitsverwiesenheit, die Enge des Charakters und die Weite der Intentionen zusammenkommen, ist das unruhige Herz. Das Herz ist immer unruhig, weil es vom Antwortgeben lebt, auf die konkrete Erfüllung verwiesen ist und doch darüber hinaus will. Im Dialog biete ich dem Anderen die Welt an und frage, ob er sie annimmt. Diese Frage ist noch nicht die Gabe meiner Welt. Ich biete sie nur an, abgebildet im Wort, und halte mich selber noch zurück. Der Sinn der Darstellung besteht gerade darin, in Frage gestellt zu werden, neu zu suchen und schließlich sich auf eine gemeinsame Ebene zu verständigen. Die Bedeutung der Wirklichkeit ist eine Funktion des Beziehungsnetzes meines Gesprächs. So entsteht das Nachdenken, die Einteilung in Raum und Zeit, die Erinnerung der Geschichte, schließlich die Philosophie als Frucht eines Gesprächs, als die Weisheit der Liebe. Deshalb ist wahre Philosophie ohne Güte nicht möglich. Das Licht, das mir die Welt erhellt und ihr Bedeutung verleiht, scheint nur in der liebenden Hingabe auf, im Antworten auf einen Ruf. Die Ethik ist die erste Philosophie.3
Das gesellschaftliche Zusammenleben
Meine Aufgabe und meinen Ort im Beziehungsnetz der Gesellschaft finde ich angesichts der Anderen. Deshalb steht der Wunsch, in den Augen der Anderen angesehen zu sein und von daher meine Lebensaufgaben zu erhalten, am Anfang meines Bezuges zur Gesellschaft. Wie aber kann in einer Vielzahl von Begegnungen mein Leben eine eindeutige Ausrichtung erhalten? Ich kann nicht alle gleich behandeln. Ein Ort, eine Person oder Personengruppe wird in Hinblick auf alle anderen die nächstliegendste Herausforderung für meine Liebe sein. Mein Gewissen sucht in den vielen Ansprüchen den einen, tiefsten, in dem alle anderen zusammenkommen.
Aber entsteht so nicht die Ethik einer Clique? Kann es so etwas wie Gerechtigkeit vor der Menschheit überhaupt geben? Der kategorische Imperativ (Kant) fordert auf, so zu handeln, „dass du die Menschheit [das Menschsein] sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden Andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“4. Zum Menschsein gehört ein „apriorisches“ Wissen um diese Ordnung der Sittlichkeit. Levinas sieht einen Zugang zur Menschheit in der Sprache. Allen von den Völkern gesprochenen historischen Sprachen liegt das selbe ursprüngliche Angesprochensein, dieselbe Ur-doxa zugrunde, von der her sie das Verschiedene, das sie thematisieren, ordnen. Deshalb sind die verschiedenen Sprachen ineinander übersetzbar. Und deshalb spricht sich in ihnen eine Verwandtschaft aus.5
Die Antwort, die die Liebe provoziert, ist Aktivität, die die Welt gestaltet. Die menschliche Arbeit sieht wie ein „rational organisiertes Kampfunternehmen gegen die Natur“6 (Ricoeur) aus; es erfordert mühsame Beherrschung der Natur, sich in ihr einzurichten. Die gesellschaftliche Gruppe organisiert sich im weitesten Sinne immer als Teilhabe am «Wir» einer Gemeinschaft und als Teilhabe an überpersönlichen Werken, als Kameradschaft im Kampf für eine Idee. In diesem Zusammenspiel hat jeder Einzelne seine Hauptaufgabe, seinen Ort, an dem er für „alles“, für das Gelingen des ganzen Unternehmens verantwortlich ist. Leidenschaftliche Hingabe an diese Aufgabe entspricht zutiefst dem menschlichen Wesen. Die Arbeit erfordert Beherrschung im gemeinsamen Vorgehen; schon rein technische Erfordernisse verlangen rationale Organisation, Unterordnung der verschiedenen Fähigkeiten unter einen Plan, Befehl und Gehorsam. In größeren Strukturen verfügt immer ein Mensch oder eine Gruppe über die Arbeitskraft anderer. Diese politische Struktur der Macht prägt alle wirtschaftlichen, ökonomischen und sozialen Formen der Gesellschaft. „Die Autorität ist nicht an sich schlecht. Befehlen ist eine unter Menschen notwendige «Differenzierung»“7.
Die göttliche Dimension
Im Bedenken der Zusammenhang stiftenden Urverantwortung fällt uns das Wort „Gott“ ein. Gott begegnet nicht unmittelbar, als einzelne Begegnung neben anderen, sondern nur verborgen in der Liebe, als deren tiefster Grund. In der Hinwendung zum konkreten Menschen erreicht mich ein Ruf mit solcher Absolutheit und Gültigkeit, als ob, wie Levinas sagt, „man im Weltraum mich sucht“8. Wie ein abwesender Dritter bleibt das Woher dieses Rufes unsichtbar im Hintergrund. Deshalb nimmt „Er“ der Begegnung mit den konkreten Menschen keine Aufmerksamkeit weg, sondern wendet meine ganze Liebe diesen zu. „Gott“ kommt in der „Welt“ nicht vor – außer als Spur, als Berufung zur Liebe, als erster und letzter Sinn, der sich nur durch die Antwort meines Lebens eröffnet. Wenn das Wort Gott in unserer Sprache sinnvoll sein soll, kann es nur ein Platzhalter für dieses unfassbare Geheimnis sein, ein Wort, das an die Offenheit und Verwiesenheit der Welt erinnert. Wenn im folgenden von Gott in diesem Sinne die Rede ist, schreibe ich meistens G’tt, um diese Verwiesenheit ins Geheimnis auszudrücken.
Der Gesamtzusammenhang der Welt ist gegeben durch die Eindeutigkeit der Liebe. Alles, was ist, bekommt seine Bedeutung allein durch sie, ist gezeichnet von ihrer Spur. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: es war sehr gut“ (Gen. 1,31). Das trifft sich mit der Lehre des Thomas von Aquin von der inneren Ausrichtung alles Seienden zum Guten9. Die Schwerkraft des Steines, die Spontaneität des Tieres, der erkennende Wille des Menschen, alle haben in ihre inneren Prinzipien das Streben in die Einheit des Guten, das Streben nach G’tt eingezeichnet. Daraus ergibt sich, dass die Aufmerksamkeit auf das, was ist, mit der G’ttesliebe zusammenfällt, wie Simone Weil geschrieben hat10. Es gibt ursprünglich keine Spaltung zwischen dem Bezug zum sinnlich Gegebenen, zur Welt des Seins, und der Beziehung zu G’tt. Deshalb kann ein Naturerlebnis zur religiösen Erfahrung werden. Weil das Konkrete der Weg zum Jenseitigen ist, ist und bleibt es immer „göttlich“ verheißungsträchtig; die Beziehung zum Seienden entscheidet das Ganze meines Glücks. Entscheidend für die G’ttesbeziehung ist nicht das Verhältnis zu den Dingen, sondern zum anderen Menschen, in das sich alle Dinge einordnen. Ich bin getroffen von einem Anspruch, der auch alle anderen Menschen anspricht, der eine Vaterschaft bedeutet, die uns alle zu Geschwistern macht. Durch ihn verstehe ich mich als Berufenen in einer weltumfassenden Familie. Die sittliche Ordnung, die das Zusammenleben formt, ist deshalb eine religiöse Ordnung.
Wenn wir hier versuchen, einen Urzustand zu imaginieren vor dem Verdorbenen, ist keine Synagoge oderKirche als besonderer Ot der G’ttesbegegnung nötig, weil alle als Kinder G’ttes leben. Auch der Dekalog, dessen Gebote ja gegen die Macht des Bösen zum Guten aufrufen, und das Kreuz, als Zeichen der Erlösung von der Macht des Bösen, machen hier noch keinen Sinn. So paradox es erscheinen mag, der ursprüngliche Glaube an G’tt ist ein Leben, als ob es G’tt nicht gäbe. Die Thematisierung und Ausdrücklichkeit der G’ttesbeziehung beginnt erst mit ihrer Fraglichkeit.
Das Ursprüngliche ist nicht Lebenwollen, sondern Liebenwollen, und das heißt Sterbenkönnen. Lieben bedeutet, sich zur Gabe zu machen für den Anderen, sich selbst zu verlassen und sich dem zukunftsträchtigen Geheimnis des gemeinsamen Lebens anzuvertrauen. Jedes Lieben bedeutet Sterben. Es ist im Grunde die Grundbewegung, die menschliches Leben überhaupt ausmacht. Es bleibt immer Gnade, dann Leben zu finden, es ist immer ein Wunder der Auferstehung. Die Berufung aber trägt diese Verheißung schon in sich. „Jenseits des Seins“ ist nicht Nichts, sondern die Liebe. Der Tod wird erst schwer, wenn er seinen reinen Ort in der Liebe verliert.
II DER ABFALL VOM GUTEN
Es gibt das Böse
Eine Maschine, ein Computer, sogar ein Tier können nicht böse sein, auch wenn sie gefährlich sind, denn sie können zum eigenen Verhalten kein kritisches Verhältnis einnehmen. Das kann nur der Mensch. Im Gegensatz zum physischen „Übel“ ist ein moralisches „Böses“11 eine Tat der Freiheit des Menschen. Deshalb ist ein Verhalten nur dann böse, wenn es ein gewollter Gegensatz zum Guten ist. Dass dies so ist, lässt sich von außen nicht feststellen. Nur das Schuldbekenntnis erweist, dass der durch die Tat beim Anderen verursachte Schmerz nicht nur ein Fehler, ein Irrtum oder eine ungünstige Folgeerscheinung war, sondern Missbrauch von Freiheit, moralische Schuld.
Böse sein bedeutet, der Verantwortung, in die wir gerufen sind, nicht gerecht zu werden. Die Liebe zu verletzen. Das Brot nicht zu teilen. Das Böse ist dialogisch, es spielt sich zwischen Menschen ab, es ist Verrat eines Versprechens, Bruch einer Verheißung. Das Gute ist Treue.12 Da alle Einzelverantwortungen im Leben eines Menschen in der einen Ur-Verantwortung zusammenlaufen, konzentriert sich das Bösesein auf die Verweigerung eines Ja zu dieser Ur-Beziehung. Böse ist ein Mensch, der seine eigene innerste Berufung nicht vollzieht, der sein Leben nicht für den Anderen und für die Menschheit hingibt. Wir können pointiert sagen: böse ist ein Mensch, der G’tt nicht liebt. Es geht also um eine Grundoption, die im Herzen des Menschen gefällt wird und durch die er über seine grundsätzliche Lebensausrichtung frei entscheidet.
In dieser Grundoption kann der Mensch jedoch nicht das Böse als Böses wollen. Er kann nicht frei werden von seiner Hinneigung zum Guten. Deshalb ist die Abwendung von G’tt nur möglich, indem ein Idol entsteht, das zum Ziel aller Hingabe wird. Das ist deshalb möglich, weil der Mensch als „endliche Unendlichkeit“ geschaffen ist, als Wesen, das berufen ist, in endlichen Schritten seine unendliche Berufung zu ergreifen. Die menschliche Existenz ist durch eine scheinbar paradoxe Situation bestimmt: weil es ihr um G’tt geht, kann sie frei sein in ihrer Bindung an das endliche Sein, und weil sie ans endliche Sein gebunden ist, kann sie frei werden von G’tt.
Die Abwendung von G’tt
Liebe bedeutet Ganzhingabe an den Anderen auf Vertrauensbasis. Das Nein zu G’tt ist Todesangst vor der Liebe, die fürchtet, dass die Identität des Ich ver-nicht-et würde, dass dem Sterben keine Auferstehung folgt. Im Nein zu G’tt wird der Verheißung nicht mehr vertraut. Warum?
Ich brauche Bejahung und Annahme so nötig wie das tägliche Brot, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nicht immer erlebe ich Bejahung. Das Ausbleiben des Ja der Liebe wird nicht lediglich als „Nichts“ erlebt, sondern als Verweigerung, als Nein, das mich meint. Der Andere will mich nicht. Ich soll in seiner Welt nicht sein oder zumindest nicht so sein, wie ich bin. Es ist wie ein todbringender Angriff, dessen einziger Grund – vor aller Schuld – mein Dasein ist. Es ist die Erfahrung eines Widerrufs der ursprünglichen Verheißung von Leben, die mir der Schöpfungsakt, die „Mutterschaft“, mit auf meinen Weg gegeben hat. Wegen dieser „göttlichen“ Macht sind die zwischenmenschlichen Beziehungen das Empfindlichste und zugleich alles Entscheidende im Leben eines Menschen. Alles Gute und alles Böse wird hier geboren.
Und ist damit nicht auch zwangsläufig das Vertrauen in G’tt verletzt? Der Aufschrei: „Mein Gott, warum…?“13, der sich mit der radikalen Leiderfahrung verbindet, zeugt von diesem personal-relationalen Charakter des erlebten Übels, der aller Erfahrung des Übels als Nichts und Leere vorausgeht. Die Angst ängstigt sich vor G’tt, der gegen mich ist und der mir mit dem Nichts, der Vernichtung droht. Wenn der Andere mich in diesem Sinne tötet, dann tötet er in gewisser Weise im Namen G’ttes. Er tötet mein Vertrauen zu G’tt. Er zerstört die Grundlage meiner Hoffnung und Zuversicht, weil er die Verheißungen der Grundvertrauen stiftenden „Mutterschaft“ Lügen straft. Nicht, ob es G’tt gibt, ist die wichtigste Frage der Theodizee, sondern: Wie kommst du auf den Gedanken, dass G’tt einfach nur gut sein könnte?
Mit der Angst in der Wurzel geht alle Gelassenheit verloren. Wie bei einem Ertrinkenden heißt die Alternative nur noch: verzweifelt untergehen oder verzweifelt nach Halt suchen. Oft geht beides zusammen. Die existentielle Haltlosigkeit wird in der Regel verdrängt und überlagert von der Scheinsicherheit, die das endliche Sein bietet, in das man sich flüchtet. Aber unter der Oberfläche zehrt die Angst an der Substanz und bestimmt geheim alles Verhalten. Es entsteht ein Missverhältnis im Menschen, eine Verzweiflung, die Kierkegaard „die Krankheit zum Tode“ nennt. Ich kann nicht nicht sein wollen. Der Verzweifelte verzweifelt über sich selbst als Nicht-Geliebten. Der Tod als eine das Ich vernichtende Macht kommt überhaupt erst jetzt ins Spiel. Diese Verletzlichkeit ist die tiefste Ursache dafür, dass sich ein Mensch von G’tt abwendet und Zuflucht bei einem Idol sucht.
Doch es ist nicht eindeutig, dass Gott nicht gut ist. Es gibt auch noch die andere Erinnerung an die Urgüte. Aufgrund ihrer und aufgrund der Erfahrungen, die es ja auch gibt, die die Urgüte bestätigen, lebe ich. Der Verzweiflung voraus geht deshalb die Verunsicherung. Eine Alternative zum Grundvertrauen ist entstanden. Freiheit in der Wurzel: dass ich mich gegen Gott entscheiden kann bzw. für Gott entscheiden muss. So ist die Sünde also doch eine freie Tat. Alle Schuld ist Verflechtung in Schuld, sie fängt nie „rein“ an, und doch ist sie auch unzweideutig zu verantwortende Schuld, weshalb sie als Schuld bekannt werden kann. „Herz“ bezeichnet in der Bibel das Innere, den Mittelpunkt der Person, nicht nur das Gemüt, sondern auch den freien Willen als Sitz von Gut und Böse. Im Herzen geschieht die Abkehr von der Berufung zur Liebe, im Herzen wird G’tt durch ein Idol ersetzt.
Auf dieser Ebene gibt es keinen Agnostizismus, denn in Bezug auf meine Lebenseinstellung habe ich mich immer schon entschieden. Die Grundfrage des Gewissens ist also: Hörst Du auf die Stimme Deines Herzens, die Dich mit der Liebe verbindet? Der Bruch mit G’tt hat als Entscheidung gegen G’tt personalen Charakter, bevor er in die unpersönliche Struktur der Gottvergessenheit mündet. Die Abwendung von dem Raum, in dem G’tt begegnet, lässt diesen Raum leer und kalt erscheinen. Er verliert allen Sinn und bedeutet nur noch „Nichts“. Dann ist G’tt für meine Welt gestorben. Die Gewöhnung an eine dementsprechende Grundhaltung führt dazu, dass auf die Dauer der Ruf des ganz Anderen in seiner Radikalität nicht mehr gehört wird. Es entsteht ein Leben, das sich im Raum der Lieblosigkeit einrichtet, in dem der Andere kein Geheimnis mehr ist.
III DIE STRUKTUR DES BÖSEN
Von nun an sucht der Mensch in der endlichen Welt den unendlichen Halt seines Lebens – und kann ihn nicht finden. Es entsteht ein Wirklichkeitszusammenhang, eine Struktur des Bösen, die ihre eigenen Dynamiken entwickelt und die Lebenssituation der Menschen grundlegend verändert.
Fundamentalidol SEIN
Weil das Urvertrauen verloren ist, wird der Grundantrieb des Menschen die eigene Existenzsicherung im Bereich des Endlichen. Mit den Dingen gehe ich nun so um, dass sie mir die Bejahung liefern sollen, die ich von „Jenseits“ nicht mehr erwarte. Weil ich mich – und sei es nur in der Tiefe meines Unterbewußssten – erinnere, dass die sinnlichen Gaben mir mit der Freude ihres Genusses die Botschaft mitbringen, dass aus dem Unendlichen ein Angesprochenwerden mich erreicht, welches mir zuspricht: „Es ist gut, dass es Dich gibt!“, möchte ich nun durch den Genuss des Sinnlichen diese Zusage abrufen. Levinas stellt die Grundstruktur des Bösen derart als eine „dem Sein verhaftete“ Lebenseinstellung dar. Nicht das Sein in sich ist schlecht, sondern eine Lebenshaltung, die es innerweltlich verabsolutiert. Deshalb schreibe ich es dort, wo es als transzendenzlos absolut gesetztes SEIN den Inbegriff des Idolischen bezeichnet, in Großbuchstaben.
Weil die Grundstruktur des Bösen wesenhaft angstvolle Haltsuche auf der Flucht vor dem Sterben ist, muss die „Rettung“ irgendeine Beruhigung anbieten. Im biblischen Sündenfallmythos gehen die ersten Worte der Schlange in ihrem Alternativ-Angebot genau auf diese Grund-Angst ein. Durch eine Lüge beruhigt sie die alles entscheidende Frage: „Sterben, sterben werdet ihr nicht“14. Aber es bleibt eine Lüge. Dem Sterben kann ich nicht entfliehen. Es gehört zu mir. Ich kann es nur verdrängen oder mich über seinen wahren Charakter hinwegtäuschen. Das Paradox ist vollkommen: durch diese Lüge kommt der Tod in die Welt. Denn das SEIN, an dem ich mich nun festhalte, ist vergänglich, allein „jenseits des SEINs“ ist die Unvergänglichkeit der Liebe zu finden.
Herr und Knecht
An die Stelle der Liebe tritt die Beziehung von Herr und Knecht. Der Herr hat Macht über den Knecht, weil er ihm das zum Leben Nötige gibt: Brot, Wasser, Nachtlager… Das Interesse des Herrn ist die Sicherung und Rechtfertigung seines eigenen Lebens. Es geht nicht um eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht, sondern um die Einordnung des Knechtes in das Selbstbehauptungssystem des Herrn. Als Knecht verliert der Mensch seine Würde und seine wesentliche Freiheit. Die Würde muss abgegeben werden zu Steigerung der Würde des Herrn. Was bleibt, ist Anteil an der Würde des Herrn und Lebensunterhalt. Wird dieses Verhältnis verinnerlicht, wird der Herr wird zum ethischen Orientierungsprinzip für den Knecht. Die Ablehnung durch den Herrn wirkt dann wie ein Fluch, der verdammt: er vermittelt dem Knecht, dass er kein Daseinsrecht in des Herren Welt hat und gerechterweise tot sein müsste. Diese ethische Todesangst macht den Knecht unfähig, sich aufzulehnen.15
Gleiches gilt für die erotische Beziehung. Sie ist undenkbar ohne das Gewicht und den Antrieb der Sinnlichkeit, undenkbar aber auch ohne die Unterordnung der Sinnlichkeit unter die Verantwortung, die mich vom Antlitz des Anderen her trifft. Verfehlte erotische Beziehung bedeutet Verfehlung der Berufung, die vom Geheimnis des Anderen ausgeht. Die tiefe Sehnsucht nach absoluter Anerkennung wird nicht mehr in Geduld erwartet, sondern eingefordert. Der Andere hat für mich da zu sein, weil ich ihn brauche. Das ist die Grundeinstellung der Vergewaltigung. Ähnlich ist aber auch die Grundeinstellung der sich selbst aufgebenden Unterwerfung, der Sklavenseele. Sie tut dann alles, um in der Gunst des Geliebten zu bleiben. Weil der Mensch der Ort der Begegnung mit dem Transzendenten ist, wird er so leicht zum Idol. Idol und Vergewaltigungsopfer zu sein liegt sehr nah beieinander, wie Herr und Knecht. Das gilt entsprechend für alle zwischenmenschlichen Beziehungen, auch für den Wunsch nach Anerkennung in der Gesellschaft, Ruhm und Macht.
Wenn es in den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht gelingt, sich der Anerkennung des Anderen zu vergewissern, können wir versuchen, „sachlich“ miteinander umzugehen. Damit der Andere, der mich anschaut und anruft, seinen gefährlichen in Frage stellenden Charakter verliert, wird er als Phänomen behandelt, das verstehbar und deshalb integrierbar ist. Das Denken, das für die Dinge gemacht ist, wird auf den Menschen angewandt. Das Gespräch mit ihm geschieht nicht von Angesicht zu Angesicht, es ist keine Annäherung, sondern Einordnung in ein System. Bei Konflikten wird in diesem System der Andere durch „Dialog“ oder Erziehung an seinen Platz gebracht. Um dahin zu gelangen, wird unsere Freiheit (die eigene und die des Anderen) einer „höheren Vernunft“ untergeordnet; wir haben die Aufgabe, die Wahrheit dieser Vernunft zu suchen und uns in ihr zu verlieren. Das ethische Verhalten gegenüber dem anderen Menschen wird politisches Verhalten. Im politischen Leben, wenn es ohne Gegengewicht bleibt, versteht sich die Menschheit von ihren Werken her. Deshalb die große Bedeutung des Geldes. Der Umgang mit dem Menschen wie mit einer Sache verleitet zur Manipulation. „Ist einmal die Macht über ihn wie über ein Ding erworben, erwachsen gerade aus der Sprache, die zur einen Vernunft führen soll, alle Versuchungen der trügerischen Rede, der Werbung und der Propaganda“16. Man tritt dem Anderen nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sein Wille wird zwar anerkannt, aber gebeugt, misshandelt, in seiner Leiblichkeit getroffen. Folter ist der Versuch, die Transzendenz des Anderen zu beherrschen. Diesem Versuch ist sogar Erfolg verheißen – solange der Andere selber am SEIN klebt und Angst vor dem Sterben hat.
Wenn ich den Anderen, der in meine Welt eindringt, weder für mich gewinnen, noch neutral integrieren kann, ist das die Katastrophe. Denn damit verliere ich die Herrschaft über meine Welt, ich habe sie nicht mehr im Griff. Der Andere, weil seinem Wesen nach nicht integrierbar, bedeutet die Möglichkeit von Krieg mit dessen für mich möglicherweise vernichtenden Folgen. So entsteht Hass. Ich kann die Andersheit des Anderen nicht begreifen, sie entzieht sich meiner Macht, aber ich kann töten. Der Krieg ist deshalb die fundamentale Weise des Zusammenseins der dem SEIN verhafteten Menschen. Der Krieg zielt auf die Ausschaltung des Anderen als Anderen. Dieses Bewusstsein prägt nach Levinas den Charakter des abendländischen Denkens, das geneigt ist, „in der Politik als der Kunst, den Krieg vorherzusehen und mit allen Mitteln zu gewinnen, den eigentlichen Vollzug der Vernunft zu sehen“17. Solches Denken kann keinen Ausweg, keinen Weg zum wahren Frieden zeigen. Es bleibt ganz der Kriegsvernunft, die vom unversöhnlichen Gegeneinander der jeweils Anderen ausgeht, verhaftet. Der Friede, der so geschaffen werden kann, bleibt ein Kind des Krieges.
Das systemimmanente „Gewissen“
Der am SEIN orientierte Lebenszusammenhang lässt eine idolische Ordnung erscheinen, an der ich mich orientiere und die mir alles bedeutet. Deshalb die zwangsläufige Tendenz zur Totalität und zum Totalitarismus. In diesem neuen Zusammenhang funktioniert ein systemimmanentes „Gewissen“: gut ist, was das System, welches mein SEIN sichert, aufrecht terhält, böse ist, was es angreift.
„Leben, als ob es G’tt nicht gäbe“ ist ein Leben mit einem gebrochenen Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit. Nicht nur das Jenseits wird ausgeschaltet, auch die Welt des Endlichen selbst spaltet sich mit dem Schwund des Grundvertrauens: eine Hälfte der Wirklichkeit gilt als bedrohlich und droht mit Vernichtung, die andere Hälfte schenkt Leben und Zukunft. Nicht mehr die ganze Welt ist Heimat, sondern nur der Teil, der konkret etwas schenkt. Der Rest ist Feind. Der Böse liebt nur halb. Es ist nicht so, dass er gar nicht lieben würde. Denn außer sich selber liebt er seine Frau, seine Familie, seine Freunde, sein Volk. Nur eben nicht das Ganze der Wirklichkeit. Er liebt nicht seine Feinde. Die Feinde hasst er. Aus der Perspektive der bejahenden Innenseite geschieht die Verneinung des Außen immer mit „gutem Gewissen“. Das eigene Bezugsfeld ruft in die Pflicht und verlangt Opfer. Der ungebremste Egoismus des Einzelnen muss sich auch hier „höheren Werten“ der Gemeinschaft unterordnen. Es gibt die „Begierlichkeit des Fleisches“, die Knechtschaft der Angst usw., kleine und große „Sünden“, die die Gemeinschaft und das angestrebte Ziel zerstören können. Es gilt eine klare Binnenmoral. Wenn das Wohl der Familie oder sogar der ganzen Volksgemeinschaft von meinem Verhalten abhängt, dann wird sehr viel an Disziplin verlangt.
Aus der Perspektive der Opfer, derer, die außen sind und bekämpft werden, tritt der Böse immer als mächtige Ver-nicht-ung auf. Der Böse will, dass die Anderen nicht seien. Er tötet, weil er den Tod fürchtet. Das Gegenteil von Liebe ist in letzter Konsequenz immer Mord, weil das Menschsein des Anderen, sein unendlicher Anspruch, aus der eigenen Welt beseitigt wird. Der Böse sieht nicht, dass er böse ist. Oder genauer gesagt: er will es nicht sehen. Der Böse sieht zwar, dass er Opfer produziert, aber er kann sich unter Umständen sogar damit rühmen. Dadurch, dass er die Opfer als böse erklärt, erklärt er, dass sie die „böse“ Behandlung verdient haben, dass sie also gerechtfertigt und gut ist, denn indem er die Anderen besiegt, siegt „der Gute“.
Idolische Beziehung zu G’tt
Idolisch ist Religion dann, wenn sie nicht Antwort gibt auf den Ruf G’ttes, der als Berufung zur Liebe begegnet, sondern statt dessen der Selbstsicherung dient. Den Gott, der den Egoismus bestätigt, gibt es nicht. Er wird erfunden, um dem wahren G’tt nicht zu begegnen, um sich in der Liebe nicht verlieren zu müssen. Im Leben des Bösen ist die G’ttesbeziehung, die absolute Verantwortung, zerstört. Sie, weil sie in die Verantwortung auch für den „Feind“ ruft, wird zum eigentlichen Feind. Es geht also darum, den letzten entscheidenden „Ort“ der Beunruhigung in den Griff zu bekommen. Solche Religiosität ist in Wahrheit eine „Gottesbeziehung“ „als ob es G’tt nicht gäbe“, also atheistisch.
Wenn die G’ttesbeziehung durch die Liebe nicht gelebt wird – und man kann sie nur in der liebenden Hingabe an den Anderen „verstehen“ – wird sie in Verlängerung des SEINs gedacht. So entsteht die Vorstellung einer „Hinterwelt“ hinter unserer Welt, die wie eine Projektion und damit Bestätigung der innerweltlichen Wünsche in eine „schlechte Unendlichkeit“ erscheint. – Der Tod dieses G’ttes für die Neuzeit ist eine Folge davon. Nach G’tt wurde gesucht, wo er nicht ist. Aber beim Verharren innerhalb des SEINs kommt es langfristig immer wieder zu einer „Rückkehr der mythischen Götter“18, zu einer Vergöttlichung des nichtgöttlichen SEINs. Die nationalsozialistische Ideologie ist ein Beispiel dafür.
Die idolische Religion tritt in den Dienst des Bösen, in den Dienst des Kampfes gegen den Feind. Diese Indienstnahme wird von Józef Tischner eindrucksvoll beschrieben: „Er besucht den Tempel in der vermessenen Überzeugung, sowohl die an Heiligkeit zu übertreffen, die dem Tempel fernbleiben, als auch jene, die neben ihm stehen. Er ist gekommen, um seinen Kampf gegen den Anderen und gegen die ihm feindliche Erde fortzusetzen. Im Tempel, an diesem heiligen Ort, wähnt er sich an der Quelle übernatürlicher Kräfte, die er sich für seine Zwecke dienstbar machen möchte. Die von Gott herrührende Gnade bewertet er als eine Art Kraft und Gewalt. Seinen Glauben an Gott hat er auf das Fundament seines Unglaubens an den Menschen errichtet. […] Auf dem Altar bringt der Mensch nicht mehr sich selbst Gott zum Opfer dar, der Altar wird zum Ort, an dem Urteile gegen die Anderen vollstreckt werden. Am Altar schafft sich der Mensch seine private «Verdammtenschar». Für eine Begegnung gibt es keinen Raum mehr“19.
Es bleibt festzuhalten, dass der Bezug zur Liebe absolutes Kriterium für die Idolfreiheit der Religion ist.
Zerstörerische Wucherung des Bösen
Statt zu vertrauen, dass meine Identität in Gott aufgehoben ist, wird in der Struktur des Bösen die ganze Welt zu einem Schutzwall des geängstigten Herzens umgebaut. So wird ein Kampf gegen die Wirklichkeit geführt. Echte zwischenmenschliche Kommunikation ist so unmöglich. Der Mensch wird zutiefst einsam. Das betrifft auch den Innenbereich der eigenen Welt. In der „Kameradschaft“ und unter „Genossen“ bleibt er einsam, weil er sich über die „gemeinsame Sache“ definiert und nicht mit seinem transzendenten Geheimnis angenommen ist. Das gilt auch für die Ehe, wenn die „Liebe“ der Partner darin ihren Sinn erschöpft, sich einen Ort in der Welt einzurichten. Diese Einsamkeit ist eine fundamentale Entfremdung, die sich zu einer zerstörerischen Krankheit auswächst. Das SEIN kann die metaphysische Sehnsucht nicht erfüllen, es frustriert auf Dauer die Suche nach dem gelobten Land, weil die Anerkennung der innersten Persönlichkeit ausbleibt. Dem Menschen geht auf, dass er als Mensch nicht gewünscht ist. Mit dem Maße, in dem dies bewusst wird, wächst die Wunde, verraten worden zu sein. Der Knecht entlarvt den Herrn als Unterdrücker und Feind und die ganze Welt, die sie verbindet, bekommt eine feindselige Färbung. Auch der Herr, der den Knecht durch Verführung und Drohung gefügig machen will, wird frustriert. Denn er bekommt nicht die echte Anerkennung der freien Person, sondern die Heuchelei des Abhängigen. Auch seine Position baut auf Lüge. Deshalb wird auch ihm der Knecht zum Feind. Nun hat er den Feind nicht nur außerhalb „seiner“ Welt, sondern auch innen. In der idolischen Welt kann niemand glücklich werden, denn ihre Verheißung ist machtvoller, aber leerer Schein, der sich als Betrug erweist.
Je mehr ich meine eigene moralische Fraglichkeit spüre, um so unerträglicher werden Andere, die moralisch gerechtfertigt erscheinen. Denn sie wirken wie eine einzige Anklage, wie ein Verdammungsurteil. Deshalb trifft sie mein Hass, mein „blinder Hass“, weil sie mir etwas zeigen, was ich bewusst nicht sehen will. Das „gute Gewissen“ des Bösen flieht die Begegnung mit dem Guten – stellen kann es sich ihm nicht. „Das Dämonische ist die Angst vor dem Guten“ schreibt Kierkegaard20. Um nicht zuzugeben, dass ich falsch lebe, suche ich einen Sündenbock, mit dem ich die inneren Widersprüche dem Anschein nach erklären kann. Der Sündenbock verhindert, dass ich meine Welt in Frage stellen lassen muss. So wächst die „Verhärtung des Herzens“. Der Mensch wird immer verschlossener gegenüber den Ansprüchen der sittlichen Wirklichkeit und zugleich immer gewalttätiger ihnen gegenüber.
Dadurch entsteht ein Teufelskreis des Bösen. Das Böse hat von sich aus die Tendenz, sich auszubreiten. Der Böse will, dass alle Menschen seinen Egoismus, seine Weltsicht und seine Wertungen mittragen. Die Folgen der Sünde bereiten das Terrain vor, von dem aus die Nachfolgenden ihre Entscheidungen treffen. Wir finden uns immer schon auf zerstörtem Terrain vor, persönlich (im Herzen), gesellschaftlich (im Zwischenmenschlichen) und religiös (in unserer G’ttesbeziehung). Unsere moralische Sensibilität ist geprägt durch die Gesellschaft, durch Tradition und Religion, durch Familie und persönliches Schicksal. Dazu gehören negative Prägungen, Feindbilder, aggressive Verhaltensmuster, die wir unbewußt übernehmen. So entsteht eine moralische Ohnmacht, die zu dem Boden gehört, auf dem wir stehen und von dem aus wir unsere Entscheidungen treffen.21 Ohne hier im Einzelnen näher auf die katholische Erbsündenlehre eingehen zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, dass von hier aus ihre wesentliche Aussage zu verstehen ist. Die Ursünde wirkt sich auf die ganze Menschheit aus, „nämlich durch die Weitergabe einer menschlichen Natur, die der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ermangelt. Deswegen ist die Erbsünde «Sünde» in einem übertragenen Sinn: Sie ist eine Sünde, die man «miterhalten», nicht aber begangen hat, ein Zustand, keine Tat“22. Die philosophische Tradition unterscheidet zwischen actus hominis und actus humanus. Der actus hominis ist die Tat eines Menschen, die u.U. für einen Anderen böse, tödliche Folgen haben kann, aber nicht unbedingt ein actus humanus, ein freier moralischer Akt war, der personal verantwortet wurde.
IV ERLÖSUNG
Die Frage, die sich stellt, lautet: Wie hat das Gute eine Chance? Gibt es „das radikale Gute in der menschlichen Natur“? Und kann es sich gegen die Macht des Bösen durchsetzen?
Der Anspruch G’ttes
Das radikale Gute im Menschen besteht in seiner ethischen Ansprechbarkeit, in seiner Empfänglichkeit für die Forderungen der Sittlichkeit. Diese hört nie auf, die wahre Identität auszumachen, und sie meldet sich immer wieder gegen alle totälitären Einkapselungen des stolzen „Ich“. Diese „vorursprüngliche“ Ansprechbarkeit verbindet mit allen anderen Menschen und mit G’tt. Ich bin ich selbst nur in dieser Verbundenheit – und ich verfehle mich getrennt von ihr. Die Diskrepanz meldet sich als Gewissensbiss. Der Ruf des Anderen kommt immer an und immer zwingt zur Stellungnahme. Deshalb hat das „gute Gewissen“ des Seinsdenkens, das in Wahrheit böse, weil mörderisch ist, nicht das letzte Wort. Das Gewissen, das vom Anderen ausgeht, entlarvt dasjenige, das dem SEIN und seinen Systemen verpflichtet ist. Es gibt einen Gewissensbiss gegen das „gute Gewissen“. Auf diesem Hintergrund unterscheidet Levinas gutes und schlechtes Gewissen23: „gutes Gewissen“ zeichnet den seiner selbst sicheren verschlossenen Menschen aus, „schlechtes Gewissen“ den für den Anderen offenen.
Wenn ich einem anderen Menschen begegne, ihm wirklich begegne, mit ihm rede und ihm in die Augen schaue, sprengt er meine Möglichkeiten, ihn einzuordnen und zu beherrschen. Der Blick des Anderen reißt mich heraus aus meinem Um-mich-selbst-Kreisen und stürzt mich vom Thron meiner Herrschaft. Durch diesen Blick, der in meine Welt eingedrungen ist und den ich nicht mehr vergessen kann, ändert sich alles. Ein Sinn tut sich auf, der tiefer ist als das SEIN und in dem alles SEIN erst Sinn bekommt: die Liebe. Alles Brot, das ich für mich hatte, bekommt jetzt seinen Sinn erst im Teilen. Das Für-den-Anderen-sein-sollen löst eine existentielle Beunruhigung aus. Ich soll das SEIN loslassen, an dem ich mich festhalte. Dadurch werde ich zutiefst verwundbar. Lieben kann nur, wer verletzlich ist, und zwar rückhaltlos. Nur wer von dieser Welt Abschied zu nehmen vermag, kann lieben. – Aber wer kann das? Wie kann man den Anderen annehmen, wenn er den Tod bringt? Die Erlösung kommt aus dem liebenden Entgegenkommen G’ttes. Nur wer G’tt zu vertrauen vermag, kann lieben. Aber wie zu diesem Vertrauen finden?
Offenbarung G’ttes
Die biblische Offenbarung wendet sich von Anfang an gegen die Gefangenschaft in der Struktur des Bösen. Schon die Botschaft der Schöpfungsberichte, die die Tradition des Volkes Israel überliefert hat, ist ein Wunder: anders als in Mythologien und Theologien anderer Völker wird die eindeutige Güte des einzigen Schöpfers bekannt, zusammen mit der ursprünglichen Güte der Schöpfung und des Menschen: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“. Die Unterlegenheit des Bösen, das in der freien Verantwortung der von G’tt geschaffenen und geliebten Wesen wurzelt, durchzieht als roter Faden die ganze jüdisch-christliche Offenbarung. Die größte Gefahr für den Menschen bilden seine Idole, deshalb beginnen die „Zehn Gebote“ mit dem strengen Idolverbot (Ex.20,3-6 u. Dtn.5,7-10). An G’tt festzuhalten, das ist das Fundament, auf dem allein das Leben gelingen kann. Das Fundamentalgebot lautet daher: „Höre Israel! JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen“ (Dtn.6,4-6). Die Liebe zu G’tt ruft in die Konsequenz der Verantwortung vor dem Nächsten. Jesus aus Nazareth ist sich mit dem Schriftgelehrten einig: „Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Mk.12,31). Dieses zweite Gebot ist im Lichte der Liebe G’ttes zu verstehen: absolut. „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt.5,44-48). Jesus hat diese Liebe gelebt, bis zur Hingabe seines Lebens am Kreuz.
Hier wird der wesentliche Unterschied zwischen der Nachfolge Jesu und einem Führerkult deutlich: Jesus nimmt sich selbst ganz zurück, bis in den Tod, um das Vertrauen in den Vater zu wecken, um zum Grundvertrauen in die Weisheit der Schöpfung zu befreien. Er ist gewissermaßen keine neue Zugabe zu der Schöpfungswirklichkeit, sondern die tiefste Offenbarung dieser Schöpfungswirklichkeit selbst. Jesus nachfolgen bedeutet, in ihm dem Vater vertrauen und sich der Herausforderung des personalen Anspruches der Wirklichkeit radikal zu stellen. – Ein idolischer Führer entfremdet von dieser Wirklichkeit und verkündet sich selbst als Ereignis, das jetzt neu und zusätzlich in die Geschichte eingetreten ist und dem alles Vertrauen auf G’tt und alle Einsicht in Wahrheit von nun an übertragen werden muss. Alles Heil hängt jetzt vom blinden (! – denn dem Anspruche der Wirklichkeit entfremdenden) Glauben an ihn ab. Idolischer Führerkult misstraut der Schöpfung und dem in der Schöpfungswirklichkeit verwurzelten göttlichen Bund.
In einer Welt, in der das Grundvertrauen zutiefst verletzt ist, schenkt die Begegnung mit der Offenbarung, die geschichtlich konkret in der Welt des SEINs die göttliche Liebe bezeugt, den Mut, sich auf die Liebe da einzulassen, wo sie Leben kostet.
Bekehrung
Indem ich G’tt Antwort geben will, wird mir bewusst, wie oft ich ihn verstoßen habe. In diesem Verstoßen, nicht in meiner Endlichkeit, liegt meine unendliche und von mir aus nie gutzumachende Schuld. Denn wo immer ich einen Menschen verstoßen habe, habe ich ihn getötet: er sollte in meiner Welt nicht sein. Damit habe ich gewissermaßen G’tt getötet, der mich in ihm ansprach: er sollte in meiner Welt nicht sein. Nach den eigenen Kriterien habe ich mir deshalb aus der Sicht des Anderen die Verdammung verdient: So ein Mörder wie ich soll nicht sein.
Die Botschaft der Offenbarung, daß G’tt den Sünder nicht verdammt, sondern trotz allem ihm barmherzig zugewandt bleibt, ist die eigentlich demütig- und freimachende Erlösungsbotschaft. Die Liebe, mit der G’tt den Sünder liebt, ist eine Liebe, die leidet24. G’tt lässt sich vom Sünder gewissermaßen verletzen und töten und er bejaht ihn doch. Es gibt keine Sünde, die G’tt nicht vergeben würde, es gibt keine Schuld, die die Rückkehr zu ihm unmöglich machte. Wo diese Rückkehr gewollt wird, ist dieses Wollen schon ein Geschenk der Gnade, bedeutet es schon Berührtwordensein von der entgegenkommenden Liebe, die den Wunsch der Umkehr überhaupt erst möglich macht.
Die Rückkehr in die Beziehung zu G’tt bedeutet das Ende der Lüge, ein neuer Realismus, Rückkehr in die Beziehung zu der Wirklichkeit, die mich in die absolute Verantwortung vor dem Anderen ruft. Ausrichtung auf G’tt geschieht als Ausrichtung auf die Liebe. So verstanden entfremdet G’tt nicht den Menschen. Sondern im Gegenteil, die Menschlichkeit des Menschen, die in der Liebe zu sich selbst kommt, wird gestärkt.
Durch diese Annahme seiner Berufung besiegt der Mensch die Macht des Bösen. Das Subjekt durchquert eine „Nacht des Unbewussten“. In dieser Nacht wird die neue Identität geboren. Die Furcht vor dem Tode wandelt sich in die Furcht, einen Mord zu begehen, in die Unmöglichkeit, den Anderen in seiner Sterblichkeit allein zu lassen. Das Antlitz des Anderen macht mein starkes Selbstbewusstsein schwach, lässt mich human werden, erschüttert von der Not des Anderen. Diese Tränen sind es, die die Wahrheit von der Ideologie trennen und die eine neue Identität bezeugen.25
Sich von seinem Selbst zu lösen, um für den Anderen zu leben, ist ein schmerzhafter Prozess. Mein Leben wird zum Opfer für den Anderen. Wahre Kommunikation ist nur möglich, wenn ich bereit bin, den Anderen so zu tragen und zu ertragen, wie er ist, unbeherrschbar. Ich muss ihn tragen in seiner Armut, insbesondere auch mit seiner Schuld, auch wenn er mich verletzt. Diese Bewegung mündet in die Sühne für den Anderen. Wenn ich das Leiden, das ich durch den Anderen erfahre, nicht nur irgendwie aushalte, sondern dabei in einem positiven Verhältnis zu ihm bleibe, dann wird das Leiden durch den Anderen schon für den Anderen. Aufgrund seiner vorursprünglichen Heiligkeit ist der Mensch – gewissermaßen wider Willen – berufen, in der Welt von heute ein Märtyrer der Liebe zu sein. Der Weg der Hingabe an den Anderen wird immer ohne Gewissheit gegangen. Es gibt im Leiden einen Überschuss an Sinnlosigkeit, der verhindert, dass es verrechenbar wird mit einem innerweltlichen Sinn. Geduld und Gebet, Warten auf G’tt und Zeit haben für den Nächsten machen die Grundhaltung des liebenden Menschen aus.
Meine Antwort wäre vollkommen und dem Anruf G’ttes entsprechend, müsste sie sich nicht erst durch den sittlichen Imperativ aus dem Kleben am SEIN herausrufen lassen. Es gibt so viele alte Prägungen, bewusste und unbewusste, die das Verhalten mitbestimmen, dass die Antwort an G’tt nur wie eine große Sehnsucht sein kann, wie ein unendliches Begehren, wie die Beziehung zu einem fernen Licht, das auf holprigen Wegen orientiert. Nachfolge kann nur dem gelingen, der mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht hat, der ihn aus dem Tod befreien konnte26. Und doch gelingt sie nie ganz. Auch die „Heiligen“ müssen die Vergebungsbitte des Vaterunser „in Wahrheit und nicht nur aus Demut“ auf sich selbst anwenden, hat das Konzil von Trient erklärt27.
Zivilisation der Liebe
Durch Gebet als „Arbeit des Herzens“ werden „die Ruinen der Schöpfung repariert“28 und neues Leben, Frieden möglich. In unserem täglichen Miteinanderleben gibt es eine transzendente Grundlage, dank derer wir anders als im Konkurrenzkampf um Lebensraum miteinander umgehen können. Wenn sich das Böse als „Sprachkrise“ beschreiben läßt, weil es die Beziehung zum Anderen abbricht, so das Gute als bleibende Verantwortung und die Fähigkeit zum Wort noch im Leid. „Der Friede ereignet sich als diese Fähigkeit zum Wort. Die eschatologische Sicht zerbricht die Totalität der Kriege und Imperien, in denen nicht gesprochen wird“29.
Es geschieht, dass ich den Anderen, der mir nahe ist, gegen das Böse, das der Dritte ihm antut, schützen muss. Der Hilferuf des Armen enthält fast immer diese Bitte. Sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, würde Flucht aus der Verantwortung bedeuten. Wenn in solch einem Fall der direkte Dialog als Weg aus der Krise unmöglich geworden ist, kann als letzte Möglichkeit Gewaltanwendung übrig bleiben. Das gilt auch für den Krieg. Der wahrhafte Kampf ist an den Geist der Liebe und Geduld gebunden, die den Anderen, den Gegner, auch in seiner Schuld nicht verlässt. Die Geduld „kommt von einem großen Mitleid. Die Hand, die die Waffe ergreift, muss gerade unter der Gewalt dieser Geste leiden“30. Damit der Krieg gegen den Krieg nicht verfestigt, was er bekämpfen will, „braucht es eine Seinsschwäche zweiten Grades: im gerechten Krieg, der gegen den Krieg geführt wird, unablässig zittern – ja schaudern – gerade um dieser Gerechtigkeit willen“31, gerade um der Menschlichkeit aller willen.
Deshalb ist ein Verständnis von Gesellschaft und Staat zu gewinnen, das von der unaustauschbaren Verantwortung für den Einzelnen ausgeht und es unmöglich macht, den Einzelnen nur als Teil einer anonymen Masse zu begreifen. Es geht in diesem Sinne um die Suche nach einer religiösen Ordnung.32 Grundlage für die lebendig verstandene Gerechtigkeit ist der Dialog33, der sich als offene Begegnung versteht und die Bereitschaft voraussetzt, die Geschlossenheit des eigenen SEINs vom Anderen verletzen zu lassen.
„Auschwitz“ ist zum Synonym für Unmenschlichkeit, Gottesferne und Massenmord geworden. Es war auch ein Frontalangriff auf die biblische Offenbarung und deren Menschenbild, mit dem Vernichtungskrieg gegen das jüdische Volk im Zentrum. „Auschwitz“ darf nicht siegen. Wir dürfen uns durch den Schock von „Auschwitz“ nicht verhärten und verbittern lassen, sondern müssen im Gegenteil die Menschlichkeit wieder in ihr Recht einsetzen und die Hoffnung zurückgewinnen, die uns ermöglicht, an die Liebe zu glauben. Stärker als die Macht war, mit der „Auschwitz“ durchgeführt wurde, muss unser Engagement werden, um „nach Auschwitz“ eine Zivilisation der Liebe zu schaffen, deren Mitte die jüdisch-christliche Offenbarung vom Menschen als Ebenbild G’ttes bildet. Ein Beitrag dazu will diese Arbeit sein.
- 1 Manfred Deselaers, „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“: Die Biographie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, 2014.
- 2 EMMANUEL LEVINAS, Humanismus des anderen Menschen. Übers. v. Ludwig Wenzler. Hamburg: Meiner, 1989, S. 73.
- 3 Vgl. dazu LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit : Versuch über die Exteriorität. Übers. V. Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg(Br.)/ München: Alber, ²1993, S. 58.289.442.
- 4 IMMANUEL KANT, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 67, Weischedel IV, S. 61.
- 5 Vgl. LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit , S. 308f.
- 6 PAUL RICOEUR, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 1. Übs. v. M. Otto. Freiburg (Br.)/München: Alber, 1971, S. 153.
- 7 RICOEUR, Die Fehlbarkeit des Menschen, S. 155.
- 8 LEVINAS, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übersetzt von Thomas Wiemer. Freiburg/München: Alber 1992, S. 256.
- 9 Vgl. De Veritate, Quaestio XXII.
- 10 Vgl. SIMONE WEIL, Zeugnis für das Gute. München: dtv, 1990, S. 45-53.
- 11 Die Unterscheidung zwischen dem allgemeineren Begriff „Übel“ und dem spezifisch ethischen „Bö¬sen“ gibt es in anderen Spra¬chen weni¬ger deut¬lich als im Deut¬schen. „The problem of evil“, „le pro¬blème du mal“ umfassen sowohl das Böse wie das Übel. Ähn¬liches gilt für die verschiede¬nen hebräi¬schen und griechischen Aus¬drücke. Der Be¬griff „Sünde“ bezieht sich aus¬drücklich auf die religiöse Bezie¬hung. Allen gemeinsam ist das bedrohliche Lebens¬gefähr¬dende. Vgl. Arti¬kel „Das Böse“ in: Theolo¬gische Realenzyklopä¬die, VII (1981), S. 9.
- 12 Vgl. JÓZEF TISCHNER, Das menschliche Drama. Phänomenologi¬sche Studien zur Philosophie des Dramas. Aus d. Poln. v. Sta¬nisław Dzida. (Übergänge, Bd.21) München: Fink, 1989, S. 244f.
- 13 Im Psalm 22 wird die Gottesferne „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich ver¬lassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“ (v.2) erlebt vor dem Hinter¬grund ein¬stiger Nähe in der Mutterschaft: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf Dich, vom Mutterleib an bist Du mein Gott. Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe, und nie¬mand ist da, der hilft“ (vv. 10-12).
- 14 Gen. 3,4. Buber-Rosenzweig-Übersetzung.
- 15 Vgl. TISCHNER, Das menschliche Drama, S. 179,
- 16 LEVINAS, Dialog. Übs. v. G.u.M. Lorenz-Bourjot. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Bd. 1, Freiburg (Br.): Herder 1981, S. 70.
- 17 Vgl. LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit , S. 19.
- 18 LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit , S. 273.
- 19 TISCHNER, Das menschliche Drama, S. 240f.
- 20 SÖREN KIERKEGAARD, Der Begriff Angst. Düsseldorf: Diederichs, 1958, S. 144.
- 21 Vgl. PIET SCHOONENBERG, Der Mensch in der Sünde. In: Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik. Bd. 2. Einsiedeln, Zürich, Köln: Benzinger, ³1978, S. 895.
- 22 Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, Nr. 404.
- 23 Das französische Wort für Gewissen, „conscience“, ist identisch mit dem für Bewusst¬sein.
- 24 Vgl. LEVINAS, Vom Beten ohne zu bitten. Anmerkungen zu einer Moralität des Jüdischen. In: Damit die Erde menschlich bleibt. Gemeinsame Verantwortung von Juden und Christen für die Zukunft. Hg. v. W. Breuning u. H. Heinz. Freiburg (Br.): Herder, 1985, S. 70.
- 25 Vgl. LEVINAS, Jenseits des Seins, S. 110.
- 26 Vgl. Hebr. 5,7.
- 27 Denzinger-Schönmetzer, Nr. 228-230.
- 28 LEVINAS, Vom Beten ohne zu bitten, S. 69.
- 29 LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit , S. 23.
- 30 LEVINAS, Humansimus des anderen Menschen. Übersetzt u. Einleitung von Ludwig Wetzler. Hamburg: Meiner, 1989, S. 106, Anm. von L. Wenzler, zit. aus: E. LEVI¬NAS, Difficile liberté, 1976, S. 219f.
- 31 LEVINAS, Jenseits des Seins, S. 394.
- 32 LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit , S. 356.
- 33 Levinas unterscheidet zwei grundsätzlich einander entgegengesetzte Weisen des Dialogs. Vgl. zur negativen Dialoggestalt Kap. III.
Gedruckt in: Gott und Auschwitz. Über Edith Stein, den Besuch von Papst Benedikt XVI. und Gott in den Düsternissen der Geschichte. Herausgegeben von Manfred Deselaers, Leszek Łysień, Jan Nowak. UNUM Verlag, Zentrum für Dialog und Gebet, RENOVABIS Krakow-Oświęcim-Freising, 2010.