Manfred Deselaers

Edith Stein –
von Auschwitz aus gesehen1

Gliederung
A  Von Auschwitz aus gesehen
   1. Spannungen der Gegenwart
   2. Der Schrecken der Geschichte
B  Edith Stein und Auschwitz
   1. Edith Stein – wusste sie, was auf sie zukam?
   2. Was bedeutete ihr der Glaube in diesem Zusammenhang?
   3. Die dunkle Nacht
   4. Wie sah sie ihr Verhältnis zum jüdischen Volk?

Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich damals
anzukündigen begann.

Edith Stein, Schwester Teresa Benedicta vom Kreuz, 1938

Ich möchte in zwei Schritten vorgehen: 1. Was das heißt: „von Auschwitz aus gesehen“? Wovon erzählt uns der Ort? 2. Was kann Edith Stein uns auf diesem Hintergrund sagen?

A Von Auschwitz aus gesehen

Es gab etwa 40 Lager, die zu Auschwitz gehörten. Das erste war das sog. Stammlager, das zweite und größte Birkenau, wo auch die Fabrikanlagen zur Menschenmassenvernichtung eingerichtet wurden, die seit 1943 in Betrieb waren. Die Vernichtung der Juden im Rahmen der sog. Endlösung begann 1942. Provisorisch wurde zunächst in umgebauten Bauernhäusern vergast. In einem davon, dem sog. weißen Haus, ist vermutlich im August 1942 Edith Stein vergast worden. Dieser Ort erzählt. Das erste, was ich erwähnen möchte, sind Spannungen um den Umgang mit diesem Gedenkort.

1. Spannungen der Gegenwart
Anfang der 1980er Jahre hatte eine Gruppe polnischer Pfadfinder auf der Wiese hinter den Ruinen des „weißen Hauses“ Kreuze und Davidsterne aufgestellt, um deutlich zu machen, dass dieser abgelegene Ort eine besondere Bedeutung hat, dass er so etwas wie ein Friedhof ist. Auch eine Gedenktafel für Edith Stein an ihrem vermutlichen Todesort wurde aufgestellt.

Am 7. Juli 1997 sagte Elie Wiesel bei einer Gedenkfeier aus Anlass des 50. Jahrestages des Pogroms von Kielce:
Herr Premier [Cimoczewicz], Sie waren so gut, mir zu versprechen, sich persönlich der dutzend Kreuze anzunehmen, die in Birkenau, auf dem größten unsichtbaren jüdischen Friedhof der Geschichte aufgerichtet wurden, an einem Ort, wo religiöse Symbole nicht hingehören. Birkenau selbst ist ein genügend sprechendes Symbol. Die Kamine, die Krematoriumsruinen. Bei aller gebührenden Achtung für alle Religionen und alle Gläubigen, war und bleibt die Anwesenheit von Kreuzen auf der heiligen Erde, die unzählige jüdische Opfer in Birkenau bedeckt, eine Beleidigung. Diese jüdischen Opfer, vor allem aus Ungarn, die dort vergast und verbrannt wurden, waren die frommsten unter den Frommen. Unter ihnen war meine Familie: der Großvater, die Großmutter, Onkel, Tanten, Kusinen. Meine kleine Schwester. Es gibt nicht die geringste Rechtfertigung, über ihre Überreste ein Kreuz aufzustellen. Wer immer das getan hat, mag es mit guten Absichten getan haben, aber das Resultat ist katastrophal, ist Gotteslästerung.

Diese Worte wirkten in Polen wie ein Schock. Schon am nächsten Tag veröffentlichte Weihbischof Gądecki, Sekretär der Kommission für den Dialog mit dem Judentum der polnischen Bischofskonferenz, eine Erklärung mit den zentralen Sätzen:
Auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau kamen neben der großen Mehrheit der Juden auch Christen aus vielen Völkern ums Leben. Dieser Ort ist auch ein Friedhof von Christen, für die das Zeichen des Kreuzes die Verkündigung der Auferstehung bedeutet. […] Es geht nicht darum, irgendwelche religiösen Zeichen und Symbole zu eliminieren, sondern darum, die kommenden Generationen dazu zu erziehen, die Zeichen und Symbole der eigenen und der anderen Bekenntnisse zu achten, damit würdig nebeneinander bestehen kann, was für den einzelnen Menschen den höchsten Wert darstellt.

Im Dezember 1997 wurden die Kreuze, Sterne und die Gedenktafel von der Wiese hinter dem „weißen Haus“ entfernt – für die Öffentlichkeit plötzlich und unvorbereitet, aber nach Absprache zwischen der Gedenkstätte, dem Kultusministerium und dem Ortsbischof. Es stehen dort jetzt vier Gedenksteine, wie an mehreren Stellen in Birkenau, wo besonders viele Asche liegt, wo quasi Gräber sind. Auf ihnen steht in Polnisch, Englisch, Hebräisch und Jiddisch geschrieben: „Im Gedenken an die Männer, Frauen und Kinder, die Opfer wurden des Nazi-Völkermordes. Hier liegt ihre Asche. Mögen ihre Seelen im Frieden ruhen.

2. Der Schrecken der Geschichte
Wovon erzählt dieser Ort historisch? Wovon erzählt diese Ruine des „weißen Hauses“? Was geschah dort? Es gibt einige wenige Überlebende des sog. Sonderkommandos, die im Krematorium gearbeitet haben. Gideon Greif, ein Mitarbeiter der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, hat versucht, sie systematisch zu besuchen, und ein Buch mit Interviews veröffentlicht. Darin berichtet er von Eliezer Eisenschmidt, der eigentlich nicht erzählen wollte, der sich schließlich nur bereit erklärt hat zu diesem Interview, um zu helfen zu erinnern. Von Dezember 1942 bis zur Inbetriebnahme der neuen Krematorien im Mai 1943 arbeitete er an den zu provisorischen Gaskammern umgebauten Bauernhäusern, wo im August 1942 wahrscheinlich auch Edith Stein vergast worden war. Das neue Sonderkommando ist gebildet worden, nachdem die Vorgänger ermordet worden waren. Folgendermaßen erzählt er von seinem ersten Tag im Sonderkommando (11.12.1942):
Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt: Sonderkommando 1 und Sonderkommando 2. In jeder Gruppe waren ca. 150 Leute. Auf unserem Weg nach draußen wurden wir am Tor von SS-Männern mit Hunden umstellt, die uns in den Wald brachten. Dort wurden wir noch einmal aufgeteilt: eine Gruppe wurde für die Arbeit in der Effektenkammer bei der Sortierung der Kleider der Ermordeten eingesetzt. Die zweite Gruppe wurde bei der Leichenverbrennung eingesetzt. Die Deutschen fragten: ‚Gibt es unter Euch Friseure?‘ Einige Männer traten hervor und erhielten Scheren. Dann fragten sie: ‚Wer von Euch ist Zahnarzt?‘ Einige traten hervor und erhielten Zahnarztzangen. Der Rest wurde in Gruppen zu je sechs Leuten aufgeteilt. Zum Beispiel: sechs Leute mussten die Karren mit den Leichen schieben, andere sechs waren die ‚Schlepper‘, die die Leichen zu den Karren bringen mussten. Die Deutschen teilten uns in die Gruppen ein, bevor die Gaskammer geöffnet wurde, so dass wir nicht wußten, um welche ‚Arbeit‘ es ging. Ich wußte natürlich nicht, was wir auf die Karren packen sollten, als ich in der Sechsergruppe neben den Karren stand. Ich hatte schon einige Erfahrung in der Arbeit mit Karren – noch aus der Zeit, in der ich im Getto war, als ich in einer Sägerei arbeitete. Doch dort brachten wir Holzplatten auf Karren zu einer Fähre und entluden sie da.

Man brachte uns in den Hof, öffnete die Tür des Gebäudes, das als Gaskammer diente – und uns wurde schwarz vor Augen. Wir waren völlig schockiert. So etwas hatten wir selbst in unseren schlimmsten Träumen nicht erwartet. Bis heute habe ich diesen Anblick hinter der geöffneten Tür vor mir. Dort stand die unbekleidete Leiche einer Frau, nach innen gebeugt. Wir erstarrten zu Salzsäulen und wußten nicht, was dort geschah. Wir sahen die Leichen in der Gaskammer. Als man begann, die Leichen herauszuholen, erkannten wir, wie sie ineinander verknäult waren. Dann erhielten wir neue Anweisungen: ‚Die Schlepper gehen mit den Gasmasken hinein und holen die Leichen heraus.‘ – ‚Die Zahnärzte untersuchen die Leichen auf Goldzähne. Finden sie Goldzähne, so sind den Leichen die Zähne mit der Zange zu ziehen.‘ – ‚Die Friseure schneiden den Leichen mit den Scheren die Haare ab.‘ Die ‚Schlepper‘ erhielten die Anweisung, die Leichen auf die Karren zu packen und von den Karren später in die großen Gruben zu werfen. Daneben gab es eine Gruppe, die sie ‚Feuerkommando‘ nannten. Diese Gruppe musste das Feuer kontrollieren, in dem die Leichen verbrannt wurden. Als wir diese furchtbaren Anweisungen hörten, waren wir völlig entsetzt. Ich war, wie gesagt, zu der Gruppe eingeteilt worden, die die Leichen auf die Karren packen musste. In den ersten Minuten wagte ich es gar nicht, eine Leiche anzufassen – so etwas war mir in meinem Leben noch nicht geschehen. Ich war natürlich nicht der einzige in der Gruppe, der sich vor einer Berührung mit den Leichen fürchtete. Ich fing erst an zu arbeiten, nachdem ich schwere Stockschläge auf den Rücken erhalten hatte. Da begriff ich, dass ich keinen Ausweg oder keine Rückzugsmöglichkeit hatte. Ich musste mich mit der Idee und meiner Situation abfinden. Man darf das nicht falsch verstehen. Wir hatten keine andere Wahl. Das war mein Schicksal. Wenn jemand anderes an meiner Stelle gewesen wäre, hätte er auch so gehandelt.2

Ich zitiere das, um deutlich zu machen, wovon die Rede ist, wenn wir davon sprechen, dass Edith Stein in Auschwitz vergast wurde. Eigentlich kann man da nur schweigen …

Aber Menschen fragen, sprechen, suchen Orientierung. Im Folgenden möchte ich untersuchen, was auf diesem Hintergrund, von Auschwitz aus gesehen, Edith Stein uns bedeuten kann.

B Edith Stein und Auschwitz

1. Edith Stein – wusste sie, was auf sie zukam? Es gibt viele Spuren in der Biographie von Edith Stein, die darauf hindeuten, dass sie zunehmend ahnte, was auf sie zukam, auch wenn sie es natürlich nicht genau wissen konnte. In ihren Erinnerungen schrieb die Baronin v. Bodmann:
Als die französische Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg aus der Pfalz abzog und am gleichen Abend unsere deutschen Truppen über die Rheinbrücke unter Glockengeläut nach Speyer einzogen, […] war Fräulein Stein sehr ernst und meinte: ‚Sie werden sehen, jetzt setzt erst eine Judenverfolgung ein und dann eine Kirchenverfolgung‘. Ich war einfach platt.“ 3

Edith Stein berichtete von einem zufälligen Gespräch mit einem Mann im Jahr 1933, der „erzählte, was amerikanische Zeitungen von Greueltaten berichteten, die an Juden verübt worden seien. […] Jetzt ging mir ein Licht auf, dass Gott wieder einmal schwer seine Hand auf sein Volk gelegt habe und dass das Schicksal dieses Volkes auch das meine wäre.4

Bekannt ist, dass sie schon sehr früh einen Brief an den Papst schrieb und ihn bat, sein Schweigen zu brechen5. „Ich habe später oft gedacht, ob ihm nicht dieser Brief noch manchmal in den Sinn kommen mochte. Es hat sich nämlich in den folgenden Jahren Schritt für Schritt erfüllt, was ich damals für die Zukunft der Katholiken in Deutschland vorraussagte.6

Später dann im Karmel schrieb sie einen Text, einen Dialog der Mutter Ursula mit der hl. Angela, in dem es heißt: „Was heißt auch Sicherheit? Wo ist ‚gewisses Los‘? Wir sehen ja – und gut ist’s, dass wir drauf gestoßen werden -, wie um uns Bauten in die Brüche gehen, die für die Ewigkeit getürmt schienen. Gewiss ist nur das Eine: dass Gott ist und dass uns seine Hand im Sein erhält. Mag drum die ganze Welt in Trümmer stürzen – wir stürzen nicht, wenn wir an ihn uns halten.7

1941 im Januar sagte sie vor ihrer Schwesterngemeinschaft: „Ein neues Jahr an der Hand des Herrn – ob wir das Ende dieses Jahres erleben, wissen wir nicht.“8

Berühmt ist das folgende Zitat, Ende 1941: „Ich bin mit allem zufrieden. Eine scientia crucis [Kreuzeswissenschaft] kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen: Ave, Crux, spes unica! [Sei gegrüßt, Kreuz, unsere einzige Hoffnung] gesagt.9

1942, schon in Holland, sprach sie vor den Schwestern von ihrer Dankbarkeit für die Aufnahme im Kloster Echt. Aber sie fügte sofort hinzu: „Dabei ist immer in mir lebendig, dass wir hier keine dauernde Statt haben. Ich habe kein anderes Verlangen, als dass an mir und durch mich Gottes Wille geschehe. Bei ihm steht es, wie lange er mich hier läßt und was danach kommt.10

D.h., auch wenn sie versucht, in ein Kloster in die Schweiz zu kommen, sie wusste Bescheid über die Wolken, die sich zusammenzogen. Aus allen Zeugnissen geht hervor, dass sie bereit war, anzunehmen, was kommen sollte, und dass sie „Ja“ sagte zu ihrem Schicksal. In einem Brief 1939 schrieb sie an ihre Ordensvorgesetzte: „Sie schrieben, liebe würdige Mutter, was man mir zum Trost sagen könnte. Menschlichen Trost gibt es freilich nicht …11

2. Was bedeutete ihr der Glaube in diesem Zusammenhang?
Menschlichen Trost gab es nicht. Was bedeutete Edith Stein in diesem Zusammenhang der Glaube, und welche Rolle spielte dabei das Kreuz? Bei ihr sind der Weg zum Glauben und die Bedeutung, die das Kreuz für sie bekommt, eng miteinander verbunden.

Berühmt ist die Szene – sie war noch nicht katholisch geworden (im Nov. 1917): ihr Freund und Mentor während der ersten Studienjahre in Göttingen, der Philosophiedozent Adolf Reinach, war im Krieg gefallen. Sie sollte den wissenschaftlichen Nachlass ordnen und fürchtete sich, seine Witwe zu besuchen. Ich glaube, es ist wichtig zu sehen, dass das ein Punkt in ihrem Leben war, an dem sie nicht nur ganz tief begriff, was ein persönlicher Verlust bedeutet, sondern auch, was die Grausamkeit des Krieges ist, der so viele wertvolle Menschen vernichtet. In diesem Zusammenhang war sie dann überrascht, dass die Witwe, Frau Reinach, als religiöse Christin so gut damit umgehen konnte. Und sie erzählte: „Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten Mal die aus dem Erlöserleiden geborene Kirche in ihrem Sieg über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir.“12

Viele Jahre später schrieb sie einen Dialog zwischen der Mutter des Karmel (in der Karmelgemeinschaft wird die Priorin „Mutter“ genannt) und der Königin Esther aus dem AT. Esther sagt da u.a.: „Doch kam ein Tag, da durch die ganze Schöpfung ein Riß ging. Alle Elemente schienen im Zustand der Empörung, Nacht umhüllte die Welt zur Mittagszeit. Doch mitten in der Nacht stand, wie vom Blitz erhellt, ein kahler Berg und auf dem Berg ein Kreuz, d‘ran einer hing, aus tausend Wunden blutend; uns befiel ein Durst, aus dieser Wunden Quell uns Heil zu trinken. Das Kreuz verschwand in der Nacht, doch uns‘re Nacht durchdrang mit einem mal ein neues Licht, wie nie wir es geahnt: ein süßes, sel‘ges Licht. Es strömte aus den Wunden jenes Mannes, der eben erst am Kreuz verschied; nun stand er in uns‘rer Mitte. Er war selbst das Licht, das ew‘ge Licht, das wir ersehnt‘ von alters, des Vaters Abglanz und der Völker Heil. Er breitete die Arme weit und sprach mit einer Stimme voller Himmelsklang: Kommt zu mir alle, die ihr treu gedient dem Vater und in Hoffnung lebet auf den Erlöser; seht, er ist bei Euch, er holt Euch heim in seines Vaters Reich. Was nun geschah, vermag kein Wort zu sagen. Wir alle, die die Seligkeit erharrten, wir waren nun am Ziel – in Jesu Herz.13

Und wir können hinzufügen: … in Jesu Herz – beim Vater.

Sie verstand das, was im Dritten Reich geschah, als Kampf zwischen Christus und dem Antichristen. Wahrscheinlich 1934 schrieb sie: „Noch ist der Kampf zwischen Christus und dem Antichristen nicht ausgefochten. In diesem Kampf haben die Gefolgsleute Christi ihre Stelle. Und ihre Hauptwaffe ist das Kreuz.14

1939 am Fest Kreuzerhöhung schrieb sie einen Text für ihre Gemeinschaft. Das Fest Kreuzerhöhung ist im Karmel das Fest der Gelübde-Erneuerung.

Der Gekreuzigte schaut auf uns herab und fragt uns, ob wir noch gewillt sind, ihm zu halten, was wir ihm in einer Gnadenstunde gelobt haben. Er hat wohl Grund, so zu fragen. Mehr denn je ist heute das Kreuz das Zeichen, dem widersprochen wird. Die Anhänger des Antichrist tun ihm weit ärgere Schmach an als einst die Perser, die es geraubt hatten. Sie schänden die Kreuzbilder und machen alle Anstrengungen, das Kreuz aus dem Herzen der Christen zu reißen. Nur allzu oft ist es ihnen gelungen, auch bei denen, die wie wir, einst gelobt hatten, Christus das Kreuz nachzutragen. Darum blickt uns der Heiland heute ernst und prüfend an und fragt jede einzelne von uns: Willst Du dem Gekreuzigten die Treue halten? Überlege es wohl! Die Welt steht in Flammen, der Kampf zwischen Christus und dem Antichrist ist offen ausgebrochen. Wenn Du Dich für Christus entscheidest, so kann es Dein Leben kosten. […] Die Arme des Gekreuzigten sind ausgespannt, um dich an sein Herz zu ziehen. Er will dein Leben, um dir das seine zu schenken. Ave Crux, Spes unica! Die Welt steht in Flammen. Der Brand kann auch unser Haus erreichen. Aber hoch über allen Flammen ragt das Kreuz. Sie können es nicht verzehren. Es ist der Weg von der Erde zum Himmel. Wer es glaubend, liebend, hoffend umfaßt, den trägt es empor in den Schoß des Dreieinen. Die Welt steht in Flammen. Drängt es Dich, sie zu löschen? Schau auf zum Kreuz. Aus dem offenen Herzen quillt das Blut des Erlösers. Das löscht die Flammen der Hölle. Mache Dein Herz frei durch die treue Erfüllung deiner Gelübde, dann ergießt sich die Flut der göttlichen Liebe in Dein Herz, bis es überströmt und fruchtbar wird bis an die Grenzen der Erde. Hörst Du das Stöhnen der Verwundeten auf den Schlachtfeldern im Westen und Osten? […] An allen Fronten, an allen Stätten des Jammers kannst Du sein in der Kraft des Kreuzes, überallhin trägt dich seine erbarmende Liebe, die Liebe aus dem göttlichen Herzen, überallhin sprengt sie sein kostbares Blut – lindernd, heilend, erlösend.15

Hier begegnet uns der Stellvertreter-Gedanke. Für Edith Stein ist das Leben im Karmel eine Weise, Liebe in die Wunden der Welt zu fließen zu lassen.

3. Die dunkle Nacht
In der „Kreuzeswissenschaft“ stehen die Sätze: „Wir wissen …, dass ein Zeitpunkt kommt, in dem die Seele … völlig in Dunkelheit und Leere versetzt wird. Es bleibt ihr gar nichts anderes mehr, woran sie sich halten könnte, als der Glaube. Der Glaube stellt ihr Christus vor Augen: den Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen. In seiner Armut und Verlassenheit findet sie die ihre wieder.16

Wir wissen nicht, ob der Glaube Edith Stein auch in der Hölle von Birkenau bis zuletzt geholfen hat. Wir wissen ja nicht einmal sicher, ob sie wirklich in Auschwitz angekommen ist. Es sind nur Vermutungen. Ebenso schließen wir nur aus allem, was sie vorher gelebt hat, dass sie mit ihrem Glauben in den Tod gegangen ist, dass er sie getragen hat. Aber das ist für uns nur eine Hoffnung, wir wissen es nicht. Und freilich ist auch das Schweigen von Edith Stein in Auschwitz beredt.

Ich möchte nochmal die Blickrichtung wechseln. Elie Wiesel hat gesagt, Jesus habe zu kurz gelitten, sei zu schnell gestorben… Wer in Auschwitz leben musste, konnte kein Heiliger bleiben. Elie Wiesel schreibt auch über die Gottesferne im Lager. Die vielleicht berühmteste Stelle17 ist die folgende:
Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erst Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer aufzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.18

Glaube in Auschwitz ist immer Glaube in der dunklen Nacht. In Frage gestellter Glaube. Wenn ich jetzt weiter ein paar Texte von Edith Stein zitiere, dann weil es Texte sind, die mir helfen, wie Spuren, auf denen ich meinen eigenen Glauben wagen kann, wie eine Verheißung, aber ohne Sicherheit. Edith Stein schrieb in der „Kreuzeswissenschaft“:
Die Welt, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, ist ja natürlicherweise der feste Grund, der uns trägt, das Haus, in dem wir uns heimisch fühlen, das uns nährt und mit allem Nötigen versorgt, Quelle unserer Freuden und Genüsse. Wird sie uns genommen oder werden wir genötigt, uns aus ihr zurückzuziehen, so ist es wahrlich, als wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen und als würde es Nacht rings um uns her; als müßten wir selbst versinken und vergehen. Aber dem ist nicht so. In der Tat werden wir auf einen sicheren Weg gestellt, allerdings auf einen dunklen Weg, einen in Nacht gehüllten: den Weg des Glaubens. Es ist ein Weg, denn er führt zum Ziel der Vereinigung. Aber es ist ein nächtlicher Weg, denn im Vergleich mit der klaren Einsicht des natürlichen Verstandes ist der Glaube eine dunkle Erkenntnis: er macht uns mit etwas bekannt, aber wir bekommen es nicht zu sehen.“19

In „Endliches und ewiges Sein“ schrieb sie: „Der Glaube ist ein >dunkles Licht<. Er gibt uns etwas zu verstehen, aber nur, um uns auf etwas hinzuweisen, was für uns unfaßlich bleibt. Weil der letzte Grund alles Seienden ein unergründlicher ist, drum rückt alles, was von ihm her gesehen wird, in das >dunkle Licht< des Glaubens und des Geheimnisses.20

Noch einmal aus der „Kreuzeswissenschaft“: „Wenn die Seele erkennt, dass Christus in der äußersten Erniedrigung und Vernichtung am Kreuz das Größte gewirkt hat, die Versöhnung und Vereinigung der Menschheit mit Gott, dann erwacht in ihr das Verständnis dafür, dass auch für sie das Vernichtetwerden, der >Kreuzestod bei lebendigem Leibe, im Sinnlichen wie im Geistigen<, zur Vereinigung mit Gott führt. Wie Jesus in seiner Todesverlassenheit sich in die Hände des unsichtbaren und unbegreiflichen Gottes übergab, so wird sie sich hingeben in das mitternächtliche Dunkel des Glaubens, der der einzige Weg zu dem unbegreiflichen Gott ist. So wird ihr die mystische Beschauung zuteil, der >Strahl der Finsternis<, die geheimnisvolle Gottesweisheit, die dunkle und allgemeine Erkenntnis: sie allein entspricht dem unfaßlichen Gott, der den Verstand blendet und ihm als Finsternis erscheint. Sie strömt in die Seele ein und kann es umso lauterer, je freier die Seele von allen Eindrücken ist. Sie ist etwas viel Reineres, Zarteres, Geistigeres und Innerlicheres als alles, was der Erkenntnis aus dem natürlichen Geistesleben bekannt ist, auch hinausgehoben über die Zeitlichkeit, ein wahrer Anfang des ewigen Lebens in uns. Es ist kein bloßes Annehmen der gehörten Glaubensbotschaft, kein bloßes Sichzuwenden zu Gott, den man nur vom Hörensagen kennt, sondern ein inneres Berührtwerden und ein Erfahren Gottes, das die Kraft hat, von allen geschaffenen Dingen loszulösen und emporzuheben und zugleich in eine Liebe zu versenken, die ihren Gegenstand nicht kennt.21

Und in einem Brief schreibt sie, dass sie hofft, endlich einmal, in der Ewigkeit, alles klar sehen und verstehen zu können, was für sie jetzt nur unbegreifliches Geheimnis ist. „Meine große Freude ist die Hoffnung auf künftige Klarheit. Der Glaube an die geheime Geschichte muss uns auch immer stärken, wenn das, was wir äußerlich zu sehen bekommen (an uns selbst und an den anderen), uns den Mut nehmen möchte.22

Ich habe das nicht zitiert, um sie gegen Elie Wiesel auszuspielen, sondern um das Feld zu beschreiben, in dem ich suche. Auch Elie Wiesel ist nicht einfach Atheist; der letzte Satz des Abschnittes, den ich zitiert habe, lautete: „Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, solange wie Gott zu leben…“. „Solange wie Gott zu leben“ … – also lebt Gott. Das ist wie ein getarntes Glaubensbekenntnis. Wiesel sagte auch, man könne Auschwitz nicht mit Gott verstehen und man könne es nicht ohne Gott verstehen.23

4. Wie sah sie ihr Verhältnis zum jüdischen Volk?
Wir wissen, dass sie ihr Volk geliebt hat. Wir wissen, dass sie manchmal sehr verärgert war, wenn in ihrem Umfeld antijüdische Bemerkungen fielen. Sie schrieb die autobiographische Geschichte ihrer Familie, um besonders der katholischen Jugend zu zeigen, wie jüdisches Leben ganz realistisch aussieht, entgegen aller Propaganda. Sie hat sich zutiefst innerlich glücklich gefühlt, dass Jesus von ihrer Familie, ihres Blutes war.

Aber trotzdem, in ihrem Testament schrieb sie: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen mit Freude entgegen. Ich bitte den Herrn, dass er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherrlichung, für alle Anliegen des Heiligen Herzens Jesu und Mariae und der Heiligen Kirche, insbesondere für die Erhaltung, Heiligung und Vollendung unseres heiligen Ordens, namentlich des Kölner und Echter Karmels, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schließlich für meine Angehörigen, lebende und tote, und alle, die mir Gott gegeben hat: dass keiner von ihnen verloren gehe.24

Was bedeutet das, dass sie ihr Leben aufopfert, aufopfern will „zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes“? Manchmal wird dieser Gedanke in Lebensbeschreibungen Edith Steins ausgelassen und die Auslassung mit drei Punkten gekennzeichnet, oder es wird mit anderen Worten anders gesagt: „Für ihr Volk, für die Deutschen, für den Frieden“… Und das ist auch gut so, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir Rechenschaft geben darüber, was wir mit der Heiligsprechung von Edith Stein, damit, dass ihr Glaube uns Vorbild sein soll, meinen. Was bedeutet das: sie sühnt für den Unglauben des jüdischen Volkes? Ist das nicht das tödliche, alte, antijüdische Klischee, das hier durchschlägt? Deshalb möchte ich genau darauf eingehen und fragen: Wie hat Edith Stein das gemeint? Natürlich hat sie vor dem II. Vaticanum gelebt, und heute würde sie es vielleicht anders formulieren. Aber die Sätze stehen da. Sie hat sie so gemeint, wie sie dastehen. Also: wie hat sie sie gemeint?

a) „Unglaube“
Zuerst das Wort „Unglauben“. Was meinte Edith Stein mit „Unglauben des jüdischen Volkes“? In den Augen von Edith Stein ist nicht das jüdische Volk als solches ungläubig, denn vom starken Glauben ihrer Mutter hielt sie viel und war überzeugt, dass er sie zu Gott führte. Der „Unglaube der jüdischen Volkes“ bezieht sich m.E. allein auf die Ablehnung von Jesus als Messias.

Wir wissen, dass es für die Mutter ein Schock war, wie ein tiefer Verrat, dass ihre Lieblingstochter katholisch wurde und dann in den Karmel ging. Edith Stein schrieb darüber: „Die letzten Wochen zu Hause und der Abschied waren natürlich sehr schwer. Meiner Mutter etwas verständlich zu machen, war ganz unmöglich. Es bleibt in seiner ganzen Härte und Unfasslichkeit stehen und ich konnte nur gehen in dem festen Vertrauen auf Gottes Gnade und die Kraft unseres Gebetes. Dass meine Mutter selbst gläubig ist, schließlich ihre auch immer noch so starke Natur machen es etwas leichter.25 Und wir wissen, immer wenn Edith Stein nach Hause kam oder wenn die Mutter Briefe schrieb, war es sehr schwierig und spannungsreich, diese Frage zu besprechen. Die Mutter attackierte sie, auch gegenüber den Geschwistern.26

Einmal – Edith Stein ging mit in die Synagoge, wenn sie zu Hause war – einmal ging die Mutter extra den langen Weg zu Fuß zurück, um Zeit zu haben, mit ihrer Tochter Edith zu sprechen. Sie fragte ihre Tochter: „Man kann also auch jüdisch fromm sein?“ Edith Stein antwortete: „Gewiß, wenn man nichts anderes kennengelernt hat.“ „Warum“, fragte die Mutter, „warum hast du ihn kennengelernt?“ – Und dann aber: „Ich will nichts gegen ihn sagen. Er mag ein guter Mensch gewesen sein. Aber warum hat er sich zu Gott gemacht?27

Das ist das – religiöse – Schlüsselproblem zwischen Juden und Christen. Warum hat er sich zu Gott gemacht?! Und, ganz praktisch, in Auschwitz ist eines der Argumente der orthodoxen Juden, dass es ihnen verboten ist, in der Nähe des Kreuzes zu beten, weil die hebräische Bibel verbiete, in der Nähe von Götzendarstellungen zu beten. Wenn die Darstellung von Jesus, dem Gekreuzigten, verstanden wird als Darstellung eines Götzen, (‚Gott ist im Himmel, und da ist noch ein Gott?‘) – dann ist es für fromme Juden verboten, dort zu beten; das ist eines der religiösen Argumente dafür, dass in Auschwitz, auf dem jüdischen Friedhof, kein Kreuz sein darf. Im Milieu des christlich-jüdischen Dialoges herrscht meist ein Konsens darüber vor, dass es uns ja um denselben Gott geht, dass wir, wenn wir glauben, dass er sich in Christus offenbart hat, nicht an einen zusätzlichen zweiten – und dann dritten – Gott glauben, sondern an eine Offenbarungsweise. Aber das ist hier jetzt nicht auszuführen. Ich möchte hier nur betonen, dass die Ablehnung des Christentums bei der Mutter aus ihrer Treue zu ihrem Gottesverständnis kommt.

Edith Stein schrieb in einem Brief: „Darum habe ich meiner Mutter weder die Konversion noch den Eintritt in den Orden je verständlich machen können. […] Ich kann nur darauf bauen, dass sie ihr Leben lang ein kindliches Gottvertrauen hatte und dass es ein Opferleben war.28

Und: „Das ‚Scimus, quoniam diligentibus Deum…‘ [Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten gereicht, Röm. 8,28] wird gewiß auch meiner lieben Mutter zugutekommen, denn sie hat ‚ihren‘ lieben Gott (wie sie oft mit Nachdruck sagte) wirklich lieb gehabt und im Vertrauen auf ihn viel Schweres getragen und viel Gutes getan.“29

Oder: „Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde.30

Der Schlüsseltext für mich stammt vom Fest Kreuzerhöhung im Jahr 1936, dem Jahr, als ihre Mutter starb. Am Fest Kreuzerhöhung, darauf habe ich schon hingewiesen, war im Karmel Gelübdeerneuerung. „Als ich an der Reihe war, meine Gelübde zu erneuern, empfand ich, dass meine Mutter bei mir war. Ich habe ihre Nähe deutlich erfahren.“ Ein Telegramm aus Breslau bestätigte, dass ihre Mutter genau in diesem Augenblick gestorben war. Das war für Teresa Benedicta ein großer Trost. Danach waren Gerüchte aufgekommen, die Mutter hätte sich vor ihrem Tod bekehrt. Edith Stein dazu: „Die Nachricht von ihrer Konversion war ein völlig unbegründetes Gerücht. Wer es aufgebracht haben mag, weiß ich nicht. Meine Mutter hat bis zuletzt an ihrem Glauben festgehalten. Aber weil ihr Glaube und das feste Vertrauen auf ihren Gott von der frühesten Kindheit bis in ihr 87. Jahr standgehalten hat und das Letzte war, was noch in ihrem schweren Todeskampf in ihr lebendig blieb, darum habe ich die Zuversicht, dass sie einen sehr gnädigen Richter gefunden hat und jetzt meine treueste Helferin ist, damit auch ich ans Ziel komme.“31 Das ist im Grunde ein ungeheurer Satz. Die Mutter, die gläubige Jüdin, ist jetzt bei Gott als Fürsprecherin für ihre christliche Tochter, Fürsprecherin dafür, dass auch ihre Tochter das Ziel erreicht, wo sie schon ist, bei dem Gott der Väter. Die jüdische Mutter ist für Edith Stein die beste Fürsprecherin: Edith Stein hat ihren Weg als Christin immer als ihren Weg zu ihrem gemeinsamen Gott verstanden.

Wenn Edith Stein vom Unglauben der Juden schrieb, dann wünschte sie natürlich, dass sie – so wie sie selbst – sehen, wie sehr Gott sie in Jesus Christus liebt.32 Aber wenn sie das nicht sehen können, doch Gott die Treue halten wie ihre Mutter, dann ist das ihr Weg zum Ziel. Nur in diesem Kontext ist das Wort ‚Unglaube‘ zu verstehen: ohne jeden Schuldvorwurf.

b) „Sühne“
Und jetzt das zweite Wort: Sühne. Was meinte Edith Stein mit ‚Sühne für den Unglauben‘? Edith Stein schrieb: „Meine Mutter war das starke Band, das die Familie zusammenhielt, jetzt schon vier Generationen. Jetzt hält sie noch die Sorge um sie alle gefesselt […] Was dann kommt, wird für die Zurückbleibenden schwerer sein. Ich werde mein ganzes Leben hindurch für sie einstehen müssen.33

Sie sah, dass sie in ihrer Familie die Rolle ihrer Mutter übernahm. Sühne ist, davon bin ich tief überzeugt, fast ein anderes Wort für Mutterliebe. Die Mutter hatte die Familie zusammengehalten. Es war eine sehr lebendige und schwierige Familie. Die Mutter hatte ihr Leben aus der Kraft ihres Glaubens dafür aufgeopfert. Und da, wo sie nicht mehr konkret helfen konnte, hatte sie zu Gott gebetet und war vor Gott für ihre Kinder eingestanden. Und sie hatte Ihn – so verstehe ich das – angefleht: ‚Meine Kinder gehen so viele verschiedene Wege. Wenn sie Schuld haben, rechne ihnen ihre Schuld nicht an, sondern rechne das alles mir an!‘ – Das ist, denke ich, ein Urbedürfnis für eine liebende Mutter, so zu flehen. ‚Rechne ihnen ihre Schuld nicht an, rechne sie mir an. Ich nehme deren Schuld auf mich.‘ Dieses Eintreten vor Gott für ihre Kinder verstand Edith Stein jetzt als ihre Rolle in Bezug auf ihre konkrete Familie und in Bezug auf ihr ganzes Volk. Und sie war auch überzeugt, dass ihre Mutter im Himmel für ihre Kinder weiter einsteht. Sie schrieb: „An Allerseelen werden wir beide [mit Bruder Arno] unserer Mutter gedenken. Dieses Gedenken ist für mich immer sehr trostvoll. Ich habe das feste Vertrauen, dass meine Mutter jetzt Macht hat, ihren Kindern in der großen Bedrängnis zu helfen.34

Einzustehen, vor Gott da zu sein für die anderen, sie mit ihrer Liebe nicht zu verlassen, das war jetzt ihre Aufgabe. Sie schrieb: „Ich vertraue, dass die Mutter aus der Ewigkeit für sie sorgt. Und darauf, dass der Herr mein Leben für alle angenommen hat. Ich muss immer wieder an die Königin Esther denken, die gerade darum aus ihrem Volk genommen wurde, um für das Volk vor dem König einzustehen. Ich bin eine sehr arme und ohnmächtige kleine Esther, aber der König, der mich erwählt hat, ist unendlich groß und barmherzig. Das ist ein so großer Trost.35

Sie verstand den Karmel, den Sinn des Karmel in diesem Einstehen vor Gott – für das Volk. Der Prophet Elija auf dem Berg Karmel stand vor Gott für das Volk: „‚So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, vor dessen Angesicht ich stehe …‘ (3 Kön. 17,1). Vor dem Angesicht des lebendigen Gottes stehen – das ist unser Beruf.“ „Die Ordenslegende berichtet, dass die 56 Gottesmutter gern bei den Einsiedlerbrüdern auf dem Berge Karmel geweilt habe. Wir verstehen wohl, dass sie sich an den Ort hingezogen fühlte, wo ihr von alters her Verehrung gezollt wurde und wo der heilige Prophet in demselben Geist gelebt hatte, den auch sie erfüllte, seit sie auf der Erde weilte: losgelöst von allem Irdischen anbetend vor Gott zu stehen, ihn aus ganzem Herzen zu lieben, seine Gnade auf das sündige Volk herabzuflehen und genugtuend für dieses Volk einzustehen, als Magd des Herrn seines Winkes gewärtig zu sein – das war ihr Leben.“37

So sah sie die Rolle des Karmel und ihre eigene Rolle im Karmel. „Es ist ein Grundgedanke alles Ordenslebens, vor allem aber des Karmellebens, durch freiwilliges und freudiges Leiden für die Sünder einzutreten und an der Erlösung der Menschheit mitzuarbeiten.38

c) Das Kreuz und die Juden
Wie verstand Edith Stein das Kreuz in diesem Zusammenhang? Für sie ist klar, dass das Kreuz in ihrem Leben das Schicksal des jüdischen Volkes in dieser Zeit der Verfolgung war. Zu Besuch im Karmel Köln-Lindenthal bei einer Gebetsstunde in der Fastenzeit 1933: „Ich sprach mit dem Heiland und sagte ihm, ich wüsste, dass es sein Kreuz sei, das jetzt auf das jüdische Volk gelegt werde. Die meisten verständen es nicht; aber die es verständen, die müssten es im Namen aller bereitwillig auf sich nehmen. Ich wollte das tun. Er solle mir nur zeigen, wie. Als die Andacht zu Ende war, hatte ich die innere Gewissheit, dass ich erhört sei. Aber worin das Kreuztragen bestehen sollte, das wusste ich noch nicht.39

Und später schrieb sie, dass sie genau in diesem Hinblick ihren Ordensnamen gewählt habe. „Ich muss Ihnen sagen, dass ich meinen Ordensamen schon als Postulantin mit ins Haus brachte [1933]. Ich erhielt ihn genauso, wie ich ihn erbat. Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich damals anzukündigen begann. Ich dachte, die es verstünden, müßten es im Namen aller auf sich nehmen. Gewiß weiß ich heute [1938] mehr davon, was es heißt, dem Herrn im Zeichen des Kreuzes vermählt zu sein. Begreifen wird man freilich niemals, weil es ein Geheimnis ist.“40

Schluss

Edith Stein ist für mich Wegweiserin wegen ihrer Wahrhaftigkeit, wegen ihrer eindeutigen Liebe zu ihrem Volk, wegen ihrer inneren Bereitschaft, diesen Weg zu gehen, wegen der Klarheit ihres christlichen Glaubens, der sie dazu führt, radikal und ohne einen Schatten, liebend und solidarisch mit dem Schicksal der Juden zu sein. Diese Einheit von christlichem Glauben und Liebe zum Volk der Juden in Auschwitz verkörpert sie für mich.

Edith Stein ist ein Aspekt in Auschwitz, und es gibt sehr, sehr viele Aspekte. Im Verhältnis von Christen und Juden brauchen wir bestimmt eine erneuerte Theologie, eine neue Aufarbeitung und ein tieferes Verständnis dessen, was dieses Verhältnis bedeutet. Und dabei muss sich nicht nur im Kopf, sondern auch in unseren Herzen etwas ändern.

Wenn ich Führungen durch die Gedenkstätte mache, erschüttert mich immer besonders der Raum mit den vielen Haaren, und dass ich davon erzählen muss, dass Menschen in Auschwitz nur noch Material waren. Haare wurden zu Stoffen, Goldzähne wurden zu Goldbarren, Asche wurde zu Dünger auf den Feldern. Es gab nicht mehr die Spur von Totenehrung. Es gab nicht mehr die Spur von Ehrung der Lebenden. Was ist da mit dem Menschen passiert? Wie sehen wir heute den Menschen? Edith Stein hat die letzten Jahre (1932/33) als Dozentin in Münster ganz intensiv an der Frage nach dem Menschenbild, an einer Anthropologie gearbeitet.41 Wir brauchen dieses Ringen um den Menschen, um die Würde des Menschen, sehr. Das ist ein Bereich, den ich jetzt nicht näher besprochen habe, für den ich aber Edith Stein sehr wichtig finde.

Wichtig ist die Frage: Wie bekennen wir heute, nach Auschwitz, in Bezug auf Auschwitz, unseren Glauben? Wie bekennen wir ihn so, dass er nicht bedrohend ist für andere, die ihn nicht mit vollziehen können? Oft müssen wir sicher schweigen. Aber wir müssen auch Antwort geben können, wenn uns jemand fragt: Was ist dein Glaube? Woran orientierst du dich? Was denkst du wirklich? Und dann: Was bedeutet das, was du wirklich denkst, für mich? Diese Antwort auf die Aufforderung ‚gib Rechenschaft!‘ (1 Petr 3, 15f.) muss so formuliert sein, dass der andere als der andere, dem die Antwort gegeben wird, grundsätzlich und fundamental ganz ernst genommen wird. Mein Glaubensbekenntnis selbst muss im Dialog Ausdruck des Respektes vor dem Anderen sein. Und da verstehe ich auch Edith Stein als Hilfe; denn gleichzeitig mit ihrem christlichen Glaubensbekenntnis führt sie uns doch als Christen nach Auschwitz, wo sie als Jüdin ermordet wurde. Sie führt uns zu dem Schicksal der Juden als Juden. Die Verehrung von Edith Stein wird für uns Christen und für den Rest der Welt dann gut sein, wenn sie dazu führt, in diesem Dialog die Juden als Juden ernst zu nehmen. Die Bekehrung ist ein Geheimnis, das sich im Herzen abspielt. Die Aufgabe ist zu lieben. Diese beiden Aspekte von: Identität haben, aber diese Identität so haben, dass ich den anderen ernst nehme, ist die Grundvoraussetzung für jeden Dialog.

Trotzdem ist es so, dass Dialog oft nicht geht, weil zu viele Emotionen, zu viele Verletzungen noch da sind. Bevor wir anfangen zu reden, zu diskutieren, Recht zu haben, muss Vertrauen geschaffen werden. Und wir als Christen in Deutschland müssen, um dieses Vertrauen zu schaffen, Ernst machen mit unserer Gewissenserforschung. Auf uns selber schauen. Betroffenheit zulassen von unserer Geschichte des Versagens und der Verbrechen. Und dann Umkehr durchleben, erarbeiten. Das passiert viel zu wenig.

Ich möchte schließen mit einem Zeugnis aus dem Jahr 1962. Herr Wielek, der Edith Stein im Lager Westerbork getroffen hatte, hat folgendes erzählt: Edith Stein bat ihn, einen Brief zu schreiben. „‚Schreiben Sie, bitte, nach Echt, dass man uns noch Rosenkränze schickt‘, bat sie. Ich kann mich noch erinnern, wie merkwürdig mir diese Situation vorkam: der jüdische Rat schreibt von dem Judenlager Westerbork nach einem Kloster in Echt und stellt eine solche Frage… Ich habe hierüber mit Teresia Benedicta gesprochen, und sie antwortete: ‚Die Welt besteht aus Gegensätzen. Manchmal ist es gut, dass diese bestehen. Eine Milderung kann dann ein Vertuschen bedeuten, und das ist nicht gut. Schließlich wird nichts von diesen Kontrasten übrigbleiben. Nur die große Liebe wird bleiben. Wie sollte es auch sonst möglich sein…?‘“42


  • 1  Vortrag in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum aus Anlass der Heiligsprechung von Edith Stein, Berlin am 12. Oktober 1998.
  • 2  In: Gideon Greif, Wir weinten tränenlos … Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1995. S. 176-178.
  • 3  Edith Stein Werke, Bde. I – XVII; Herder: Freiburg, 1950-1994. Im Folgenden abgek.: EWS. Hier: ESW X, Romaeus Leuven, Heil im Unheil, S. 65.
  • 4  ESW X, 77. [Edith Stein Gesamtausgabe, Herder, Freiburg ab 2001. Im Folgenden abgek.: ESGA. Hier: Bd. 1, S. 346]
  • 5  ESGA 28, Br. 251.
  • 6  In: T.R. Posselt, Edith Stein. Eine Frau unseres Jahrhunderts. Freiburg: Herder, 91963, S. 131. [ESGA 1, S. 349] ESGA 28, Br. 251.
  • 7  ESW XI, 157. [ESGA 20, S. 229]
  • 8  ESW XI, 150. [ESGA 20, S. 146]
  • 9  EWS IX, 167. [ESGA 3, Nr. 710]
  • 10  ESW X, 147. [ESGA 3, Nr. 614]
  • 11  EWS IX, 127. [ESGA 3, Nr. 586]
  • 12  ESW X, 39. [Zitat aus der Erinnerung von Sr. Teresia Renata. Nicht in ESGA.]
  • 13  ESW XI, 169. (ESGA 20, S. 242]
  • 14  ESW XI, 122f. [ESGA 20, S. 111]
  • 15  ESW XI, 124ff. [ESGA 20, S. 119-121]
  • 16  ESW I, 107. [ESGA 18, S. 100]
  • 17  Vgl. Michael Berenboim, The Vision of the Void. Theological reflections on the works of Elie Wiesel. Weselayan University Press, Middletown, Connecticut, pb 1982, p. 33.
  • 18  Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa. Frankfurt/M; Berlin: Ullstein 41992, S. 56.
  • 19  ESW I, 39. [ESGA 18, S. 38]
  • 20  ESW I, 25. [ESGA 11/12, S. 32]
  • 21  ESW I, 107. [ESGA 18, S. 100]
  • 22  ESW IX, 157. [ESGA 3, Nr. 693]
  • 23  Vgl. B. Petersen, a.a.O., S. 42.
  • 24  ESW X, 148f. [ESGA 1, S. 375]
  • 25  Brief v. 31.10.1933 [ESGA 3, Nr. 294]
  • 26  Vgl. z.B. ESW IX, 10. [ESGA 3, Nr. 325]
  • 27  ESW X, 80. [ESGA 1, S. 360]
  • 28  ESW IX, 60. [ESGA 3, Nr. 467]
  • 29  ESW IX, 64. [ESGA 3, Nr. 476]
  • 30  ESW IX, 102. [ESGA 3, Nr. 542]
  • 31  ESW X, 116f. Vgl. ESW IX, 68. [ESGA 3, Nr. 482]
  • 32  Am deutlichsten kommt das wohl in dem Text zum Ausdruck „Nächtliche Zwiesprache“ ESW XI, 165ff. [ESGA 20, S. 238ff]
  • 33  ESW IX, 64. [ESGA 3, Nr. 476]
  • 34  ESW IX, 120. [ESGA 3, Nr. 572]
  • 35  ESW IX, 121. [ESGA 3, Nr. 573]
  • 36  ESW XI, 2. [ESGA 19, S. 129]
  • 37  ESW XI, 4. [ESGA 19, S. 131f]
  • 38  ESW VIII, 125. [ESGA 2, Nr. 234]
  • 39  ESW X, 78. [ESGA 1, S. 348]
  • 40  ESW IX, 124. [ESGA 3, Nr. 580]
  • 41  Vgl. ESW XVI „Der Aufbau der menschlichen Person“ [ESGA 14] u. XVII „Was ist der Mensch?“ [ESGA 15]
  • 42  ESW X, 177.

Veröffentlicht von der Edith Stein Gesellschaft, in: Edith Stein. Die Botschaft vom Kreuz und Auschwitz. Speyer 2002. 2019 durchgesehen, Quellenangaben durch ESGA ergänzt.