„Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?“
Vorwort
Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Es scheint, als begännen wir 50 Jahre später gerade erst zu ahnen, wie tief das, was hier geschehen war, das europäische Selbstbewußtsein in Frage stellt. Wenn wir überhaupt aus der Geschichte lernen wollen, wenn wir ernsthaft Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen, dann müssen wir uns der radikalen Erschütterung, für die das Wort „Auschwitz“ zum Symbol geworden ist, stellen. Diese Kreuzwegmeditation will Christen, die sich darauf einzulassen bereit sind, eine Hilfe anbieten.
Papst Johannes Paul II., ehemals für Auschwitz zuständiger Erzbischof in Krakau, sagte am 24.06.1988 im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen in Österreich: „Mensch von gestern – und von heute, wenn es das System der Vernichtungslager auch heute noch irgendwo in der Welt gibt – sage uns, was kann unser Jahrhundert an die nachfolgenden vermitteln? Sage uns, haben wir nicht mit allzugroßer Eile Deine Hölle vergessen? Löschen wir nicht in unserem Gedächtnis und Bewußtsein die Spuren der alten Verbrechen aus? Sage uns, in welche Richtung sollten sich Europa und die Menschheit «nach Auschwitz» … «nach Mauthausen» entwickeln? Stimmt die Richtung, in die wir uns von den furchtbaren Erfahrungen von damals entfernen?“
Wie kein anderer Ort steht „Auschwitz“ für die Krise der europäischen Kultur im 20. Jahrhundert. Eine Besinnung über die Rolle des Christentums in Europa hat auf die Stimme der Opfer zu hören, die mit zur europäischen Kulturgeschichte gehören. Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf das Jahr 2000, zu dessen Vorbereitung notwendig eine Gewissenserforschung gehört1. Man wird die Kultur Europas daran messen können, wie die Menschen mit diesem Ort umgehen.
Der richtige Umgang mit „AUSCHWITZ“ ist nicht leicht, wie zahlreiche schmerzhafte Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre gezeigt haben. In Bezug auf die religiöse Dimension standen Fragen im Vordergrund wie: Wo war Gott in Auschwitz? Kann man „nach Auschwitz“ oder gar „in Auschwitz“ beten? Muß man nicht viel eher schweigen? Und: Wie sollen Christen mit diesem „Friedhof“ umgehen, auf dem die weitaus meisten Toten Juden sind?
Meine persönliche Begegnung mit Auschwitz ist die eines deutschen Katholiken; ich kann nicht anders, als meine Identität mitzubringen. Sie begleitet mich, wenn ich durch Auschwitz gehe, wenn ich Zeugnisse lese oder ehemaligen Häftlingen begegne; sie begleitet mich, wenn ich mich frage, was mir dieser Ort bedeuten soll, sie prägt mich, wenn ich hier bete. Wie anders als mit den Ausdrucksformen der eigenen religiösen Identität soll ich mit diesem Ort umgehen? Zwei wesentliche Bedingungen gibt es: die Toten und die Gefühle ihrer Angehörigen zu achten und die eigenen Überzeugungen von dem Zeugnis des Ortes anfragen zu lassen. Ich bin hier nicht allein, es geschieht Begegnung. Begegnung so radikal, daß ich in den Fundamenten meiner selbst angefragt bin. Die spirituelle Macht diese Ortes liegt, wenn man so will, gerade in dieser fundamentalen Erschütterung, die die Begegnung auslöst.
Die Begegnung ist konkret. Auschwitz war konkret. Es geht nicht um einen dunklen Schock des absolut Schrecklichen, der keine Konturen hätte. Diese Konkretheit spricht – auch wenn das Letzte, das Eigentliche unsagbar bleibt. Fast alle Überlebenden wollen, daß „Auschwitz“ nicht vergessen wird, und sie versuchen uns zu sagen, was nicht vergessen werden soll – auch wenn diese Rede ins Unsagbare mündet. So wird die Identität, die ich mitbringe, sich in dieser konkreten Begegnung bewähren und entwikkeln müssen.
Wer „Auschwitz“ begegnet, merkt sehr schnell, daß dieser Ort verschiedenen Menschen sehr Verschiedenes bedeutet. Jonathan Webber, Sozialanthropologe am Oxford Centre for Postgraduate Hebrew Studies in Oxford, England, und Gründungsmitglied des Internationalen Rates der Gedenkstätte in Auschwitz, beschrieb kürzlich in einem Vortrag über „Die Zukunft von Auschwitz“2 die verschiedenen Gruppen: Für die Juden ist Auschwitz ausschließlich das Symbol für den Holocaust. Für die Polen ist Auschwitz zum Symbolwort nicht für den Holocaust an sich, sondern für die polnische Tragödie während des Zweites Weltkrieges geworden: drei Millionen nichtjüdische Polen starben damals, davon wurden etwa fünfundsiebzigtausend in Auschwitz ermordet. Auschwitz ist in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ein Schlüsselwort für den großen Vaterländischen Krieg: mindestens fünfzehntausend sowjetische Kriegsgefangene wurden in Auschwitz ermordet, sowjetische Truppen befreiten 1945 das Lager. Etwa zwanzigtausend Sinti und Roma wurden in Auschwitz ermordet: dieser Ort ist ein zentrales Symbol für den Massenmord an diesen Völkern. Auch für die Deutschen ist „Auschwitz“ ein wesentliches Symbol in der jüngsten Geschichte, das zur Gewissenserforschung zwingt. Und es gibt noch mehr Bedeutungen. „Die Frage, die gestellt werden muß, ist die: wie können alle diese unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Symboliken ‚in situ‘ nebeneinander fortbestehen?“3
Neunzig Prozent der in Auschwitz Ermordeten waren Juden, ungefähr eine Million. Auch wenn die Bedeutung der Opfer nicht von Zahlen abhängt und niemand Anspruch auf ein Monopol hat, gibt diese Tatsache dem Ort dennoch ein ganz eigenes Gewicht.
Die Vielfalt der Symboliken und die Verschiedenheit des Betroffenseins können zur Chance werden. „Was können wir tun? Der Schlüssel liegt meines Erachtens in der Richtung, die ich bereits angedeutet habe … Es ist gut vorstellbar, daß es beim zukünftigen Symbolcharakter von Auschwitz weniger um eine nationale oder nationalistische Darstellung von Geschichte gehen wird, als vielmehr … um universelle Themen, wie das Wesen des Bösen, d.h. um den Einfluß moralischer, spiritueller und erzieherischer Fragen auf den Menschen im allgemeinen. … Ich bin keinesfalls der Meinung, daß die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Holocaust oder von der symbolischen Repräsentanz von Auschwitz für die Geschichte einer Nation verblassen sollte. Im Gegenteil, ich plädiere dafür, diese historischen Auffassungen durch einen Brückenschlag zu anderen Bedeutungen von Auschwitz hin zu erneuern und gar zu verjüngen. Das Modell ist, wenn Sie so wollen, ein interkonfessioneller Dialog: Jeder soll sich selbst treu bleiben, im Bewußtsein seiner eigenen Tradition, aber durch die bewußte Auseinandersetzung mit dem anderen ermutigt, bereichert und erweitert.“4
So möchte dieser Kreuzweg von meiner Seite aus ein Versuch sein, sich als deutscher Katholik der Herausforderung dieses Ortes zu stellen. Er möchte eine Einladung an andere Christen sein, sich auf diesen existentiellen Dialog einzulassen. Für Nichtchristen ist er vielleicht die Verdeutlichung eines von vielen möglichen „Ansätzen“.
Ich gebe zu, daß ich mich auf das Wagnis dieses „Dialoges“ nur einlasse, weil ich die Hoffnung habe, daß das Ergebnis mich nicht vernichtet, sondern gut sein wird. In dieser Hoffnung trägt mich mein christlicher Glaube, und meine bisherigen Erfahrungen bestärken mich darin.
Ich bin überzeugt davon, daß Oświęcim/Auschwitz eine Schule des Friedens werden muß, ein Lernort für Shalom im weitesten und tiefsten Sinne dieses hebräischen Wortes, damit „Auschwitz“ sich nie wiederholt.
Diese Kreuzwegmeditation verdankt sich vor allem zwei Anstößen. Zum einen lebe ich seit gut vier Jahren als katholischer Priester in einer Gemeinde in der polnischen Stadt Oświęcim (Auschwitz) mit. Oświęcim hat heute ca. 50.000 Einwohner. Der Tradition gemäß besuchen die katholischen Familien am 1. und 2. November jedes Jahres (Allerheiligen- und Allerseelentag) die Gräber ihrer Angehörigen; die Gemeinden ziehen in Prozession über den Friedhof, beten für die Verstorbenen und segnen die Gräber. Es lag nahe, daß die Menschen irgendwie auch den größten „Friedhof“ Europas (allerdings nie zum Friedhof geweiht; sollte man eher „Todesacker“ sagen?) ehren wollten. Es ist inzwischen schon zur Tradition geworden, am Sonntag nach dem ersten November durch das riesige Gelände von Auschwitz-Birkenau zu ziehen und den Kreuzweg zu beten (ohne Gräber zu segnen). Viele ehemalige Häftlinge und Angehörige von Ermordeten gehen mit. Dieser Auschwitzer Kreuzwegtradition verdankt der vorliegende Text seine Grundstruktur und viele seiner Inhalte.
Der zweite Anstoß besteht in einer praktischen Herausforderung. Deutsche christliche Gruppen und Einzelbesucher, die mehrere Tage in Oświęcim/Auschwitz verbringen, um sich der Herausforderung der Erinnerungen, die dieser Ort birgt, zu stellen und nach den Konsequenzen für ihr Leben zu fragen, haben das Bedürfnis, hier zu beten. Mit dieser Kreuzwegmeditation wollte ich ihnen helfen, in einer Besinnungszeit anders als im Stil einer Museumsführung dem Gelände von Auschwitz-Birkenau und seinem „Ruf“ zu begegnen.
So ist dieser Text im Laufe der Zeit gewachsen und hat sich durch viele Begegnungserfahrungen und eigene Reflexionen verändert. Es versteht sich von selbst, daß nur einige Aspekte des ungeheueren Geschehens von Auschwitz berührt werden können. Es ist der Versuch einer Annäherung mit Hilfe des christlichen Glaubens. Ein Versuch, der offen ist für weiteres Wachstum. Diese religiöse Begegnung bleibt ein lebendiger Prozeß.
Mit der Veröffentlichung dieser Kreuzwegmeditation möchte ich auch dazu beitragen, die notwendige christliche Besinnung über „Auschwitz“ in möglichst viele Gemeinden und zu möglichst vielen Menschen zu tragen. Sie macht nicht nur in Auschwitz Sinn. Weil die Züge nach Auschwitz überall angefangen haben, sind wir überall herausgefordert.
Manfred Deselaers
Aachen/Oświęcim, Januar 1995
Einführung
Glauben in Auschwitz ist immer auch ein Ringen um den Glauben. Unser Glaube an Gott wird hier zur Suche nach Gott, die ununterbrochen auf die Frage stößt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Anders ist in Auschwitz Beten gar nicht möglich. Diese Kreuzwegmeditation wollen wir als solch ein Ringen um Gott – und um den Menschen – begreifen. Dabei begegnen uns auch große Glaubenszeugnisse. Aber leere Phrasen werden hier zur Beleidigung der Opfer.
Wenn wir in Auschwitz-Birkenau den Kreuzweg gehen, gehen wir geistig einen doppelten Weg: wir gehen mit den Menschen, die hier litten und starben, und die auf diesem Weg oft auch ihren Glauben verloren haben. Und wir gehen den Weg des Leidens und Sterbens Jesu Christi mit, glaubend, daß Christus den Weg der Menschen hier mitgegangen ist. Er führt uns den Weg zu den Opfern, in die Solidarität mit ihnen, denn alleine würden wir wahrscheinlich davonlaufen.
[Die folgenden Kreuzwegstationen sind jeweils folgendermaßen aufgebaut: Auf ein Bibelzitat folgt eine Erinnerung an die Lagerwirklichkeit, dann einige Gedanken dazu und ein Gebet. Die Worte Bibelstelle, Lagererinnerungen, Meditation, Gebet werden in der Regel nicht mit vorgelesen.]
1.STATION
Jesus wird zum Tode verurteilt
Bibelstelle:
In Galiläa sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert werden und sie werden ihn töten; aber am dritten Tag wird er auferstehen.“ Da wurden sie sehr traurig. (Mt.17,22f)
Lagererinnerungen:
Das Konzentrationslager Auschwitz wurde im Juni 1940 gegründet, anfangs für polnische , dann auch für russische Kriegsgefangene. Ab 1942 wurde dieses Lager zum Ort der fabrikmäßigen Menschenmassenvernichtung, vor allem der Juden. Ungefähr 1 Million Juden, 75.000 Polen, 21.000 Zigeuner, 15.000 russische Kriegsgefangene und Andere wurden hier ermordet.
Wer in Auschwitz ankam, wußte in der Regel nicht, was ihn erwartete. Vielfach bezeugt sind die Begrüßungsworte des Lagerführers Fritsch: „Das hier ist ein Konzentrationslager. … Es gibt hier keinen anderen Ausgang als durch den Schornstein des Krematoriums!“
Meditation:
Beten wir für alle, die zum Tode verurteilt sind, die ausgestoßen werden aus der Gesellschaft, die niemand mehr haben will, die ganz einfach „weg“ sollen. Beten wir für alle, die damit leben müssen, daß ihnen alle Träume ihres Lebens zerstört werden, weil die politische Situation oder die gesellschaftlichen Umstände sie ihrer Lebensmöglichkeiten berauben, wie in den heutigen Kriegsgebieten, wie in den Hungergebieten der Welt.
Gebet:
Herr Jesus Christus, Du hast gesagt: „Was Ihr den geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt Ihr mir getan. Was Ihr ihnen nicht getan habt, das habt Ihr mir nicht getan.“ Hilf uns, diesen Satz immer tiefer zu begreifen.
2.STATION
Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern
Bibelstelle:
Sie übernahmen Jesus. Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelhöhe, die auf hebräisch Golgotha heißt. (Joh. 19,16b-17)
Lagererinnerungen:
Tadeusz Borowski war als Häftling in einem Kommando, das beim Ankommen der Transporte auf der Rampe Gepäck zu sortieren hatte. Er schildert:
„Auf der Rampe wird es immer lebendiger. Vorarbeiter teilen die Leute ein. … Mit lautem Gebrumm fahren Motorräder vor, immer mehr SS-Unteroffiziere springen ab. … Zuerst begrüßen sie sich mit der stolzen römischen Geste der erhobenen Rechten, aber gleich danach schütteln sie sich herzlich die Hände, lächeln sich an, erzählen sich die letzten Neuigkeiten, berichten von zuhause …
«Der Transport kommt!» sagte jemand, und alle Hälse reckten sich. Aus der Kurve krochen Güterwagen heran, der Zug fuhr rückwärts ein. … Hinter den kleinen, vergitterten Fenstern sahen wir Gesichter, blaß, zerknittert und übernächtigt sahen sie aus, die zerzausten, erschrockenen Frauen, die Männer … Plötzlich fing es an, drinnen in den Waggons zu kochen. Hohle Schläge trommelten gegen die Wände. «Wasser! Luft!» Verzweifelte Rufe, Geschrei, das Hämmern der Fäuste. … «Also los! An die Arbeit!» Die Riegel knarrten, die Waggons wurden geöffnet. Eine Welle frischer Luft drang hinein, schlug den Menschen entgegen und warf sie fast um. Sie waren unendlich erschlagen, beinahe zerdrückt von der schweren Last der Koffer, Päckchen, Pakete, Ranzen und Bündel, Rucksäcke und Taschen jeder Art, denn sie brachten alles mit, was ihr früheres Leben bedeutete und ein neues Leben bedeuten sollte …“5
Meditation:
Wir wollen unseren Blick zu denen wenden, die das Kreuz auferlegt haben, den Tätern. Mit das Erschütterndste an Auschwitz ist, zu begreifen, wie „normal“ sie oft waren. Zwar hatte jeder seine unwiederholbare Geschichte erlebt und seine ganz eigenen Entscheidungen gefällt. Aber die wenigsten waren völlig abnorm. Viel von ihnen steckt auch in uns.
Gebet:
Beten wir für die Täter, für die von damals und für die von heute, für alle, die andere Menschen mit dem Kreuz ihres Egoismus, ihrer Hartherzigkeit und Ungerechtigkeit beladen. Beten wir für uns selbst. Wie schnell sind wir dabei, Menschen, die wir für schwierig halten, einfach weg haben zu wollen aus unserer Welt; wie schnell ist für uns jemand „gestorben“. Wie gleichgültig sind wir den Opfern der Welt gegenüber. Schenke uns, Herr, die Gnade der Umkehr. Herr erbarme Dich!
3.STATION
Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz
Bibelstelle:
Aus Psalm 38
Mein Herz pocht heftig, mich hat die Kraft verlassen,
geschwunden ist mir das Licht der Augen.
Freunde und Gefährten bleiben mir fern in meinem Unglück,
und meine Nächsten meiden mich.
Ich bin gekrümmt und tief gebeugt, den ganzen Tag geh ich traurig einher. (11-12.8)
Lagererinnerungen:
Aus den Erinnerungen von Tadeusz Borowski:
Todmüde von der Arbeit und den grauenhaften Erlebnissen an der Rampe, sagt er zu seinem Freund: „Du Henri, ob wir gute Menschen sind?“ – „Warum fragst Du so dumm?“ – „Siehst Du, Freund, in mir kocht eine vollkommen unverständliche Wut auf diese Menschen, weil ich ihretwegen da sein muß. Es tut mir gar nicht leid, daß sie vergast werden. Möge die Erde sich öffnen und sie alle verschlingen! Ich könnte auf sie los gehen, auf alle! Wahrscheinlich ist das pathologisch, ich verstehe es nicht.“ -„Nein, ganz im Gegenteil! Das ist normal, vorgesehen und im voraus einkalkuliert …“6
Meditation:
Jesus fällt unter dem Kreuz. In Auschwitz sind viele unter dem Kreuz gefallen, das ihnen hier zugemutet wurde. Das Schlimmste war nicht einmal das physische Leid, sondern das menschliche Scheitern. Oft war die Rivalität unter den Häftlingen im Kampf ums Überleben so groß, daß es sehr schwer war, solidarisch zu bleiben. Eine Überlebende7 hat gesagt: um bei dem Hunger ein Stück Brot zu teilen, mußte man ein Heiliger sein. Das war schwerer, als in die Gaskammer zu gehen. Aber solche Menschen gab es.
Gebet:
Wir beten für alle, die unter den Erfahrungen dieser Hölle auch moralisch zusammengebrochen sind, die begonnen haben, auf Kosten der anderen nur noch sich selbst zu sehen, die nicht genug Kraft und Glauben hatten, um menschlich zu bleiben. Vergib ihnen, Herr, und vergib auch uns, wenn wir versagen und das Vertrauen in Dich verlieren.
4.STATION
Jesus begegnet seiner Mutter
Bibelstelle:
Aus den Klageliedern 1,12 ; 2,13
Ihr alle, die Ihr des Weges zieht, schaut doch, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, den man mir angetan, mit dem der Herr mich geschlagen hat am Tag seines glühenden Zornes. Wie soll ich Dir zureden, was Dir gleichsetzen, Du Tochter Jerusalem? Womit kann ich dich vergleichen, wie Dich trösten, Jungfrau, Tochter Zion?
Lagererinnerungen:
Links vom Haupttor in Auschwitz II erstreckte sich ab 1942 das Lager für die Frauen verschiedener Nationalitäten. Bis Mai 1943 wurden alle im Lager geborenen Kinder auf grausame Weise ermordet: man ertränkte sie meistens in einem Faß.
Meditation:
Eine Polin, Elżbieta Piotrowska, hat ihr Gedicht „Das Verhör“ überschrieben8:
-Wer hat Euch Kinder ermordet?
-Menschen!
-Was für Menschen waren das?
Haben sie Gesichter von Gespenstern gehabt?
Haben sie tierische Augen gehabt?
-Das waren gewöhnliche Menschen, Menschen wie andere,
mit menschlichen Augen und Zähnen.
-Vielleicht hat sie ein Vulkan geboren?
Vielleicht haben sie keine Mütter gehabt?
-Menschliche Mütter haben diese Menschen geboren.
-Haben sie keine Kinder gehabt?
-Ja, sie haben. Sie haben an sie Briefe geschrieben.
Sie haben an sie kleine Schuhe in Paketen geschickt.
-Wie haben die Menschen Euch getötet?
-Sie haben mit Gas erstickt, ins Feuer gesteckt,
an der Mauer zerschlagen, mit dem Schuh zertreten;
und wenn sie gut waren, erschossen sie.
-Und als sie Euch getötet hatten, was haben sie dann gemacht?
-Sie haben sich mit weißen Tüchern den Schweiß von der Stirn gewischt und gesagt:
„Haben wir heute viel gearbeitet! Die Arbeit war anstrengend.
So viele kleine Kinder!“
Gebet:
Herr, wir beten für die Kinder auf der ganzen Welt, für die ungeborenen und die geborenen, die Kriegswaisen, für die Kinder, die durch traumatische Erlebnisse für ihr ganzes Leben gezeichnet sind. Sei ihnen nahe, laß sie nicht im Stich. Hilf uns, eine kindergerechte Welt zu bauen. Und die ermordeten Kinder nimm an Dein Herz!
5.STATION
Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Bibelstelle:
Gal. 6,2
Einer trage des anderen Last. So werdet Ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Lagererinnerungen:
Hinter dem Frauenabschnitt in Birkenau befand sich das Gebäude für Gaskammer und Krematorium Nr. II. Heute sind nur noch Ruinen erhalten, da die SS vor dem Verlassen des Lagers das Objekt in die Luft gesprengt hat. Bis zu 2000 Menschen wurden in die Gaskammern gepreßt und mit Zyklon-B erstickt. Die Toten standen aufrecht aneinandergepreßt in den Kammern. Sie drückten sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß die Arbeitskommandos Mühe hatten, sie auseinanderzureißen.
Meditation:
Die große Mehrzahl der hier vergasten Menschen waren Juden. An dieser Stelle wollen wir besonders an das jüdische Volk denken. Es ehren. Wir wollen uns zu unserer Schuldgeschichte bekennen. Die meisten Christen in Deutschland haben im Hinblick auf die Juden nicht einer des anderen Last getragen, viele haben schwere Schuld auf sich geladen. Die meisten Christen haben nicht einmal gemerkt, daß jedes Kruzifix, jede Marienfigur den Judenstern hätte tragen müssen. Nach der damaligen Rassenideologie hätten Jesus, Maria und alle Apostel hier vergast werden müssen.
Ein polnisches Gedicht:
Jesus war auch
ein verachteter „Jud“
ein Chassid aus Gallilea oder aus Gallizien.
Die, die regiert
im Kloster von Tschenstochau
war auch „eine Jüdische“
ihr ganzes arbeitssames Leben lang.
Wären nicht beide ins Gas gegangen
mit ihrem Volk
in jenen schrecklichen Zeiten?
(Stanisława Grabska9)
Gebet:
Herr, im Tod werden wir alle gleich. Laß uns tiefer begreifen, daß wir auch im Leben Schwestern und Brüder sind, daß wir alle Grenzen, die Weltanschauungen, Religionen und Konfessionen, Nationalitäten und politische Anschauungen zwischen uns aufbauen, überwinden müssen und berufen sind, einer des anderen Last zu tragen.
6.STATION
Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
Aus dem Hohelied (8,6)
Leg mich wie ein Siegel auf Dein Herz, wie ein Siegel an Deinen Arm! Stark wie der Tod ist die Liebe …
Lagererinnerungen:
An dem Mahnmal, das am Ende der Rampe 1967 errichtet wurde, befinden sich Gedenktafeln, die mit den Sprachen beschriftet sind, die von den Opfern in Auschwitz gesprochen wurden: englisch, weißrussisch, tschechisch, deutsch, französisch, griechisch, hebräisch, kroatisch, italienisch, jiddisch, ungarisch, niederländisch, norwegisch, polnisch, russisch, romanes, rumänisch, slowakisch, slowenisch, serbisch, judeo-spanisch (ladino).
Frau Zofia Pohorecka war als zwanzigjährige junge Frau im Frauenlager in Birkenau eingesperrt. Sie lebte später in Oświęcim und traf sich immer wieder mit Gruppen deutscher Jugendlicher. Sie hat oft erzählt, daß sie nur deshalb überlebte, weil Freundinnen sich unter Lebensgefahr um sie gekümmert hatten, als sie schwer krank gewesen war. Sie bezeugte auch, wie sehr Freundschaft und Liebe, wie sehr Zärtlichkeit stark machen kann.
Meditation:
Im polnischen Kreuzwegtext heißt es: In dieser schrecklichen Umgebung von Leiden, Elend und menschlicher Erniedrigung gab es auch Gesten von Güte, die in jener Umgebung zu heroischen Taten wurden. Laßt uns von ihnen lernen, uns mit dem Bösen, mit der Sünde nicht abzufinden. Es gibt keine Umgebung, die grundsätzlich von dem Auftrag befreien würde, das Böse zu vermindern, der Kränkung zu widerstehen und Leidenden zu helfen.
Gebet:
Heiliger Gott, Veronika hat Jesus in seinem Schmerz ihre Zuwendung geschenkt. Hilf uns, auch in gewalttätiger Umgebung die Fähigkeit zu einfühlsamer Liebe nicht zu verlieren.
7.STATION
Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz
Aus Psalm 44:
Das alles ist über uns gekommen,
und doch haben wir Dich nicht vergessen,
uns von Deinem Bund nicht treulos abgewandt.
Unser Herz ist nicht von Dir gewichen,
noch hat unser Schritt Deinen Pfad verlassen.
Nein, um Deinetwillen werden wir getötet Tag für Tag,
behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat.
Wach auf! Warum schläfst Du, Herr?
Erwache, verstoß uns nicht für immer!
Warum verbirgst Du Dein Gesicht,
vergißt unsere Not und Bedrängnis?
Unsere Seele ist in den Staub hinabgebeugt,
unsere Seele liegt am Boden.
Steh auf und hilf uns!
In Deiner Huld erlöse uns!
Lagererinnerungen:
Auch hier, in Gaskammer und Krematorium III, wurden bis zu 2000 Menschen auf einen Schlag mit Zyklon B erstickt. Zahnärzte öffneten mit Haken die Münder der Leichen und brachen mit Zangen die Goldkronen aus den Kiefern.
Es sah wirklich so aus, als würde das menschliche Verbrechen seinen absoluten Triumph über Gott feiern. Wir wissen, daß für viele Menschen das „Schweigen Gottes“ in jener Zeit nicht zu ertragen war. Vielleicht gilt das besonders für die Juden, für die es ein doppeltes Zerbrechen des Bundes oder ein doppeltes Ende der Welt war, der irdischen und der himmlischen. Aber dieser Ort tiefster Erniedrigung war doch auch ein Ort des unbesiegten Glaubens, des Gebetes. Aus den Gaskammern hörte man jüdische Psalmengesänge. Und auch in der Todeszelle von Maximilian Kolbe konnte man Gebete hören.
Meditation:
Es ist nicht gelungen, den Glauben an den Gott, der Liebe ist, endgültig zu vernichten. Ein halbes Jahrhundert später, im Sommer 1992, beteten hier gemeinsam amerikanische Rabbiner und polnische Bischöfe. Es erklangen die Worte des jüdischen Kaddisch-Gebetes:
Gebet:
„Gepriesen und gelobt, verherrlicht und erhoben, erhöht und gefeiert, hocherhoben und bejubelt werde der Name des HEILIGEN, gelobt sei er, obwohl er erhoben ist über allen Preis und Gesang, Lob und Lied, Huldigung und Trost, die in der Welt gesprochen werden … und das Gedenken an die Ermordeten wird ein Segen und ein Zeichen des Friedens für alle sein.“10
8.STATION
Jesus tröstet die weinenden Frauen
Lk. 23,27f
Es folgte Jesus eine große Menschenmenge, darunter auch Frauen, die um ihn klagten und weinten. Jesus wandte sich ihnen zu und sagte: „Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über mich, weint über Euch und Euere Kinder! …“
Lagererinnerungen:
Im Wald hinter dem Lager Auschwitz II wurden zwei Häuser von ausgesiedelten Polen zu Gaskammern umgebaut. Eines von ihnen nannte man „Weißes Häuschen“ oder „Bunker II“. In der Nähe befanden sich zwei Baracken, in denen sich die Menschen vor dem Eintritt in die Gaskammern ausziehen mußten. Nicht weit von den Baracken entfernt wurden die Leichen in vier großen Gruben im Freien verbrannt.
Hierhin wurden im Sommer 1942 auch die holländischen Katholiken jüdischer Abstammung gebracht, unter denen sich die Karmelitin Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta a Cruce, und ihre Schwester befanden.
Meditation:
Jesus tröstet die weinenden Frauen. Jesus war trotz seines Leidensweges mit seiner eigenen Situation im Reinen. Deshalb war er nicht mehr mit sich selber beschäftigt, sondern ganz frei, die Not der Anderen wahrzunehmen. Wir müssen an uns arbeiten, damit wir mit uns selber ins Reine kommen, damit wir von uns selbst loskommen und die Not der Anderen wahrnehmen.
Auch Edith Stein, derer wir in Auschwitz gedenken, öffnet unseren Blick für die Anderen. Sie, die jüdische Karmelschwester, führt uns Christen zu den Juden, in die Solidarität mit den Opfern, die hier umgebracht worden sind.
Gebet:
Liebender Gott, öffne die Augen unserer Herzen für die Lebenssituation anderer Menschen.
Besonders wollen wir Dich an dieser Station für die Frauen bitten, die bei Konflikten oft die schwerste Last zu tragen haben. Wir bitten Dich, daß ihre Würde geachtet und ihre Schönheit nicht mißbraucht wird, daß die Not ihres Lebens wahrgenommen wird in allen Gesellschaften und Gemeinschaften. Laß uns lernen von Jesus.
9.STATION
Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz
Aus Psalm 40
Ich hoffte, ja ich hoffte auf den Herrn.
Da neigte er sich mir zu und hörte mein Schreien.
Er zog mich herauf aus der Grube des Grauens, aus Schlamm und Morast.
Er stellte meine Füße auf den Fels, machte fest meine Schritte. (2-3)
Lagererinnerungen:
Die Einwohner eines Dorfes auf der anderen Seite der Weichsel konnten mehrmals in der Nacht, beim hellen Schein der brennenden Leichen, einen Zug nackter Gestalten, der aus den Auskleidebaracken in die Gaskammern zog, erkennen. Sie hörten die Schreie der Menschen, die den nahen Tod vor Augen hatten. Am Tage sahen die polnischen Arbeiter, die in einigen hundert Metern Entfernung von den Bauernhäusern neue Krematorien bauen mußten, wie die Häftlinge etwas aus den Türen dieser Häuser herauszogen, auf flache Rollwagen luden und damit zu den Gruben fuhren. Aus diesen Gruben stieg immer wieder schwarzer Rauch. Tausend und mehr Leichen wurden von den Arbeitskommandos in den Gruben aufeinandergeschichtet. Zwischen die Leichenschichten kamen Holzschichten, die mit Methanol in Brand gesteckt wurden.
Meditation:
Jesus ist zum dritten Mal unter dem Kreuz gefallen. Das bedeutet auf diesem Kreuzweg, daß er völlig am Ende seiner Kräfte und ganz allein ist. Er tröstet niemanden mehr, niemand hilft ihm mehr. Er kann nur noch andere mit sich machen lassen, allein darauf vertrauend, daß er von woanders her gehalten wird.
Aus dem „Kreuzweg des Maximilian Kolbe“ von Theo Mechtenberg und Mieczyslaw Koscielniak, einem ehemaligen Auschwitzhäftling, stammt der folgende Text11:
Dem Grauen der Tage folgt kein erlösender Schlaf
Hunger zerschneidet das Gedärm
und der Schmerz hat sich festgefressen
in den Gliedern
dem Dunkel entsteigt die Qual der Gedanken
die Seelen versinken in Einsamkeit
Alpträume beherrschen die Enge der Lager
und Schulter an Schulter mit den Leidensgefährten
erkalten die Toten
in den Nächten erlischt still das Leben
und hinterläßt eine ärmliche Spur
mit dem Ende der Leiden
stirbt auch die Hoffnung
Neben dem Menschen in seinem tiefsten Fall
kniet der Erwählte und bezeugt betend
im Ende neuen Beginn
– Erhebung aus dem Dunkel ins Licht –
und heiligt den Tod
10.STATION
Jesus wird seiner Kleider beraubt
Aus Psalm 22
Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf.
Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand. (8.19)
Lagererinnerungen:
Philomena Franz, eine Sinti, erinnert sich:
„Bei meiner Ankunft in Auschwitz am 21. April … Wir stehen an der Rampe … Plötzlich ein fürchterliches Geschrei: «Ausrichten! Entkleiden!» schreit es. Alle entkleiden sich langsam. Es ist bitterkalt. Ich bekomme eine Gänsehaut. … Abschätzige, neugierige, auch fachmännische Blicke treffen meinen Körper. Das Kleid, das ich noch vor kurzem trug, wird durch ein grobes gestreiftes ersetzt. Meine Füße stecken in großen Holzschuhen. … In zwei Minuten wandelt sich ein Zivilist in einen KZ-Häftling. … Paarweise im Gleichschritt ins Frauenkonzentrationslager, in Steinbaracken. … Zwei SS-Männer mit Ochsenziemer erwarten uns. Eine Aufseherin will mich auf einen Stuhl zerren, aber da ruft schon einer: «Die nicht, die Haare bleiben!» – «Stell Du Dich mal hier an die Seite», befiehlt er, «mach Deine Haare auf.» Ich habe Haare, die bis zu meinen Knien fallen. Und der sagt: «Die sieht aus wie eine Dschungelprinzessin.» … Und die deutsche Frau, die neben mir steht, sagt: «Mensch, nun hast Du es gut, Du kommst nun rüber in das Bordell, da hast Du es besser als im Lager.» Da gehen mir die Augen auf. Mir ist so, als würde ich von einem Mühlstein zermalmt, als müßte ich langsam sterben. Ich schließe die Augen, muß mich an eine Wand lehnen, um nicht umzufallen, denke an meine Angehörigen, die hier gestorben sind und vergast wurden. Mein Gott, was tust Du mir hier an! Das kann ich doch nicht, das halte ich doch nicht aus. Diese Qualen. Dann merke ich, daß mein Kreislauf rotiert. Ärger und Verzweiflung kommen in mir hoch. Ich reiße mein Lagerkleid auf und schreie verzweifelt: «Nein, in den Puff gehe ich nicht, dann erschießt mich doch schon! Erschießt mich auf der Stelle!» … Da packt mich schon die Aufseherin, zerrt mich auf einen Stuhl, reißt mir meinen Kopf nach hinten und schneidet mir brutal und ruckartig die Haare ab. … [Ich werde] die Nummer 10550.“12
Meditation:
In Auschwitz wurden Menschen zu Nummern, ohne jede Individualität. Verwertbare Arbeitskräfte, Material zum Vergnügen der SS-Leute, Rohstofflieferanten selbst noch nach dem Tod: die Haare, das Zahngold, ja sogar die Asche der Leichen wurde weiterverwertet. Für den einzelnen Häftling kam alles darauf an, sich innerlich das Bewußtsein seiner Würde zu bewahren und sie sich gegenseitig immer wieder neu zuzusagen.
Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas hat Recht, wenn er sagt, daß das Wichtigste, was wir nach Auschwitz ganz neu zu lernen haben, ist, in jedem Menschen das Antlitz mit seinem einmaligen, absoluten Anspruch wahrzunehmen.
Gebet:
Hilf uns, Herr, nie nach äußeren Kriterien zu bewerten, sondern in tiefer Achtung vor dem göttlichen Geheimnis eines jeden Menschen miteinander umzugehen. Und wenn wir selbst einmal nackt dastehen, wenn wir nichts mehr haben, wohinter wir uns verbergen können, dann laß uns mit uns selbst, mit Gott und mit den Menschen im Klaren sein, laß uns ein gutes Gewissen haben, damit wir aufrecht dastehen können, ohne Angst um unsere Würde. Schenke uns einen Glauben, der nach dem Vorbild Jesu den Halt des eigenen Lebens ganz in Gott verankert hat.
11.STATION
Jesus wird ans Kreuz genagelt
Aus Psalm 22
Sie durchbohrten mir Hände und Füße.
Man kann all meine Knochen zählen;
sie gaffen und weiden sich an mir.
Lagererinnerungen:
Am Karfreitag 1942 hörte der Priester Pjotr Da kowski aus Zakopane von einem Kapo in Auschwitz: „Heute wirst Du wie Dein Meister gekreuzigt werden.“ Pjotr Da kowski bekam einen schweren Holzbalken auf seine Schultern, unter dem er ein paar mal fiel, bis er unter dem Schuh des Mörders starb. – In der Strafkompanie wurde einem jüdischen Häftling ein Kranz aus Stacheldraht auf den Kopf gedrückt.13
Meditation:
Nicht der starke arische Übermensch offenbart uns die Wahrheit über den Menschen, sondern der Gekreuzigte, der in seiner Ohnmacht stark ist, weil er wahr ist. „Fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten können. Fürchtet Euch vor dem Tod des Geistes, vor dem Tod der Wahrheit, vor dem Tod der Liebe!“
Nicht selten sind die wirklichen Sieger von Auschwitz die Opfer gewesen. Beim polnischen Prozeß gegen den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, sagte der Vorsitzende Richter Eimer in seiner Eröffnungsrede: „Im Wissen um unsere große Verantwortung gegenüber den Toten und Lebenden wollen wir nicht aus dem Auge verlieren, worum es bei dem Kampf derer, die die Freiheit der Völker lieben, ging. Das große Ziel war die Achtung vor der Würde des Menschen. Sie soll auch dem Angeklagten zukommen, denn vor dem Gericht steht vor allem ein Mensch.“14
Gebet:
Lehre uns, Herr, den aufrechten Gang. Lehre uns, Herr, für Wahrheit und Gerechtigkeit, für Barmherzigkeit und Solidarität einzutreten, auch wenn es Nachteile bringt, auch, wenn es uns ans Kreuz nagelt. Schenke uns den Glauben, der die Kraft dazu schenkt.
Schenke uns die Gnade, so wie Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe, angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung durch die Nazis, beten zu können:
Noch will das Alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
ach Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
das Heil, für das Du uns bereitet hast.
Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern,
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.
12.STATION
Jesus stirbt am Kreuz
Jesus, wir hören Deinen Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“,
wir hören aber auch den Satz: „In Deine Hände lege ich meinen Geist.“
Lagererinnerungen:
Die vielleicht bekannteste Erinnerung an Gottesverlassenheit in Auschwitz stammt von Elie Wiesel:
„Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer aufzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie.“15
Meditation:
Wir wollen an dieser Stelle für alle beten, die in oder nach Auschwitz nicht mehr beten können. Der Himmel über Auschwitz war damals schrecklich leer: Ohne Schmetterlinge, ohne Vögel und ohne Grün. Für viele ist er seitdem auch im religiösen Sinne leer geworden, Gott nicht mehr zu finden. Wir wollen diese Erfahrungen ganz ernst nehmen und es uns mit unserem Glauben nicht zu leicht machen.
Gebet:
Wir wollen eine Weile in Stille beten.
…
Das letzte, unvollendete Werk der Karmelitin Edith Stein heißt „Kreuzeswissenschaft“. Darin schreibt sie:
„Wir wissen …, daß ein Zeitpunkt kommt, in dem die Seele … völlig in Dunkelheit und Leere versetzt wird. Es bleibt ihr gar nichts anderes mehr, woran sie sich halten könnte, als der Glaube. Der Glaube stellt ihr Christus vor Augen: den Armen, Erniedrigten, Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen. In seiner Armut und Verlassenheit findet sie die ihre wieder.“16
13.STATION
Jesus wird in den Schoß seiner Mutter gelegt
Joh. 19,25
Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleopas, und Maria von Magdala.
Lagererinnerungen:
Pater Maximilian Kolbe, ein großer Verehrer Mariens, sagte vor seiner Verhaftung in einer seiner letzten Ansprachen an die Brüder seines Klosters:
„Den König der Liebe kann man nur durch Liebe ehren, man kann ihm als Gabe nur Liebe geben. … Liebe läßt sich nicht tiefer beschreiben. Man muß sie erfahren. Der Himmel ist nichts anderes als die immer tiefere Vereinigung mit Gott durch die Liebe.“17
Ein Jahr später war Kolbe schon tot. Er war für einen anderen Häftling freiwillig in den Hungerbunker gegangen. Nicht nur für Polen ist er ein Symbol des Sieges über die Macht des Hasses und des Todes in der Kraft des Glaubens und der Liebe.
Meditation:
An dieser Station wollen wir besonders an das polnische Volk denken. Es findet sich auf dem Hintergrund seiner Geschichte in der Situation der „Pieta“ wieder, in der die Mutter ihren toten Sohn in den Armen hält. Auch die Ikone in Tschenstochau ist geprägt von einem traurigen Blick, der um Leid und Tod weiß und der dennoch nicht aufhört, auch in der „dunklen Nacht“ an Gottes Verheißung zu glauben. Wir wollen uns dem Gebet anschließen, das die polnische Gemeinde auf ihrem Kreuzweg an dieser Station betet:
Gebet:
Laßt uns beten für das polnische Vaterland, das so oft gekreuzigt wurde, damit seine Töchter und Söhne Gott treu bleiben, jeden Haß überwinden und den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit gehen.
Gegrüßet seist Du Maria …
14.STATION
Jesus wird ins Grab gelegt
Aus dem Buch Ezechiel (37,1-14)
„Die Hand des Herrn legte sich auf mich und führte mich im Geist hinaus
und versetzte mich in eine Ebene.
Sie war voll mit Gebeinen. … sie waren ganz ausgetrocknet.
Er fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden?
Ich antwortete: Herr und Gott, das weißt nur Du.
Da sagte er zu mir: Sprich als Prophet über diese Knochen …
Da sprach ich als Prophet, wie mir befohlen war;
und noch während ich redete, hörte ich auf einmal ein Geräusch:
die Gebeine rückten zusammen…
Da sagte er zu mir: Rede als Prophet zum Geist…
Da sprach ich als Prophet, wie er mir befohlen hatte, und es kam Geist in sie.
Sie wurden lebendig und standen auf – ein großes, gewaltiges Heer.
Er sagte zu mir: … So spricht Gott, der Herr:
Ich öffne Euere Gräber und hole Euch, mein Volk, aus Eueren Gräbern herauf.
Ich bringe Euch zurück in das Land Israel.
Wenn ich Euere Gräber öffne und Euch, mein Volk aus Eueren Gräbern heraufhole,
dann werdet Ihr erkennen, daß ich der Herr bin.“
Meditation:
Das Grab hat nicht das letzte Wort. Wir glauben daran, daß Gott die Opfer nach ihrem Tod nicht im Stich läßt. Aber auch sozusagen hier auf Erden darf der Tod von Auschwitz nicht das letzte Wort haben. Aus den Knochenresten, die aussehen wie Samenkörner, muß neues Leben erstehen. Auschwitz muß ein Ort werden, der der Welt die Würde jedes einzelnen Menschen bewußt macht und uns in unsere große Verantwortung für den Frieden ruft. So wie einmal aus ganz Europa Menschen nach Auschwitz in den Tod fuhren, so muß die Botschaft von der unverletzbaren Würde aller Menschen in die Welt hinausgetragen werden. Wie es einmal viele Soldaten des Todes gab, so sind wir heute gerufen, unser ganzes Leben einzusetzen für Frieden, Versöhnung und Solidarität. Wenn wir dafür unser Leben geben, geben wir nicht mehr, als alle Opfer gegeben haben.
Gebet:
Herr, mach mich zu einem Werkzeug Deines Friedens,
daß ich liebe, wo man haßt,
daß ich verzeihe, wo man beleidigt,
daß ich verbinde, wo Streit ist,
daß ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist,
daß ich Glauben bringe, wo Zweifel droht,
daß ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,
daß ich Licht entzünde, wo Finsternis herrscht,
daß ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, laß mich trachten,
nicht, daß ich getröstet werde,
sondern daß ich tröste,
nicht, daß ich verstanden werde,
sondern, daß ich verstehe,
nicht, daß ich geliebt werde,
sondern daß ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt,
wer sich selbst vergißt, der findet,
wer verzeiht, dem wird verziehen,
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.
Wir wollen unseren Weg durch Auschwitz mit dem „Vater Unser“ beenden. Es ist ein Gebet, das Juden und Christen beten können. Und jemand hat einmal gesagt, es sei ein Gebet, als ob es im Konzentrationslager entstanden sei:
Vater Unser …
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Orte, an denen der Stationen gedacht werden kann:
1: gleich hinter dem Todestor
2: am Beginn der Rampe
3: in der Mitte der Rampe
4: im Frauenlager BIb
5: an Gaskammer und Krematorium II
6: am Mahnmal
7: an Gaskammer und Krematorium III
8: am sog. „weißen Haus“, der 2. provisorischen Gaskammer
9: auf der Wiese hinter der „Sauna“
10: vor der „Sauna“
11: vor Gaskammer und Krematorium V
12: am Teich
13: am Hauptweg zwischen den Lagern BIId und BIIc
14: am Quarantänelager BIIa, vor dem Kommandanturgebäude, heute Kapelle der Gemeinde Birkenau.
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Anmerkungen
1. Vgl. das Apostolische Schreiben „Tertio Millennio Adveniente“ vom 10. November 1994, 32-36.
2. Jonathan Webber, Die Zukunft von Auschwitz. Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust, Materialien Nr.6. Übs. J.Raab, A.Winkelmann. Herausgeber: Stadt Frankfurt am Main, Dezernat für Kultur und Freizeit, und Förderverein „Fritz-Bauer-Institut“ e.V., 2. Auflage, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Oświęcim, 1993 (Erstveröffentl. Oxford 1992).
3. a.a.O. S.8
4. a.a.O. S.16
5. Tadeusz Borowski, Bei uns in Auschwitz. Oświęcim 1992, 114f.
6. Borowski, a.a.O., 120f.
7. Zofia Pohorecka. Von Mai 1943 bis Januar ’45 Häftling im Frauenlager, lebte in Oświęcim, wo sie am 5. Januar 2005 starb.
8. Elżbieta Piotrowska, Przesłuchanie. In: Wszystkie barwy czasu. Z cyklem: Wizja lokalna w Oświęcimiu. Warszawa: Czytelnik 1967. Auch in: Na mojej ziemi by OŚWIĘCIM … Część II. Oświęcim w poezji współczesnej. Oświęcim 1993.
9. Stanisława Grabska, in: Więż 4/1992, S. 42.
10. nach Tygodnik Powszechny, 2.8.1992.
11. Theo Mechtenberg, Mieczysław Kościelniak, Kreuzweg des Maximilian Kolbe. Kevelaer: Butzon&Bercker 1982, IX.
12. Philomena Franz, Zwischen Liebe und Haß. Ein Zigeunerleben. Freiburg i.Br.: Herder 1985, 51ff.
13. Vorfälle sind belegt in: Wiesław J. Wysocki, Bóg na nieludzkiej ziemi. Życie religijne w hitlerowskich obozach koncentracyjnych (Oświęcim-Majdanek-Stutthof). Warszawa: PAX 1982, 105.
14. Warschau, 11.03.1947. Akten zum Höß-Prozeß im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, Bd. 23, Bl.4.
15. Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa. Frankfurt/M; Berlin: Ullstein 41992, 56.
16. Edith Stein, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce. Edith Steins Werke Bd.I. Freiburg/Basel/ Wien: Herder 1983, S. 107.
17. am 27.10.1940. In: Ten, który rozdał życie. Wstęp, biografia w. Maksymiliana i wybór tekstów: Leon Dyczewski OFMConv. Niepokalanów 1989, S. 195.
Übersetzungen aus dem Polnischen von M. Deselaers.
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In Buchform veröffentlicht:
DESELAERS, Manfred, „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen…?“
Kreuzwegmeditation in Auschwitz.
5. Auflage. Einhard-Verlag: Aachen 2001.