Joanna Barcik
Glaubenszeugnisse ehemaliger Häftlinge
Ich möchte gerne mit der folgenden wesentlichen Vorbemerkung beginnen. Grundlage meiner Studie sind die Zeugnisse religiöser Häftlinge, Polen und Katholiken, die Auschwitz (oder andere Nazi-Lager, insbesondere Dachau, wo Priester inhaftiert waren) überlebt haben. Ihre Perspektive als Überlebende ist hier entscheidend. Wahrscheinlich würden sich viele von ihnen den Worten des Priesters Franciszek Blachnicki zu eigen machen. Er spricht von Auschwitz als einer „ganzen Kette von Wundern der Vorsehung“, aus der „Überlebende hervorgingen wie Daniel aus der Löwengrube oder die Jünglinge aus dem Feuerofen.“1 „Doch in dieser Anhäufung raffiniertester Verbrechen, Sadismus, Heuchelei und Bosheit, in der Kneuel des Grauens, der Angst, des Elends und des Todes, pulsierte eine tief verborgene religiöse Strömung. Man musste nur selbst gläubig sein und die anderen zu beobachten wissen“, schrieb Dr. Marian Baran als Antwort auf einen Fragebogen, den das Team von Prof. Kępiński an ehemalige KZ-Häftlinge verschickte2.
Die Erforschung der Lagererfahrungen und der Spuren, die diese in der Psyche der Häftlinge hinterlassen haben, begann in Polen vierzehn Jahre nach dem Krieg. Sie wurde von Dr. Stanisław Kłodziński initiiert, der selbst ein ehemaliger Häftling war. Nach dem Krieg behandelte er im Rahmen der Aktivitäten des Krakauer Auschwitz-Klubs Mithäftlinge aus dem Lager (darunter meinen Großvater Tadeusz Szymański). Die Forscher verfassten auch regelmäßig Fragebögen zu verschiedenen Themen, deren Ergebnisse in der medizinischen Fachzeitschrift „Przegląd Lekarski Oświęcim” veröffentlicht wurden. Eines der Themen war der religiöse Glaube. Eine Umfrage zu diesem Thema unter dem etwas nebulösen Titel „Die ideologischen Haltungen der Häftlinge in Auschwitz” entstand 1974, ihre Ergebnisse konnten, im Gegensatz zu denen anderer Umfragen, jedoch erst 1989 veröffentlicht werden – das Thema fand bei den kommunistischen Behörden in Polen keinen Anklang. Aus diesem Grund gab es in den Nachkriegsjahren nicht viele religiöse Zeugnisse aus den Lagern. Wenn überhaupt, dann waren es meist Erinnerungen von Priestern, die in kleinen Verlagen, oft im Ausland, erschienen.
Gottes- und Vaterlandsliebe
Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wird von ehemaligen Häftlingen als Teil eines ganzheitlichen Geschichtsbildes gesehen. Auschwitz stellt darin keinen besonderen Bruch dar; die Reflexion darüber findet ihren Platz im Kontext einer umfassenderen Betrachtung des Bösen in der Geschichte Polens. Vielmehr fügt sich das Nachdenken über Auschwitz in ein solches Geschichtsbild ein, in dem sich die Nationen der Welt, insbesondere die „heidnischen“ Nationen, gegen ein von Gott und Maria in besonderer Weise auserwähltes Volk verbünden. Das ist nichts Neues; es ist schon viele Male zuvor passiert, in unterschiedlicher Intensität. Den Hintergrund eines solchen Denkens bildet eine starke Verbindung zwischen dem Leiden von Auschwitz und dem Überleben von Nation und Staat.
„Das KL Auschwitz war vom Anfang bis zum Ende seiner Existenz ein Ort der Deportation, Inhaftierung und Auslöschung der Polen – Menschen polnischer Nationalität, von denen die meisten aus politischen Gründen in das Lager kamen. Diese Tatsachen wurden den Menschen im unter deutscher Besatzung stehenden Polen ziemlich schnell bekannt, und kurz darauf auch der Öffentlichkeit in der freien Welt. Dies war die Grundlage für die polnische Nationalsymbolik von Auschwitz, basierend auf der Überzeugung, dass Auschwitz ein Symbol für das Martyrium der polnischen Nation ist. (…) ‚Das Märtyrertum in Auschwitz‘ wurde in der polnischen Symbolik als Leiden und Tod durch die Hand des Feindes im Namen höherer Werte wie Nation, Vaterland, Staat, Freiheit und Glaube verstanden, in Anlehnung an die lange nationale und die noch längere christliche Tradition.“3 so das Fazit des polnischen Soziologen der Jagiellonen-Universität, der sich seit vielen Jahren mit der Wahrnehmung und Interpretation des Phänomens „Auschwitz“ in Polen beschäftigt, Professor Marek Kucia.
In den Erinnerungen ehemaliger polnischer Häftlinge werden die Worte „Gottes- und Vaterlandsliebe“ in einem Atemzug genannt. Nehmen wir zum Beispiel das Zeugnis von Pater Adam Zięba: „Und was hat sie am Leben erhalten? Sie wurden nicht nur durch ihren Lebenswillen am Leben gehalten, sondern auch durch die Liebe zu Gott und zum Vaterland. Gott – denn ohne den Glauben hätten sie ihren Qualen längst am Stacheldraht ein Ende gesetzt. Vaterland – weil sie ebenso fest daran glaubten, dass sie ihrem Vaterland noch von Nutzen sein könnten. Und so gingen sie ruhig, erniedrigt, gequält, in ihrem Innern indes brodelte ein verborgenes ewiges Aufbegehren, das von Zeit zu Zeit ihre scheinbar toten Augen wiederbelebte und in ihnen ein Feuer von unermüdlicher Geisteskraft entzündete, das niemand und nichts auszulöschen vermochte”4. Die Besatzer waren sich dieser Verbindung religiöser und nationaler Identität bewusst. Hans Frank warnte: „Die Kirche ist immer das letzte Zentrum des polnischen Nationalismus geblieben. Die Kirche ist der zentrale Sammelpunkt für den polnischen Geist, der unaufhörlich schweigend strahlt und so gewissermaßen die Funktion eines ewiges Lichts einnimmt. Wenn alle Lichter für Polen ausgingen, dann gab es immer noch die Heilige von Tschenstochau und die Kirche. (…). Der Katholizismus ist hierzulande nämlich nicht etwa eine Religion, sondern eine Lebensnotwendigkeit”5.
Das zweifache Gesicht von Auschwitz
Wenn man heute die Zeugnisse ehemaliger Häftlinge liest, fällt wohl am stärksten die Tatsache auf, dass Auschwitz für sie zwei Gesichter hat: Es ist zugleich ein Ort des schrecklichsten Übels, aber auch eine Herausforderung, sein Menschsein nicht aufzugeben. Daher ist es bezeichnend, dass in den Texten ehemaliger Häftlinge oft nicht nur der Begriff „Hölle“ auftaucht, sondern auch: „Gnade“, „nationale Exerzitien“, „Universität“, „Sieg“. Der Aufenthalt im Lager ist eine Gelegenheit, Werte zu verwirklichen, er ist eine Aufgabe, auch eine Gelegenheit zur geistigen Entwicklung.
Der Priester Franciszek Blachnicki, ein Auschwitz-Häftling, nennt die Zeit seines Gefängnisaufenthalts in Kattowitz, wo er auf seine Hinrichtung wartete, seine “ Gefängnis-Exerzitien“. Es war für ihn vor allem eine Zeit der Läuterung – eine Zeit des Verzichts auf seinen eigenen Willen, seine eigenen Vorstellungen von Gott und dessen Wirken im eigenen Leben. Schritt für Schritt lässt Blachnicki mit der Unterstützung der unbefleckten Maria seine eigenen Vorstellungen und Wünsche, auch die, die er für gut hielt, hinter sich, damit der Wille Gottes sich ganz in seinem Leben verwirklichen kann6.
Die Erinnerungen des Priesters Adam Ziemba sind nicht nur ein Zeugnis der Grausamkeit, sondern auch des Guten, das aus dieser Grausamkeit im Lager hervorging. Auf fast jeder Seite dieser Erinnerungen finden wir Beweise für die Rettung der Menschlichkeit, für die Solidarität unter den Häftlingen. Trotz der Angst, des Willens, um jeden Preis zu überleben.
Der Priester Konrad Szweda schreibt in der Einleitung zu seinem Werk Blumen auf Golgatha: „Je mehr der Feind das Unkraut des Bösen säte, desto stärker säte Gott den Weizensamen des Guten durch ausgewählte Gefangene. Und dank dessen besiegte die Liebe den Hass (…) Im Lagerfeuer der Bedrückung und der Trübsal prüfte Gott seine Diener. Er wollte sehen, ob ihre Herzen wirklich aus lauterem Gold bestanden, was für eine Liebe sie hatten und wie groß ihre Hingabe war. Manch einer wollte wie der mit Geschwüren bedeckte Hiob bis zum Ende in der Treue zu seinem Herrn ausharren: „Herr, du hast gegeben, du hast genommen, dein Name sei gepriesen auf ewig“ (Hiob 1,21-22). In der Unermesslichkeit der umgebenden Grausamkeit entwickelte sich eine Art verrückter Heroismus des Dienstes an anderen, eine unerbittliche Stärkung des Willens, ein Loslassen dessen, was man im Leben für wichtig hielt. Es entstand der Wunsch, dass aus diesen Opfern eine neue Welt entstehen würde, eine Welt der Liebe und des Guten. Dort, wo keine Ordnung aus der Liebe erwuchs, machte sich Terror breit, das Chaos der menschlichen Triebe brach aus, tierische Instinkte wurden freigesetzt. Wo Denken und Vernunft der belebenden Kraft der Liebe beraubt waren, erwachte ein unbändiger Drang, sich um jeden Preis durchzusetzen. Die blinde Naturgewalt erfasste alles, es ließ keine Vernunft im menschlichen Handeln zu”7. Der Priester Szweda ist in seinem Nachdenken über Auschwitz stark von der philosophischen Reflexion des Priesters Prof. Konstanty Michalski, einem ehemaligen Häftling von Sachsenhausen, inspiriert, der seinem unmittelbar nach dem Krieg geschriebenen Werk den Titel Zwischen Heldentum und Bestialität8 gab. In den Äußerungen der beiden Geistlichen wird deutlich, dass die Reflexion über die Erfahrung von Auschwitz auf die anthropologische Ebene verlagert wird: Gegenstand der Reflexion ist eher der bedrängte Mensch selbst; es wird häufiger danach gefragt, wie es möglich ist, dass ein und derselbe Mensch sowohl zum größten Bösen als auch zum größten Guten fähig ist, als z.B. danach, wo Gott damals war.
Christus und das Opfer P. Maximilian Kolbes
„Auch Jesus war in Auschwitz. Jesus Christus war in jedem deutschen Todeslager. Und auch ihn ermordeten die deutschen Peiniger mit einer Giftspritze, vergasten ihn und verbrannten ihn im Krematorium“, sagte der Priester Jan Skarbek (Pfarrer der Gemeinde Oświęcim, der sich während des Krieges dafür einsetzte, den Gefangenen zu helfen) bei einer Begräbnismesse in Oświęcim, die nach der Befreiung des Lagers während der Beisetzung der Leichen der Häftlinge in Massengräbern stattfand9. Für jeden Christen ist die Person Jesu Christi das Fundament des Glaubens; für einen KZ-Häftling bekommt seine Gestalt eine noch lebendigere Bedeutung. Er ist derjenige, der am Leben erhält, den Sterbenden wahre Hoffnung gibt und denen nahe ist, die leiden. Seine Worte richten einen auf, wenn man sie sich in Gedanken vergegenwärtigt oder wenn sie von Mitgefangenen ausgesprochen werden. So ist es nicht verwunderlich, dass in den Reflexionen ehemaliger Häftlinge immer wieder auf ihn Bezug genommen wird. Die Metaphern von Jesus, der mit den Gefangenen mitleidet, von Christus, der als Gefangener den Stacheldraht überwindet, von Christus, der am Galgen hängt, sind keine bloßen Metaphern, sondern für die Gläubigen eine lebendige Realität. Sie sprechen von Gottes Gegenwart selbst in den Höllen der Welt (die christliche Theologie erwähnt, dass Jesus nach seinem Tod am Kreuz in den Abgrund des Todes hinabgestiegen ist, um von dort die auf Erlösung Wartenden herauszuführen) und davon, dass Gott seine Kinder nicht verlässt, sondern ihnen in ihren schlimmsten Erfahrungen nahe ist.
Die Gestalt Christi scheint am besten geeignet, wenn wir von einem katholischen Verständnis selbst des größten Leidens sprechen. Jedes Leiden gewinnt an Bedeutung, wenn es bewusst als Teilhabe am Opfer Christi erfahren wird. Dieses Opfer wird jedoch immer im Licht des endgültigen Sieges – der Auferstehung – gesehen: „Als allen schien, dass Christus begraben worden war, begann er durch die Auferstehung neu zu leben. Als die Katakombenkirche verfolgt wurde, verbreitete sie sich am meisten und triumphierte bald siegreich. Deshalb sollten auch wir nicht zweifeln, denn auch wir sind auf dem Weg zum Sieg und zur Auferstehung, trotz der Verluste, der Bedrückung und der Propaganda. Christus ist unser Vorbild“, sagte der Priester Emil Seroka seinen Mitgefangenen in einer Osterpredigt in Dachau10.
Die Hoffnung auf Auferstehung hat im polnischen Denken mindestens seit dem XIX Jahrhundert nicht nur eine religiöse, sondern auch eine nationale Dimension. Die Versklavung der polnischen Nation während der Teilungen, ihr Leiden und ihre Unterdrückung werden von den Dichtern der Romantik als notwendige Bedingungen für die Wiedergeburt der polnischen Staatlichkeit wahrgenommen. Es ist auch eine Hoffnung für andere Länder: Polen, das durch die Tortur verschiedener historischer Ereignisse gegangen ist, wird zum Messias der Nationen; dank seines Opfers erlangt ganz Europa Befreiung und neues Leben.
In diesen Zusammenhang – des universellen Wertes des polnischen Leidens, der nicht nur in Polen Früchte tragen soll – stellen die ehemaligen Häftlinge von Dachau die Entscheidung von Pater Maximilian Kolbe, einem Franziskaner, der sein Leben für Franciszek Gajowniczek, einen Mitgefangenen, einen Familienvater, hingab. Im Juli 1941 verurteilte der SS-Schutzhaftlagerführer Karl Fritsch als Vergeltung für die Flucht eines der Häftlinge zehn Menschen zum Hungertod. Pater Kolbe bat den Lagerführer freiwillig darum, an die Stelle von Gajowniczek treten zu dürfen. Er starb am 14. August 1941 nach einer Phenol-Injektion als letzter der im Hungerbunker im Keller von Block 11 eingeschlossenen Häftlinge.
Aus seiner in den Wind gestreuten Asche – so schrieben die Priester nach dem Krieg – verbreitet sich ein Zeugnis in die ganze Welt, das den endgültigen Sieg des Guten und der Liebe über das Böse verkündet. Schließlich ist Kolbe für seine Mitgefangenen das Symbol eines jeden Häftlings: „In seiner Person sehen wir Tausende von gemarterten polnischen Priestern, Tausende von Katholiken, Juden, Protestanten, Orthodoxen, Tschechen, Russen, Italienern, Jugoslawen, Deutschen, Zigeunern, Tausende von Opfern verschiedener Nationalitäten”11.
Die ethische Dimension religiöser Erfahrung
Wie wir wissen, waren religiöse Praktiken in den Lagern absolut verboten. Es war verboten, zu beten, Gottesdienst zu feiern oder irgendwelche Kultgegenstände zu besitzen. Wie soll der Glaube unter solchen Bedingungen zum Ausdruck kommen? Wenn Religion in ihren äußeren Erscheinungsformen nicht realisiert werden kann, muss der Wunsch genügen: „Der Priester Piotr schaut in das erste Fenster der Kapelle (der Kapelle in Dachau, die nur von nicht-polnischen – vor allem deutschen und tschechischen – Priestern benutzt werden durfte) und flüstert ein improvisiertes Gebet: „Ich kann nicht zu dir kommen, Herr Jesus. Ich kann Dich nicht in der heiligen Kommunion empfangen, darum bitte ich Dich, der Du für jeden Menschen gestorben bist und jeden Menschen retten willst, komm zu mir in der heiligen Kommunion. komm!“ Er erinnerte sich daran, dass eines der Bücher des Heiligen Johannes vom Kreuz den Titel „Die lebendige Liebesflamme“ trägt. In diesem Buch stieß er auf berührende Worte (3:28), Worte, die eine tiefe Belehrung für die gläubige Seele waren. Er liebte sie, meditierte über sie und wiederholte sie oft, denn sie waren ihm immer ein Trost; sie leuchteten ihm wie ein Licht inmitten der Dunkelheit. „Wenn die Seele Gott sucht, sucht der Geliebte sie umso mehr.“ Und weiter: „Die Hindernisse, die diesen heiligen Männern auf dem Weg zum Festmahl Christi des Herrn im Wege standen, waren zahlreich und schienen unüberwindbar. Es gab keinen Kelch, keine liturgischen Gewänder, kein geeignetes Brot oder Wein. Aber da war Liebe, Schläue und ein unstillbares Verlangen, sich dem Bräutigam der Seelen zu nähern.“ Nach der Liebe kommt an zweiter Stelle die Schläue: „Sie schnitzten einen Kelch aus Holz und steckten ein Glas oben hinein”12.
Wenn man es schafft, einen Kultgegenstand zu bekommen/schaffen, wird dieser sehr wertvoll: „Wenn ich heute aus der Perspektive der Freiheit auf jene Auschwitz-Tage zurückblicke und mich an die Kollegen erinnere, die für immer von uns gegangen sind, und an die, die wie ich am Leben geblieben sind, dann wächst die kleine Schnur mit den zehn Knoten (Rosenkranz – JB) in meinen Augen zu einem Symbol jener Rettungsleine, die den Ertrinkenden auf dem stürmischen Meer des Lebens zugeworfen wird – unser täglicher Lagerrosenkranz”13. Und Zofia Posmysz erinnert sich an eine kleine Medaille mit dem Bild von Christus, die sie von einem ihr nahestehenden Mitgefangenen erhielt: „Ich war glücklich. Dort. In Auschwitz. Abends, nach dem Pfiff der Lagerruhe, holte ich meinen Schatz aus einer Ritze hinter dem Dachsparren hervor, und wie ein Blinder, der mit dem Finger über das silberne Blech fährt, holte ich das Antlitz des Gepeinigten vor meine Augen, um zu ihm zu beten, aber nicht um Bitten zu äußern, sondern um zu danken. Für dieses Gefühl der Verwandtschaft, ungewöhnlich, nahe an der Ekstase, die, Gott vergebe mir, Heilige erleben. Erst Jahre später, während meines Studiums, stieß ich auf den Begriff Illuminismus, der die Vorstellung von einer spirituellen Erfahrung, einer Erleuchtung aus einer anderen, jenseitigen Dimension beinhaltet. Ja, genau das war es”14.
Aber das Wichtigste ist, dass das Christentum im Lager weitgehend auf zwischenmenschliche Beziehungen reduziert ist. Ich habe „reduziert“ geschrieben, aber ich meine nicht „verarmt“. Der einzig mögliche, aber wichtigste Weg, religiösen Glauben zu verwirklichen, ist ein gutes Wort, ein erbauliches Gespräch, ein Händeschütteln, eine Hilfe bei der Arbeit; und das Teilen einer bescheidenen Mahlzeit wird zu einem heroischen Akt. Bei der Beantwortung des vom Team von Dr. Kłodziński vorbereiteten Fragebogens: Warum habe ich das Lager überlebt, beginnt der ehemalige Häftling Marian Główka: „Ich habe Freunde gefunden, ich habe gute Menschen getroffen”15. Was an erster Stelle steht, ist die Beziehung zum anderen, diese Beziehung ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensrettend.
Der Glaube der Gefangenen, der den Prozess dieser „Reduktion auf das Wesentliche“ durchlief und das Wesen der biblischen Religion offenbarte, veränderte sich, wurde geläutert und erstarrte. „Vorbei ist es mit meinem Gott von den Altären, mit einem Gesicht, das gerecht und voller Liebe ist (…). Vorbei sind die typischen, abgedroschenen Worte des Gebets. Der Glaube an die Macht des Schöpfers, der über das Gleichgewicht des von ihm geschaffenen Universums wacht, in dem der Mensch so klein ist, dass er nicht um besondere Gunst für sich bitten kann, ist nicht gestorben. Er muss sich nach den anerkannten Grundsätzen der Ethik richten. Dort (…) reifte meine eigene Lebensphilosophie. Von da an sollte ich ein einziges Gebot befolgen (…): ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘“, erinnert sich Jadwiga Apostoł-Staniszewska16.
In diesem Zusammenhang findet sich in den Zeugnissen ehemaliger Häftlinge nicht selten eine Kritik an der bisherigen Kultur, Moral, Art der Erziehung und der in den Priesterseminaren gelehrten Moraltheologie: „Wir kannten die Evangelien, wir kannten die Enzykliken Rerum novarum und Quadragesimo anno, wir hatten sie in unseren Bibliotheksregalen, aber was haben wir in die Praxis umgesetzt?“, fragt ein Priester und betont die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, so als ob die Lagererfahrung der wahre Test der von der Kirche gelehrten Nächstenliebe sei17.
Überleben, um Zeugnis zu geben
Ich habe bereits das Lager als Ort des Appells zur Verwirklichung von Werten erwähnt. Ehemalige Häftlinge sprechen oft von „Auschwitz-Geboten“18. Der Priester Adam Ziemba, den ich bereits zitiert habe, und den ich noch einmal zitieren möchte, schreibt:
„Da geht die Strafkompanie.
Die Todeskolonnen kommen.
Und das gleichmäßige Klappern der Holzschuhe schlägt einen einzigen, aber kategorischen Befehl in die Herzen der Gefangenen:
Halte aus!
Halte durch!”19
„Halte durch!“, „Überlebe, um zu bezeugen!“ wiederholen die Gefangenen, aber nie auf Kosten des Lebens eines anderen, nie auf Kosten ihrer Kollegen. Überlebe auch, um im Namen derer sprechen zu können, die umgekommen sind.
Das Zeugnis der ehemaligen Häftlinge hat mindestens zwei Dimensionen – die religiöse, in der vor allem die Priester ihre Rolle im Lager darin sahen, ein Zeichen der Liebe und Vergebung Gottes zu sein. Aber es geht auch darum, Zeugnis davon zu geben, wovon sie selbst Zeugen geworden waren. Kazimierz Smoleń, der ehemalige Direktor des Auschwitz-Museums, wies darauf hin, dass die politischen Häftlinge bereits im Lager über die Möglichkeit nachdachten, an das in Auschwitz Geschehene zu erinnern.
Damit harmoniert auch das moralische Gebot, das Johannes Paul II. 1987 formulierte: Zukünftigen Generationen soll das Wissen um den Shoah-Holocaust weitergegeben werden, „damit etwas derart Schreckliches nie wieder möglich wird. Nie wieder!“
Vergebung
Wenn wir über die Rolle der Religion in der Lagererfahrung sprechen, besonders wenn wir über die biblischen Religionen sprechen, und wenn es uns darum geht, einen Raum der Versöhnung und des Friedens zu schaffen, darf man die Frage der Vergebung nicht auslassen. J. Z. Sochocki: „Ein Kapo, ein Deutscher aus Schlesien, zog zu ihrer Freude ein Fass herbei, stellte sich vor der Reihe der Unglücklichen darauf und begann mit einem dicken Holz den Sprechgesang des Gebets ‚Vater unser‘ zu dirigieren. Besessene Rufe ertönten ringsum: ‚Vorwärts! … Schnell! …. Vorwärts!…‘ – und gleichzeitig prasselten heftige Stockhiebe auf die unbedeckten Köpfe und geschwollenen Rücken. Das Gebet des Herrn, anfangs unsicher und schwach, unterbrochen von den wilden Schreien der Henker, gewann an Kraft, wurde stärker und übertönte den Hohn und Spott. Es klang wie eine Glocke, die von den Hügeln widerhallte, mit einer flehenden Anklage in den Himmel stieg und stöhnend in die Täler hinabstieg. Ohne Pause, ohne einen Augenblick zu verweilen, von Stunde zu Stunde, erklangen die Worte des schönsten Gebets des Lobes, der Bitte, der Vergebung (S. 198). Aber nicht jedem und nicht zu jedem Zeitpunkt gelang eine solche Vergebung: ‚Vergebung… Diesen Schuldigern verzeihen? Nein, niemals! Ich werde nicht verzeihen! Ich kann nicht! Ich darf nicht!…‘ Die Lippen sprachen ‚wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘, aber die Herzen leugneten, verlangten nach Rache, nach Bestrafung für ‚unsere Schuldiger‘, denen man nicht vergeben kann…“ aber einen Moment später lesen wir: „Vergib uns unsere Schuld, denn wer ist frei von Schuld? …. und vergib uns unsere Schuld … Sei du ihr Richter wie auch der unsere. Deine Gerechtigkeit über allem”20.
Einigen Häftlingen gelingt es manchmal, für diejenigen zu beten, die zu Mördern geworden sind, sie versuchen sogar, in ihrem Inneren Empathie für sie zu wecken. „Geißelung. Der Leib des Herrn hat so viel für uns gelitten. Lasst uns unsere Mühen für unsere eigene Schuld und als Gebetsintension für diejenigen opfern, die uns verfolgen”21.
Das, was es möglich macht, andere, sogar Folterer, als Kinder Gottes zu betrachten, ist ein gewisses Übermaß an Güte im Menschen, das der kürzlich verstorbene zeitgenössische polnische Philosoph Krzysztof Michalski „göttliche Perspektive“ nennt. Sie ist nur auf der Grundlage einer tiefen religiösen Erfahrung möglich. „Die Fähigkeit, auf das Böse mit Gutem zu antworten, passt nicht zu den anderen Fähigkeiten des Menschen; ihre Mobilisierung erfordert Selbstverleugnung, sie unterbricht die bisherige Lebensgeschichte. Sie erfordert also eine Anstrengung – und zwar eine Anstrengung, deren möglichen Erfolg wir nicht einschätzen können, oder besser: eine Anstrengung, die, wenn die Grundlage für die Bewertung das ist, was ich über mich weiß, wie ich bin, aussichtslos sein muss. Ich kann nur hoffen – nicht vernünftigerweise erwarten -, dass ich dem Bösen mit Gutem begegnen kann. […] Wären wir in der Lage, diese biblischen Texte zu verstehen, wären wir in der Lage, diese ‚göttliche Perspektive‘ und damit die Güte dessen, was ist, trotz allem in uns zu entdecken, wenn nicht manchmal jemand unter uns wäre, der so leben kann, jemand aus einer anderen Welt?”22.
Zum 50. Jahrestag der Befreiung Ravensbrücks verlas Wanda Półtawska, ein ehemaliger Häftling, ein Gebet eines anderen Häftlings in deutscher Sprache. Mit ihren Worten möchte ich diese Rede abschließen:
„Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind
und ein Ende sei gesetzt aller Rache
und allem Reden von Strafe und Züchtigung.
Allen Maßstäben spotten die Gräueltaten;
Sie überschreiten die Grenzen menschlicher Fassungskraft,
und der Blutzeugen sind viele.
Darum, o Gott,
wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden,
dass du sie ihren Henkern zurechnest
und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst,
sondern lass es anders gelten.
Schreibe vielmehr allen Henkern und Angebern und Verrätern
und allen schlechten Menschen zu und rechne ihnen an:
All den Mut und die Seelenkraft der andern
—
All das Gute soll zählen, nicht das Böse.
Und für die Erinnerung unserer Feinde
sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein,
nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck,
vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen.
Nur das heischt man von ihnen,
und dass wir, wenn alles vorbei ist,
wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen
und wieder Friede werde auf dieser armen Erde
über den Menschen guten Willens,
und dass der Friede auch über die andern komme. Amen.
Ich habe dieses Gebet auf Deutsch vorgelesen, ohne mich überwinden zu müssen (sagt Półtawska) – Möge Gott ihnen vergeben!”23
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Fußnoten:
1 zitiert nach: Adam Wodarczyk, Prorok Żywego Kościoła, Katowice 2008, S. 70.
2 siehe: S. Kłodziński, J. Masłowski, Postawy ideowe więźniów w Oświęcimiu, „Przegląd Lekarski – Oświęcim“, Band 46 Nr. 1 (1989), S. 29.
3 M. Kucia, Auschwitz jako fakt społeczny, Kraków 2005, S. 232.
4 A. Zięba, Pajda chleba, Poznań 1957, S. 38.
5 H. Frank, Dziennik, Hrsg. S. Piotrowski, Warszawa 1956, S. 147.
6 vergl. F. Blachnicki, Spojrzenia w świetle łaski. Kartki wyrwane z pamiętnika dla dusz na drodze oczyszczenia, Krościenko 2001.
7 K. Szweda, Kwiaty na Golgocie, Poznań-Warszawa 1982, S. 7-9.
8 K. Michalski, Między heroizmem a bestialstwem, Kraków 2010.
9 zitiert nach: S. Nowak, Lekarz z Auschwitz, Warszawa 2020, S. 202.
10 Cudem ocaleni. Wspomnienia z kacetów, Londyn 1981, s. 239.
11 Ebd., wspomnienia ks. Ernesta Chowańca, S. 10.
12 Ebd., S. 309.
13 A. Ziemba, Pajda chleba, aaO. S. 50.
14 Z. Posmysz, Chrystus oświęcimski, Oświęcim 2014, S. 12.
15 Z. Główka, Marian Główka: wspomnienia. 7 obozów, 1841 dni i nocy, Bielsko-Biała 2019, S. 191.
16 siehe: S. Kłodziński, J. Masłowski, Postawy ideowe więźniów w Oświęcimiu, „Przegląd Lekarski – Oświęcim“, Band 46 Nr. 1 (1989), aaO. S. 31.
17 Cudem ocaleni, aaO., S. 212.
18 Siehe: M. Horoszewicz, Symbolika Auschwitz dla Żydów i chrześcijan, „Collectanea Theologica, 62/2 (1992), S. 86, digital verfügbar unter: http://bazhum.muzhp.pl/media//files/Collectanea_Theologica/Collectanea_Theologica-r1992-t62-n2/Collectanea_Theologica-r1992-t62-n2-s37-88/Collectanea_Theologica-r1992-t62-n2-s37-88.pdf (abgerufen am: 10.02.2021).
19 A. Ziemba, Pajda chleba, aaO., S. 38.
20 Cudem ocaleni, aaO., S. 198-199.
21 Ebd., S. 179.
22 K. Michalski, Eseje o Bogu i śmierci, Warszawa 2014, S. 170-171.
23 W. Półtawska, …i boję się snów, Częstochowa 2005, S. 203-204, deutsch siehe: https://nuitdesveilleurs.fr/de/ressourcen/gebet-aus-einem-konzentrationslager/ (abgerufen am 29.06.2021)
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Vortrag im Webinar: Wiara w Auschwitz – doświadczenie ofiar i dialog międzywyznaniowy dzisiaj, [deutsch: Glaube in Auschwitz – Erfahrungen der Opfer und interreligiöser Dialog heute] veranstaltet am 5. November 2020 durch das Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcimiu [Auschwitz] in Zusamenarbeit mit dem Amud Aish Memorial Museum in New York.
Übersetzt von Martin Buschermöhle
Dr. Joanna Barcik
Philosopher of religion, assistant professor in the Department of Philosophy of Religion at the Faculty of Philosophy, the Pontifical University of John Paul II in Krakow, founding member of the Polish Society of Philosophy of Religion, member of the Club of Christians and Jews CONVENANT. Her academic interests include French philosophy of reflection, feminist theology, and the possibility of thinking about God after Auschwitz. She has learnt dialogue in practice from her grandfather Tadeusz Szymański (20034), an inmate of the Auschwitz concentration camp and a co-originator of the Auschwitz-Birkenau State Museum, who considered reconciliation between the Poles and the Germans as his mission in life. She would like to follow his example, if only on a small scale, in the context of relationships between the Poles and the Jews. In the recent years, she has based her work on the guidelines set by Marshall Rosenberg, the author of Nonviolent Communication (NVC).