Halina Birenbaum*
Wenn die Welt doch so sein könnte
Einige Wochen lang hatten unsere Massenmedien in Israel den Besuch des Papstes angekündigt. Dieses außerordentliche Ereignis wurde von jedem Standpunkt aus kommentiert, die Kommentare reichten von einfachen Erwartungen bis zu absurden Vermutungen. Diskussionen und Auseinandersetzungen beherrschten alles ohne Unterbrechung: Die Grundlagen des katholischen Glaubens, die Bedeutung der Heiligen Stätten für die Christen in dem Land unserer Väter, wo Jeshua (Jesus), der Gründer der christlichen Religion, geboren wurde. Ganz unver-mittelt nehmen die Realitäten unseres täglichen Lebens – unsere angehäuften Probleme, unsere endlosen Auseinandersetzungen, unsere blutigen Zusammenstöße – eine andere Dimension an. Die Worte ,der Papst‘ beherrschen das gesamte gewöhnliche Tagesgeschehen. Der Papst in Jerusalem, in Israel! Er kommt zu uns!
Eine ganze Menschenmenge ist am Flughafen versammelt: die Minister, die Führungselite, der Präsident mit seiner Gattin, der Premierminister von Israel mit seiner Gattin, der Präsident der Knesset, Tausende von Pilgern aus der ganzen Welt, die Flaggen vieler Länder, sogar von den-jenigen, mit denen wir bis jetzt kein friedliches Verhältnis hatten. Allgemeine Erregung, das Warten auf die Ankunft Seiner Heiligkeit von seiner Pilgerreise nach Ägypten und Jordanien in den Fußstapfen unserer biblischen Vorfahren. Der rote Teppich, die Flaggen des Vatikans und von Israel.
Das Flugzeug aus Jordanien mit der jordanischen und der israelischen Flagge durchbricht die Wolken. Es landet in Tel Aviv! Die Tür des Flugzeugs öffnet sich. Die weiße, leicht gebeugte Gestalt des Papstes, demütig, umgeben von Kardinälen, erscheint als Silhouette vor der versammelten Menschenmenge. Er ist Gast der jüdischen Nation, des jüdischen Staates – der Juden, Muslime und der Christen. Er steigt aus mit langsamen, entschlossenen Schritten, wobei er sich am Geländer festhält. Sein gemessener, vorsichtiger Gang vermittelt das Gefühl, dass er weiß, wohin ihn seine Schritte führen und welch wichtiges Ziel ihn leitet. Er hebt den Kopf, bleibt plötzlich stehen, sein Blick richtet sich auf die Menge, die zu seiner Ehre versammelt ist. Mit einer leichten Handbewegung und einer gewissen Zurückhaltung grüßt er sie herzlich und nimmt bescheiden den an ihn gerichteten Applaus entgegen. Der Ernst und die Freude dieses historischen Augenblicks gelangen über die Bildschirme in fast jedes Haus und fast jedes Herz in unserem Land und überall auf der Welt. Ein Augenblick voll tiefer Rührung. Der Papst hier, in unserem kleinen Land, das immer in Aufruhr ist! Von diesem Moment an und während der ganzen Woche seines Aufenthaltes in Israel werden die Augen der ganzen Welt auf Israel gerichtet sein.
All das erfahre ich als etwas, das mich persönlich betrifft. Ich war von fast den gleichen Ge-fühlen erfüllt vor einem Jahr, als der Papst feierlich in Gdansk empfangen wurde. Damals, als ich vor dem Fernseher saß, ganz erfüllt von der Erhabenheit jener Augenblicke, hatte ich den Eindruck dass ich dort sei, umgeben von meinen Freunden, so als sei die geographische Ent-fernung zwischen Polen und Israel verschwunden.
Dieses Mal jedoch ist es so viel mehr! Jetzt geschieht all das hier, in unserem Land! Jetzt sind wir an der Reihe. Die Augen und die Gedanken meiner polnischen Freunde richten sich jetzt auf dieses ferne Land, wo nach dem Verlust fast aller meiner Verwandten in der Shoah, jetzt meine Heimat und meine neue Familie sind!
Der Papst, der uns diesen Ehrenbesuch abstattet, ist ein Sohn des Landes, wo ich geboren wur-de, ich und meine Großeltern, meine Eltern, meine Brüder. Seine Muttersprache ist auch die meine. Jedes seiner Worte, jede seiner Gesten, hat eine besondere Bedeutung für mich. Sein Besuch ist von äußerster Wichtigkeit für mein ganzes Land, im Licht unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart und unserer Zukunft! Die Sehnsucht mehrerer Jahrhunderte nach einem guten Einvernehmen zwischen Juden und Christen – wird diese Hoffnung schließlich Wirklichkeit werden?
Mein Blick ist auf seine Silhouette gerichtet. Aufmerksam beobachte ich alle Reaktionen auf seine wohl überlegten und bedeutungsvollen Worte. Mit Freude höre ich die Kommentare und anerkennenden Worte des Oberrabbiners und anderer, besonders wichtiger Persönlichkeiten in Israel. Fast alle gestehen ein, dass der gegenwärtige Papst der größte Freund der Juden aller Zeiten ist. Er drückt sich auf die Weise aus und äußert sich an dem Ort, wie er das sollte, und geht sogar darüber hinaus. Ein Papst wie dieser ist einmalig in der Geschichte, kein anderer hat jemals so viel für die guten Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und der Christenheit getan, um die Gerechtigkeit für das jüdische Volk wieder aufzurichten, wie Johannes Paul II.
Freunde und Bekannte rufen mich an, um mit mir die Bewunderung für diesen – wie sie ihn nennen – ‚großartigen Mann’ zu teilen. Jedermann lobt die Ruhe, die Ordnung, die Schönheit der von den Pilgern und Ordensleuten verschiedener Nationen gesungenen Choräle. Sie be-wundern die allgemeine Begeisterung und Liebe für den Papst, die Frömmigkeit der Pilger und Gläubigen, die viele Schwierigkeiten überwinden mussten, jeden Pfennig sparen mussten, um es zu ermöglichen, aus den abgelegensten Gegenden der Welt anzureisen und an dieser Wallfahrt teilzunehmen zu können. Und für den Papst, wie viel kostet ihn – in physischer und in moralischer Hinsicht – jeder Schritt, den er in diesem heiligen und gefährlichen Land tut? Einhunderttausend Menschen erwarten seine Ankunft unter regnerischem Himmel in Korazin am See Kineret (See von Galiläa). Er erscheint umringt von Kardinälen und anderen Geistlichen unter einem Zeltdach, wo er die Heilige Messe feiern wird.
Verzaubert lausche ich den Chorälen, dem einstimmigen Ruf dieser riesigen, vielfarbigen Menge: „ Johannes Paul II. wir lieben dich“…. Und in mir wiederholt unaufhörlich eine Stimme: „Wenn doch nur die Welt so sein könnte! Wenn sie so sein könnte.“ Einfach, voll Verständnis, trotz all der Verschiedenheiten zwischen den Menschen.
Der Papst in Yad Vashem! Unbeweglich schaue ich auf seine Silhouette in tiefer Betrachtung versunken. Langsam lenkt er seine Schritte in Ohel Izkov hinein, getaucht in eine erschreckende Dunkelheit und Trauer. Ein ewiges Licht erleuchtet schwach, aber deutlich, die Namen der schrecklichen Orte der Massenvernichtung des jüdischen Volkes, meiner Eltern, meiner ganzen Familie: Treblinka, Majdanek, Auschwitz, Cheimno, Sobibor, Buchenwald, Ravensbrück, Dachau…
Das Gesicht des Papstes spiegelt die Tiefe seiner Trauer bei der Niederlegung des Kranzes. Still beugt er sich über diese schrecklichen Namen, reibt sich das Gesicht mit den Händen in unaussprechlicher Traurigkeit. Er hat Tränen in den Augen. Ich kann klar sein Gesicht, seine Augen sehen, in wunderbarer Weise bin ich dort neben ihm, an seiner Seite. Denn in Wirklichkeit trage ich in mir selbst den Alptraum dieser Namen und des Wortes Shoah! Meine Kindheit verbrachte ich in den Ghettos von Warschau und Auschwitz. Die Gaskammer in Majdanek, wo ich eine ganze Nacht in Erwartung des Todes verbrachte, steht in Beziehung zu meiner Dankbarkeit gegenüber den höchsten Werten des Lebens, sogar in den Tiefen der Hölle. Durch ein Wunder hatten sie in jener Nacht nicht genug Gas, und so öffneten sich am nächsten Morgen die Türen, damit die Sache in Auschwitz zu Ende gebracht werden könnte. Jedoch war ich ohne Zweifel dazu bestimmt, zu überleben, und dann lang genug zu leben, um die Errichtung des jüdischen Staates zu erleben und den Besuch des Papstes, meines großen Landsmannes. Im Verlauf von zweitausend Jahren ist dies ein Besuch, der einzigartig in seiner Aussagekraft und in seiner Bedeutung ist.
Als jüdisches Kind, unfähig die Arbeit eines Sklaven in einem Konzentrationslager zu leisten, hätte ich eigentlich sterben müssen, verurteilt zu einem sofortigen Tod. In einem kleinen Gedicht, in dem ich kürzlich die Geschichte meiner Familie beschrieb, wie sie sich in den Orten widerspiegelt, die auf dem schwarzen Stein in der Erde von Ohel Izkov eingemeißelt sind:… „Wenn ich in Majdanek gestorben wäre, wäre ich vereint mit der Asche meiner Mutter. Wenn ich in Treblinka gestorben wäre, wäre ich vereint mit der Asche meines Vaters. Wenn es in Auschwitz gewesen wäre, mit der Asche meines Bruders und meiner Schwägerin. Wenn ich dort gestorben wäre, so wäre der Tod für mich nicht fürchterlich gewesen.“ Viele Wunder haben dazu beigetragen, dass ich dort nicht zu Asche geworden bin mit meinen Verwandten, meinen Eltern, meinen Nachbarn, den Gefährten meiner Kindheit aus dem Warschauer Ghetto, mit denen ich träumte vom Ende des Krieges, vom Ende der Besetzung, von der Befreiung aus den Klauen dieses schrecklichen Bösen, um ein Mensch zu sein, dem es nicht verboten ist zu leben. Frei! Und heute, die Worte und die Tränen des Papstes voll beeindruckender historischer Bedeutung in Yad Vashem! Welche Genugtuung nach Jahren des Leidens und unsägli-cher Tragödien.
Tränen fließen auch meine Wangen herunter. So, als ob die Tränen in den Augen des Papstes die meinen wären, und die meinen, die in all jenen vergangenen Jahren nicht vergossen wurden, die seinen. Tränen der Trauer, der durchlittenen Qualen, Tränen über den Verlust meiner Verwandten, vermischt mit Dankbarkeit für dieses tiefe Verständnis und Mitgefühl des Paps-tes. Ja auch der Dankbarkeit, denn er wandte sich hier kraftvoll an Gott und ausschließlich an meine Nation und an Menschen wie mich. In Yad Vashem sprach er zu seinen Gläubigen und zu den Völkern der Welt; er sprach von den Vorurteilen, die Christen gegen uns über die Jahrhunderte hinweg hegten.
In diesem Moment möchte ich das Überströmen meiner Zuneigung mit meinen Freunden aus Polen teilen. Ich weiß, dass sie jetzt in diesem Moment den historischen Besuch des Papstes verfolgen. Ihre Gedanken sind sicherlich bei mir, und auch sie müssen den Tränen nahe sein, wenn sie an Yad Vashem denken. Wie kann ich ihnen meine Gedanken und Gefühle mitteilen? Ist all das möglich?
Am nächsten Tag, nach einer großartigen Heiligen Messe in Nazareth – der Papst an der Klagemauer … Unter dem klaren Himmel von Jerusalem, in weiß gekleidet, sitzt er in einem Sessel auf einem blauen Teppich, umgeben von blau-weißen Flaggen mit dem Davidsstern … Wie während der gesamten Pilgerreise des Papstes im Heiligen Land, informieren uns auf dem Bildschirm Untertitel in Hebräisch: Alija le regel (Pilgerreise) und das Zeichen des Kreuzes an der Stelle des Buchstabens „´ “. Alles nach den Regeln des gegenseitigen Respekts der Traditionen, bis in das kleinste Detail hinein. Wieder ruft eine Stimme aus in mir: „Wenn nur die Welt an jedem Tag so sein könnte!“
Die arabischen Politiker und die Vertreter der verschiedenen Religionen, einige unserer Minis-ter, der Rabbi und ein Mitglied der Knesset begrüßen den Papst mit herzlichen Ausdrücken des Respekts, der Achtung und Verehrung. Seine bescheidene und demütige Haltung und seine väterliche Zuneigung bewirkt in allen ein Wohlwollen, wie wir es nur selten erleben. Die Emotionen sind stark, als er sich – allein – der uralten Mauer, Bet Hamikdasz, der Klagemauer nähert. in deren Spalten die Menschen, wie es der Brauch ist, kleine Zettel mit Gebeten und innigen Bitten an Gott stecken. Um ihn herum, fast eine Leere, eine Stille. Und diese Stille ist erfüllt, eine Stille, wie wir sie hier seit zweitausend Jahren nicht erlebt haben. Der Papst flüstert ein Gebet, berührt die Mauer mit zitternden Händen, macht ein diskretes Kreuzzeichen und schiebt ein von ihm persönlich unterzeichnetes Blatt in eine Öffnung der Klagemauer. Es ist gerichtet an Gott, an die ganze Welt. Mit tiefer Rührung und Freude lesen wir: ein Gebet, das um Verzeihung bittet für das Unrecht, das seit Jahrhunderten dem Volk des Alten Bundes, den Söhnen Abrahams, von der Christenheit angetan worden ist!
Fast kann ich meine enormen Gefühle nicht in den Griff bekommen. Ich weiß, dass all dies gesagt werden muss, aber wie? Ein einfacher Bericht soll es nicht sein. Millionen von Sonder-berichterstattern aus der ganzen Welt werden darüber in Millionen von Artikeln berichten. Vielleicht werde ich all dies in einem Brief an einen engen Freund schreiben, der in der Lage sein wird, mich zu verstehen, wenn ich fähig bin, dies alles in Worte zu fassen. Ich fürchte, dass eine fremde Stimme, auch die allerdiskreteste, meine Gefühle verunstalten könnte, sie für mich fremd werden lassen könnten. Nur die Stille vermittelt am sichersten, was in der Tiefe der menschlichen Seele zu finden ist. Schon bald wird deutlich, dass ich nicht der oder die Einzige bin, die sich über diese Gedanken und Gefühle austauschen will. Pater Wrona ruft mich plötzlich aus dem Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz an. Ihm ist es zu verdanken, dass ich vor einigen Jahren mehr über die christlichen Traditionen meines Heimatlandes erfahren habe; meine polnischen Landsleute kamen mir näher, das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Land meiner Kindheit wuchs, obwohl ich dort seit einige Zeit nicht mehr lebe. In gleicher Weise haben die herzlichen Beziehungen zu den Karmelitinnen in Auschwitz dazu beigetragen, dass ich mich meinem Heimatland enger verbunden fühlte. Von jetzt an verbinden mich nicht nur meine Kindheit und die Shoah mit Polen.
Noch einmal ist am Flughafen von Tel Aviv eine Ansammlung von wichtigen Persönlichkeiten, eine riesige Menge von Reportern aus der ganzen Welt, ein roter Teppich, ein Orchester, die Armee, die Nationalhymnen Israels und des Vatikans, Flaggen, Gesichter mit einem freundlichen, herzlichen Lächeln, die El-Al-Maschine. Eine herzliche Verabschiedung, wie bei Menschen, die sich sehr teuer sind. Seite an Seite gehen sie auf dem roten Teppich, der Papst mit Premierminister Barak zur Linken und Präsident Weizman zur Rechten. Sie flüstern sich etwas zu, tauschen Vertraulichkeiten aus, neigen sich einander zu, so als wolle man nicht einen dieser letzen, fast durch das Laufen der Motoren ausgelöschten Momente, verlieren. In einem Augenblick wird das Flugzeug zum Himmel aufsteigen und den Papst zurück nach Rom bringen. Blaue und weiße Luftballons steigen in die Luft, zusammen mit so viel Namen, mit so vielen Hoffnungen.
Am Freitag Morgen, zu Anfang seines Besuchs, als ich sah, wie der Papst langsam mit seinem Stock unter dem Applaus und Gesängen der Tausenden dort versammelten Menschen auf das Zelt der Seligpreisungen in Korazin zuging, hatte ich den Eindruck, dass er in der Schwäche und Krankheit eines alten Mannes auf die Ewigkeit zugeht. Zur gleiche Zeit fühlte ich, dass er in der Kraft seiner Persönlichkeit, in der Kraft dessen, was er erreicht hat, dessen, was er sagt, dessen, was er von sich selbst gibt und dessen, was seine Person darstellt, er mit unbeirrbaren Schritten in eine Zukunft geht, die nicht den Begrenzungen des menschlichen Lebens unterworfen ist.
* Halina Birenhaum ist eine polnische Überlebende des Holocaust, die jetzt in Israel lebt. Die-ser Artikel, der in Herzliya am 27. März 2000 geschrieben und in WIEZ veröffentlicht wurde, wird abgedruckt mir freundlicher Genehmigung von WIEZ. Der Artikel wurde aus dem Polni-schen und dem Französischen übersetzt.