Francisco Javier Sancho Fermín

Die Würde des Menschen nach Edith Stein

Die Frage „Was ist der Mensch?“ war immer gegenwärtig bei der Wahrheitssuche Edith Steins. Diese Frage war charakteristisch für ihre biographische und intellektuelle Suche. Bei dieser Frage geht es immer auch um das Problem der Würde des Menschen.

Und so versteht es die Kirche, wie es das Vatikanische Konzil gesagt hat: “Ein besonderer Wesenszug der Würde des Menschen liegt in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott. Zum Dialog mit Gott ist der Mensch schon von seinem Ursprung her aufgerufen: er existiert nämlich nur, weil er, von Gott aus Liebe geschaffen, immer aus Liebe erhalten wird; und er lebt nicht voll gemäß der Wahrheit, wenn er diese Liebe nicht frei anerkennt und sich seinem Schöpfer anheimgibt.(…) Denn der Mensch ist vom Schöpfergott mit Vernunft und Freiheit als Wesen der Gemeinschaft geschaffen; vor allem aber ist er als dessen Kind zur eigentlichen Gemeinschaft mit Gott und zur Teilnahme an dessen eigener Seligkeit berufen.” (GS 19. 21)

Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten von Edith Stein sind ein Weg, um ein Verständnis des Mensch zu finden. Die geistliche und transzendentale Dimension, so wie das Problem der Freiheit, die Individualität und die Gemeinschaft… das sind Themen, die Edith Stein untersuchte.

Diese Themen werden in ihren späteren Untersuchungen nach ihrer Bekehrung zum Christentum vertieft und vollendet.  Die Annäherung an die biblische, theologische und mystische Antropologie bestätigt und erweitert den Sinn der Würde des Menschen.

Mein Vortrag konzentriert sich auf die Bedeutung dieser Elemente für das Leben des Menschen und für die Verwirklichung seiner Würde. Und das finden wir in der Definition des Menschen, die uns Edith in ihrem Werk „Der Aufbau der menschlichen Person“ gibt: „eine freie geistige Person.  Person sein heisst, ein freies und geistiges Wesen sein. Dass der Mensch Person ist, das unterscheidet ihn von allen Naturwesen.“1

Der Titel, unter den wir diesen Artikel stellen, bezeichnet einen der Aspekte, der im Denken Edith Steins mit größerer Originalität hervorsticht. Ihr Interesse ist immer auf den Menschen fixiert und auf alles, was ihn betrifft. Sie unternimmt nicht direkt eine Untersuchung in Bezug auf die Würde des Menschen, aber das Ergebnis ihrer anthropologischen Untersuchungen hat direkte Folgen für dieses Gebiet. In ihrem letzten Werk – “Kreuzeswissenschaft”- können wir lesen: “… und in diesen Deutungsversuchen macht sich geltend, was die Verfasserin in einem lebenslangen Bemühen von den Gesetzen geistigen Seins und Lebens erfasst zu haben glaubt.”2

Edith Steins Denken verläuft normalerweise in aufsteigender Linie: Der Mensch kann Gott nur erreichen von dem aus, was er ist, was er lebt, was ihn umgibt3. Dies ist die Aussage, die sie meistens zur Hand hat und von der man ausgehen muss4. Letztlich wird der Mensch, wenn er den Glauben und die Gnade bewahrt, durch den Menschen zur Erkenntnis Gottes kommen, und umgekehrt wird der Mensch in dem Maße, wie er Gott erkennt, sich selbst erkennen. Es sind zwei verschiedene Wege, die notwendigerweise zusammenkommen müssen, um sich gegenseitig zu erklären. Für Edith Stein haben die von ihr durchgeführten Untersuchungen nicht nur einen intellektuellen Zweck. Sie ergeben sich aus einer vitalen Notwendigkeit: Der Mensch schreitet in dem Maß im geistlichen Leben fort, wie er sich selbst erkennt. Folgender Text von Edith Stein ist sehr bedeutsam: „Die Seele muss erst in den Bereich ihres Wesens gelangen, und ihr Leben ist der Weg dazu. Darum ist hier die Gestaltung möglich und nötig. Damit aber diese Gestaltung  freie Gestaltung sei, nicht unwillkürliches Geschehen wie die Gestaltung der Tierseele durch ihren naturhaften Entwicklungsprozess, muss sie um sich selbst wissen und zu sich selbst Stellung nehmen können.“5

Diese Gestaltung ist zentral und wichtig, um die Würde der Menschen zu verstehen. Sehr wichtig für Edith Stein ist die Bedeutung der Mensch als Geist. Der Mensch ist eine geistige Person, d.h., der Mensch muss, um seine Würde zu entfalten, ein geistliches Leben entwickeln.

Das „geistige Leben“ befähigt den Menschen, aus sich herauszugehen, sich zu öffnen6 und dadurch auf die Suche zu gehen, zu empfangen und  sich zu verschenken. Das bedeutet also einen Prozess der Entwicklung7, der Evolution auf sein Ziel hin. Ein Ziel, das er in seinem Inneren entdeckt, das das „Geistigste“ in seinem Wesen ist.  Das geistige Leben ist notwendigerweise zunächst ein Weg der Verinnerlichung, der zur Selbsterkenntnis führt8 (unerlässlich, um die eigene Berufung entdecken und vollenden zu können), und den Menschen sein eigenes Zentrum finden lässt, wo er sich „zuhause“ fühlt und wo er seine „Freiheit“ findet. Das Zentrum der Seele ist für Edith Stein das Zentrum der Freiheit, und einzig aus der Freiheit heraus ist die liebende Vereinigung mit Gott möglich.

Daraus lässt sich folgern, dass das geistige Leben des Menschen zwei Ziele hat, die sich miteinander vereinen und sich gegenseitig implizieren und die bewirken, dass die geistige Entwicklung der Person wesentlich ist für ihre vollendete Verwirklichung. Die zwei Ziele sind „ihr Wesen und ihre Berufung“: d.h. zu entdecken , welcher Wille von Gott in die Person eingegeben ist, und „sich mit Gott zu vereinen“. Drei Elemente wollen wir jetzt analysieren, die Edith Stein als wesentliche Basis für die Entwicklung des geistigen Lebens und der Würde des Menschen ansieht:
– der innerliche Mensch als freier Mensch
– die geistige Reife als Entwicklung der eigenen Individualität
– der geistige Mensch als leibhaftiger Mensch

Der innerliche Mensch ist freier Mensch9

Diese Aussage stützt sich auf den Stein‘schen Gedanken, dass das Zentrum der Seele das Zentrum der Freiheit ist. Die Freiheit und die Innerlichkeit sind zwei Wirklichkeiten, die im geistigen Sein des Menschen, in seinem Leben, eng verbunden sind. Wer die volle Freiheit erreichen will, muss notwendigerweise sein Zentrum erreichen, d.h. er muss in sich gehen. In sich gehen ist ein Akt der personalen Erkenntnis, des geistigen Lebens10; d.h. es ist das Entdecken des Inneren11, um sich die eigene Wirklichkeit bewusst zu machen12. Diese Erkenntnis, dieses zum inneren-Menschen-Werden, ist unerlässlich, um sich ins Zentrum der eigenen Freiheit versetzen zu können, da ihr letzter Sinn darin besteht, „unbehindert dem Geist Gottes (zu) folgen“, und dabei zu wissen, „dass die größten Hindernisse …..in uns selbst liegen.“13.

Die Freiheit der menschlichen Person, auch wenn sie eine Wirklichkeit ist, die von ihrer Endlichkeit abhängt14, ist ein Spezifikum seiner Personalität und spielt eine konstitutive Rolle im Wachsen des Menschen15, so dass „die Freiheit leugnen gleichbedeutend ist mit: „die Möglichkeit des Seins zu mindern und Person zu sein“16, und „was er von seiner Freiheit opfert und was er davon bewahrt, wofür er das Geopferte hingibt und welchen Gebrauch er von dem Bewahrten macht, das entscheidet über das Schicksal der Person. Das sind Aussagen, die uns den Ernst des Themas erkennen lassen. Andererseits folgt daraus logischerweise, dass man die Freiheit über sich selbst nur in dem Maß erreicht, als man sich selbst erkennt:
„Aber wer gesammelt in der Tiefe lebt, der sieht auch die „kleinen Dinge“ in großen Zusammenhängen; nur er vermag ihr Gewicht – an letzten Maßstäben gemessen – in der richtigen Weise einzuschätzen und sein Verhalten entsprechend zu regeln. Nur bei ihm ist die Seele auf dem Wege zur letzten Durchformung und zur Vollendung ihres Seins.“17

Nur im Innern wird „das Wesen der Seele“ erfaßt18.

Nur sofern der innerliche Mensch in seinem Mittelpunkt lebt, erreicht er die Möglichkeit, Gott zu entdecken. Nur von hier aus ist eine echte Begegnung möglich, hauptsächlich aus zwei Gründen. Erstens  weil Gott im Zentrum der Seele wohnt19– Edith steht hier in der teresianischen Tradition . Der zweite Grund ist, dass der Mensch nur aus seinem tiefsten Inneren heraus am freiesten ist, und die Vereinigung mit Gott als Akt der Liebe erfordert die freieste Antwort, die der Mensch geben kann20. In diesem Akt erweist sich das Maß der Heiligkeit des Menschen, der Gott seinen Willen übergibt21. Infolgedessen sagt Edith aus, dass nur hier, im Zentrum der Freiheit, die mystische Liebesvereinigung mit Gott möglich ist22. Parallel dazu führt das Sich-ins-Zentrum-der-Seele-Versetzen zu einer höheren Erkenntnis von sich selbst und von Gott23.

Diese Hingabe an Gott als Verwirklichung  des „innersten Wesens der Liebe“24 ist in ihrer Substanz der freieste Akt, dessen der Mensch fähig ist, „denn sie verfügt nicht nur über eine einzelne Regung, sondern über das ganze eigene Selbst, die eigene Person“25, und  letztendlich ist „die Liebe das Freieste, was es gibt“26.

„Die Hingabe an Gott ist zugleich Hingabe an das eigene gottgeliebte Selbst und die ganze Schöpfung, namentlich an alle gottgeeinten Geistwesen27.

Aber wozu diese Liebesvereinigung mit Gott? Edith Stein sagt:„Die Einigung der Seele mit dem dreifaltigen Leben der Gottheit setzt die Geistnatur der Seele voraus: d.h. ihr persönlich-geistiges Wesen28. Man kann daraus schließen, dass der Mensch in seinem Inneren sein Wesen findet; und dass er, wenn er es erkennt, es in einem freien Akt zu verwirklichen sucht, indem er sich dem hingibt, der seinem ganzen Sein die Sinnfülle gibt.

Der Mensch in seiner Individualität und Gottbezogenheit

Wenn wir vom Menschen als Individuum sprechen, verstehen wir darunter „Person“, die ein „eigenes Sein“ und ein „wesentlich verschiedenes Sein“ gegenüber den anderen Wesen hat. Ausgeschlossen bleiben bei dem Begriff  „individuell“ und „Individuum“ die Bedeutungen autonom, unabhängig oder geschlossen. Die Wirklichkeit der Individualität ist etwas, was die Erfahrung uns als authentisch zeigt und was, vom theoretischen Standpunkt aus, wohl ohne Probleme zugelassen werden  kann. Trotzdem scheint es uns, dass man es nicht immer akzeptiert hat als ein Prinzip, dessen Konsequenzen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens anzuwenden sind. Mit Edith Stein betrachten wir es als ein grundlegendes Prinzip, um eine authentische Würde der Menschen zu entwerfen. Entschieden nehmen wir die Schlussfolgerung voraus, dass die Individualität nicht einfach als etwas Akzidentelles an der Person betrachtet werden kann, sondern dass sie ein notwendiges Wesensmerkmal ist für ein volles Verständnis und eine volle Verwirklichung des Seins.

Von Beginn ihrer Veröffentlichungen an sah sich Edith Stein dem Thema der Individualität gegenüber, wenn sie ihre Daseinsberechtigung und ihre Verwirklichung in den gemeinsamen Strukturen untersuchte29. Jedoch erhalten ihre Gedanken über das Individuum in ihren späteren Untersuchungen, im anthropologischen wie im theologischen Sinn, größere Bestimmtheit, weil ihre Vision und ihr Verständnis vom Menschen durch die christliche Lehre erleuchtet sind30. Für Edith Stein ist die Individualität nicht nur ein wesentliches Kennzeichen des Menschen, sondern ohne sie wäre der Mensch nicht zu verstehen:

„Bei der Behandlung des menschlichen Personseins ist öfters an eine andere Frage gerührt worden, auf die wir auch in anderen Zusammenhängen schon gestoßen sind und die jetzt geklärt werden muss, wenn das Wesen des Menschen, seine Stellung in der Ordnung der geschaffenen Welt und sein Verhältnis zum göttlichen Sein verständlich werden soll: die Frage des Einzelseins (der Individualität) des Menschen…..“31

Viele und wichtige Fragen hängen vom richtigen Verständnis des Individuum-Seins des Menschen ab: von dem, was er ist, seine Stellung in der Schöpfung und seine Beziehung zu Gott. Letztendlich erhält der Mensch durch das Verständnis seiner Individualität eine bessere Erkenntnis von sich selbst, von seiner Berufung und von  seinem Seins-Stand in der Welt und vor Gott. Die Grundlage für die Individualität des Menschen ist im Ursprung der menschlichen Seele zu suchen, die nach der „Glaubenslehre“ einzeln, individuell und direkt durch Gott geschaffen ist32. Zum Wesen der Seele gehört die Individualität33. Die Seele ist die „Form des Körpers“, und  zusammen mit ihm teilt sich ihr individueller Charakter mit, äußert und verwirklicht sich ganz in der Einheit des Menschen, wird zu einem wesensmäßig individuellen Sein34. Auch wenn sie Wesensmerkmal und sich bewusst ist, dass ihr Ursprung einem schöpferischen Akt Gottes entspringt, hört sie nicht auf, eine „geheimnisvolle“ Wirklichkeit zu sein, die niemals in der Lage ist, ihre Bedeutung ganz zu erfassen. Sie ist eine „unantastbare“ Wirklichkeit, die gleichzeitig den „Charakter“  des Seins der menschlichen Person bildet35. Die „Individualität“ zeigt sich in jedem menschlichen Akt. Es ist die „Art und Weise des Seins“ jeder menschlichen Person, die sich in jedem Augenblick des Ich ausdrückt. Es ist etwas, was man wahrnimmt, aber was im Grunde nie „mitteilbar“36 und „übertragbar“37 ist.

Edith Stein wendet Charakter der Individualität nicht im Sinn von aus der Materie hervorgehend an, sondern als Wirklichkeit, die die Materie bestimmt: „der Stoff ist dieser und jener, weil er zu dieser und jener Form gehört.“38  Das ist nicht nur Theorie, sondern stimmt überein mit der Erfahrung von Fühlen-Erkenntnis-Wahrnehmung, die jeder Mensch in sich hat,  „ein unersetzbares Individuum zu sein“, ein „Einzigartiges zu sein“39.

Das menschliche Individuum stellt sich uns also als ein sinnvolles Ganzes dar, das jedoch seine wahre Fülle nur in seiner Beziehung zum göttlichen Sein erhält40, in dem es sein ursprüngliches Sein und seine Berufung erlangt, sein individuelles Sein, aber offen und Teil einer Gruppe, in die es sich einzufügen und in der es seine Individualität zu entwickeln hat. Eine Individualität, die beim  Menschen deshalb die Vielfalt von „Wesen“ und  „Seelen“ voraussetzt. Und weil jede einzelne eine andere Teilhabe am Bild Gottes ist, gibt uns das eine größere Vorstellung  von der Fülle der schöpferischen Liebe Gottes41.

Die „Individualität des Menschen“ bedeutet weder Autonomie noch Individualismus, sondern das Gegenteil. Sein individuelles Sein hat und gewinnt Sinn in dem Maße, in dem er sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft entwickelt. Sein besonderer persönlicher Charakter wirkt in der Gemeinschaft, ein Aspekt, den man mit größerer Klarheit wahrnimmt und beobachtet, wenn man ihn  als Glied des „mystischen Leibes Christi“ begreift, in dem er die Sinnfülle erhält.

Zuerst nimmt man das Beziehungswesen des Menschen in seiner Struktur wahr, die aus drei konstitutiven Elementen gebildet ist. Die harmonische Beziehung zwischen Seele-Körper-Geist macht ihn zu einem einheitlichen Wesen, und nur in dem Maß, in dem diese Beziehung als Einheit wirksam wird, verwirklicht er sich als Mensch. Auf diese Weise wird das „Beziehungswesen“ zu einem unerlässlichen und wesentlichen Bestandteil der menschlichen Person.

Wir sagten, dass der Mensch auch als Wesen mit einem geistigen Leben definiert wird, einem Leben das durch seine „Offenheit“ und durch seine Neigung, aus sich herauszugehen und sich hinzugeben, gekennzeichnet ist42. Dieses geistige Wesen macht ihn zu einem theologischen Wesen, das sich in dem Maß verwirklicht, in dem es sich in Beziehung setzt43. Diese Beziehung, die Ausdruck seines Lebens ist44, äußert sich grundlegend in zwei Richtungen: die Öffnung zur Welt, die ihre Daseinsberechtigung in der Struktur findet, die durch eine Seele und einen eingeborenen Geist gebildet ist45, und als Abbild des Mensch gewordenen Christus. Das macht ihn zu einem für die Natur verantwortlichen Wesen, und es bestimmt sein Wesen als Sein in der Welt und in der Gesellschaft. So entspricht dem Mensch-Sein das „Glied-Sein“ und das sich in-der-Menschheit-Verwirklichen46. So verwandelt er sich in ein korrespondierendes Wesen, d.h. „alle Erzeugnisse des Menschengeistes werden zum Gemeingut der Menschheit, zur Nahrung für die Seelen mitlebender  und nachfolgender Geschlechter“47. Dieses Dasein in der Welt entfaltet sich durch soziale Akte, Beziehungen, Strukturen und menschliche Verwandtschaften. Andererseits ist für Edith Stein das qualitative Charakteristikum der Gemeinschaft „die Offenheit für das fremde Subjekt“48.

Die Folgen dieser Wirklichkeit des „Daseins-in-der-Welt“  für den Menschen kann man noch genauer in Beziehung zu seinem Ziel beobachten. Von der Erschaffung des  Menschen an erscheint er als ein Wesen, das für die Einheit der menschlichen Rasse berufen ist, die in Christus als Haupt des Leibes der Menschheit, der Kirche, repräsentiert ist49.

Beziehung zu Gott: das ist das letzte Ziel des ganzen Lebens. Von seiner Erschaffung an ist der Mensch  zur Vollkommenheit berufen, eine Wirklichkeit, die er nur in der Vereinigung mit Gott erreicht. Seine aufsteigende Entwicklung besteht also darin, dass er sich für Gott öffnet50, um sich mit Ihm zu vereinigen.

Entwicklung der Individualität als geistige Reife

„So ist die einzelne Seele mit ihrer „einmaligen“ Eigenart nicht ein Vergängliches, das nur bestimmt wäre, die Arteigentümlichkeit für eine vorübergehende Zeitdauer in sich auszuprägen und während dieser Zeitdauer an „Nachkommen“ weiterzugeben, damit sie über das Einzelleben hinaus erhalten bleibe: sie ist zu ewigem Sein bestimmt, und das lässt es verständlich erscheinen, dass sie Gottes Bild auf eine „ganz persönliche Weise “wiedergeben soll.“51

Wir wollten dieses Thema  mit einem Zitat von Edith Stein weiter bringen, in dem sie uns die große Bedeutung zeigt, die die Frage der Individualität für sie erhält, da sie sie als einen Schlüssel für die Evolution des ganzen geistigen Lebens der Person betrachtet. Es ist nichts Akzidentelles in der Berufung zur Vereinigung mit Gott, sondern etwas Wesensgemäßes. Es steht in direkter Beziehung zu dem was den-Willen-Gottes-erfüllen bedeutet. Mit größerer Klarheit finden wir den Gedanken im folgenden Text reflektiert:

„Wenn aber das irdische Leben endet, und alles abfällt, was vergänglich war, dann erkennt sich jede Seele, „wie sie erkannt ist“, d.h. wie sie vor Gott ist: als was und wozu Gott sie, sie ganz persönlich, erschaffen hat und was sie in der Natur- und Gnadenordnung – und dazu gehört wesentlich: kraft ihrer freien Entscheidungen – geworden ist“52.

Daraus können wir die ersten Schlüsse ziehen: Die geistige Reife besteht darin, nicht nur die allgemeine Berufung eines jeden Menschen zur Vereinigung mit Gott voranzutreiben, sondern diese in der persönlichen Freiheit und in der „Besonderheit“, mit der Gott sie ausgezeichnet hat, zu verwirklichen, d.h. die empfangenen „Talente“ fruchtbar zu machen. Alles dies hat natürlich auf allen Gebieten des christlichen Lebens seine Konsequenzen: in der Erziehung und Formung, innerhalb der kirchlichen Gruppen oder Gemeinschaften. Edith Stein möchte uns zeigen, dass für die Berufung des Menschen nicht nur die Vereinigung wesentlich ist, sondern auch die Art und Weise ihrer Verwirklichung als ein weiterer Aspekt des Bildes Gottes im Menschen, und so zu entdecken, zu verwirklichen und zu fördern, dass jede Person den Willen Gottes aus ihrer „Individualität“ heraus zu erfüllen trachtet .

„Berücksichtigung  der Individualität ist eine Forderung, die für alle Erziehung zu stellen ist.“53

„….diese ihre Individualität soll mit ihrem Menschentum…….durch ihren Bildungswert zur Entfaltung kommen.“54

Die Individualität ist nicht nur ein Kennzeichen der Person, die das besondere Arbeiten des Menschen prägt. Wenn sie als „Stempel Gottes“ dargestellt und verstanden wird, wird sie zum „persönlichen Charisma“ des Individuums. Daraus ergibt sich die dringende vitale Notwendigkeit, sie zu erkennen und  lebendig werden zu lassen. Das Erkennen der eigenen Individualität und daher der eigenen Berufung ist nur aus einem echten geistigen Leben heraus möglich, (wenn wir in Betracht ziehen, was wir früher sagten) d.h. es hängt unmittelbar vom Grad der durch die Person erreichten Innerlichkeit ab55. Der wesentliche und existentielle Wert der Individualität wurzelt in ihrem Ursprung, indem sie Geschenk Gottes für den Menschen und die  Menschheit ist:

„Gott, der jeder Menschenseele ein eigenes Siegel aufgeprägt hat, verbindet auch jede in einer ganz eigenen Weise mit sich. Aus der Fülle des gottmenschlichen Lebens, die kein Menschenherz zu fassen vermag, teilt der Herr jedem ein besonderes Geheimnis mit, durch das er zu dem Unfaßlichen Zugang erhält.“56

So können wir auch behaupten, dass die Berufung des individuellen Menschen zudem darin besteht, persönlich das Bild Gottes,  der in ihm gegenwärtig ist, in ganz eigener Weise widerzuspiegeln57.

„Aber es liegt im Wesen des Menschen, dass jeder einzelne und das ganze Geschlecht das, wozu es seiner Natur nach bestimmt ist, erst in einer zeitlichen Entfaltung werden muss und dass diese Entfaltung an das freie Mitwirken jedes einzelnen und das Zusammenwirken aller gebunden ist.“58

Andererseits zeigt uns die Tatsache, dass seine Entwicklung sowohl an die Person wie auch an die menschliche Gemeinschaft, in der er lebt, gebunden erscheint, dass die menschliche  Übereinstimmung ein notwendiger Faktor ist, um sie effektiv zu gestalten. Wir müssen noch einmal betonen, dass die Vollendung des Menschen darin besteht, dass er mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Dabei ist nach Edith Steins Ansicht der Wille nichts Abstraktes, sondern er findet sich im Innern des Menschen eingeprägt in seiner Individualität als Geschenk Gottes. Man könnte sich fragen, wie es möglich ist, dass es  soviele individuelle Charismen wie Personen gibt. Die Antwort ist für Edith Stein höchst einfach: Die Liebe Gottes ist so groß, so grenzenlos, dass sie immer neue Weisen findet sich zu offenbaren59. Wenn  sich uns diese Gabe Gottes als etwas Abstraktes auch nicht zeigt, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass sie, auf Gott beruhend, etwas Geheimnisvolles bleibt.

In einem weiteren Schritt stellen wir fest, dass die Verwirklichung der Individualität als „Charakter“ darin besteht, „zu sein, wer man ist“. In diesem Sinn steht Edith Stein in der paulinischen Tradition. Der Mensch muss sein Wesen verwirklichen, muss sein, „was er ganz persönlich sein soll, (einer) der seinen Weg geht und sein Werk wirkt“60. Die geistige Reife wird nur in dem Maß erreicht, in dem man sich selbst erkennt und die persönliche Individualität verwirklicht. Dieser Berufung voll zu entsprechen, bedeutet in die Dynamik einzutreten, die die Erfüllung des göttlichen Willens mit sich bringt, und daher zu beginnen, mit Ihm eins zu werden. Da der göttliche Wille im Menschen andererseits – wenn auch nicht ausschließlich –fordert, dass der Mensch sein „persönliches Charisma“ verwirkliche, das er nur in seinem Wesen erkennt, folgt daraus, dass es der Wille Gottes ist, dass der Mensch die Vollendung seines Seins erreicht.

Geistiger Mensch = leiblicher Mensch

Es ist ein Aspekt, der mit größter Klarheit im Denken Edith Steins aufscheint, wenn sie explizit auch nicht viel davon spricht. Aber implizit ist es eine Folgerung, die sich ohne Schwierigkeit ergibt, sobald man ihre Auffassung vom Menschen als Einheit von Geist, Seele und Leib versteht.

Der Mensch erscheint vor uns als ein Leibwesen. Sein Körper ist weder Gefängnis noch Verbannung, sondern ein Gut und Mittel und Instrument, das er zu „benutzen“ lernen muss. Sein körperliches Leben, seine Fleischwerdung bringen ihn in direkten Kontakt mit der Welt, von der er ein Teil ist und in der er leben muss. Aus diesem Kontakt ergibt sich als erste Konsequenz eine Ehrfurcht vor dem Leben, und zwar durch den einfachen Grundsatz, dass nur vom Lebendigen Lebendiges kommt61. Darin ist ein gewichtiger theologischer Grundsatz zu erkennen, nach dem alles Geschaffene „eine dreifaltige Seinsentfaltung“ ist62, Abbild des Logos63, der Drei-Einheit64.

Der Mensch als Leibwesen ist von Natur aus zum Umweltschutz aufgerufen: die ganze Schöpfung zu lieben, zu achten und für sie zu sorgen, „der Heiland aller Kreatur“ zu sein, da auch sein geistiges Leben alles Geschaffene umfasst. Er ist in großem Maß verantwortlich für das gute Funktionieren der Natur. Das Wesen des Menschen entfaltet sich, gemäß seinem Wesen in doppelter Beziehung: zu Gott und zur geschaffenen Welt65. Sein stofflich-körperliches Sein und das Sein seiner Seele definiert sich als ein Sein in einem Körper, ein Leben, das in einer bestimmten Umgebung und in einer bestimmten geschichtlichen Zeit abläuft66. Er verwirklicht sich in und mit der Menschheit, der er als Glied angehört67. Dort findet er das Umfeld seiner Beziehungen und den Bereich, wo er seine besondere Berufung fruchtbar machen muß68.

Sein „Leibsein“ findet seinen vollen Sinn in Christus, der als Logos und Erlöser das Vorbild ist, das einzige Ziel des Menschen. Christus, der die menschliche Natur selbst angenommen hat, ist das Maß für ihren Wert. Es ist gleichzeitig eine erlösende Wirklichkeit, die es zu bewahren gilt. Jesus Christus ist das Urbild der Menschheit69. In Ihm findet  und verwirklicht sich auch das Mysterium des Zusammenschlusses der Menschheit von dem Augenblick an, da Er zum Haupt der Menschheit, der Kirche wird70.

Die Annahme der Körperlichkeit des Menschen ist die Vorbedingung für eine echte Geistigkeit. Auf diese Weise werden Irrwege vermieden, die ein falsches Verständnis des Menschen hervorrufen können. Das Menschliche und das Göttliche erklären sich gegenseitig, und nur von einer Vereinigung der beiden kann man zu einer richtigen Interpretation kommen, die als solides Fundament für die Entwicklung eines erfüllten christlichen Lebens dienen wird.

Schlussfolgerungen

Die Würde eines jeden Menschen ist der Schatz, der jeden Mann und jede Frau definiert, die unveräußerliche Identität für sich und für die ganze menschliche Gemeinschaft.

Die Tatsache der Individualität eröffnet die Perspektive, dass jeder einzelne Mensch einen einzigartigen und unersetzlichen Wert für die Menschheit besitzt. Und im Licht der theologischen Anthropologie betrachtet, spiegelt jeder Mensch „etwas“ vom einzigartigen Bild Gottes, das nur komplett in der ganzen Menschheit ist. Wie die Kirche als „Leib Christi“ gesehen, wo alle Mitglieder Teil des Ganzen sind.

Die Freiheit spricht über persönliche Verantwortung und zugleich über die Möglichkeit in Freiheit zu leben, auch bei ungünstigen äußeren Umständen. Das führt uns zu dem Schluss, dass der Mensch die Gelegenheit nutzen kann, um seine Freiheit zu entwickeln.

Sein Wesen, seine Würde zu leben, muss sich entfalten in allen seinen relationalen Dimensionen: mit sich selbst (Innerlichkeit, Selbst-Erkenntnis) mit anderen (Brüderlichkeit, Gemeinschaft), mit der ganzen Schöpfung (Inkarnation und Ökologie) und mit Gott (Gebet und Identität).


  • 1  E. STEIN, Der Aufbau der menschlichen Person (Edith Stein Gesamt Ausgabe 14), Herder, Freiburg s. 78.
  • 2  E. STEIN, Kreuseswissenchaft. Eine Studie über Johannes vom Kreuz, (Edith Stein Werke), Herder, Freiburg 1983, S. 1. (KWS).
  • 3  Vgl. Endliches und ewiges Sein (Edith Stein Werke 2) Herder, Freiburg 1984, S. 34 ff. (EES)
  • 4  Vgl. EES,  S.336
  • 5  EES, S.395
  • 6  Vgl. EES S.336
  • 7  Vgl. Was ist der Mensch? Eine theologische Anthropologie (Edith Stein Werke 17) Herder, Freiburg 1994,  S.115 (ThAnt)
  • 8  Vgl. EES  S. 417.
  • 9  Über die Bedeutung , die das Thema der Freiheit innerhalb des Stein‘schen Denkens gewinnt, sagt Amata NEYER aus, dass es „für sie eine  Frage auf Leben oder Tod“ war, in Reflejos de libertad, in Revista de Espiritualidad 50 (1991) 362
  • 10  Vgl. EES S.417
  • 11  Vgl. EES S.415
  • 12  Vgl. EES S.395
  • 13  Hochzeit des Lammes, in Verborgenes Leben ((Edith Stein Werke 11) Herder, Freiburg 1987, S.131.
  • 14  Vgl. EES S.342-343
  • 15  Vgl.Eine Untersuchung über den Staat, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung (hrsg. Von Edmund Husserl) Band VII, 1925, SS.43-44.
  • 16  E. GARCIA ROJO, La constitución de la persona en Edith Stein, in Revista de Espiritualidad (Madrid) 50 (1991) 343
  • 17  EES S. 405
  • 18  EES S.402
  • 19  Vgl. Die Seelenburg, in Welt und Person ((Edith Stein Werke 6) Herder, Freiburg 1962, S.67 (SB).
  • 20  Vgl. SB S.67
  • 21  Vgl. SB S.67-68
  • 22  Vgl. KWS S.145. Den gleichen Gedanken hat A. BEJAS, Edith Stein. Von der Phänomenologie zur Mystik  (Disputationes Theologicae 17), Peter Lang, Frankfurt a.M. 1987, S.52
  • 23  Vgl. EES S.410-411
  • 24  EES S.383
  • 25  EES S. 417
  • 26  EES S. 409
  • 27  EES S.420
  • 28  EES S. 426
  • 29  Diesen Aspekt bemerkt man schon in ihrer Dissertation “Zum Problem der Einfühlung” (PE), aber sie behandelt sie direkt in ihren darauffolgenden Veröffentlichungen: “Individuum und Gemeinschaft” und “Eine Untersuchung über den Staat”.
  • 30  In ihrer ersten Phase, der die zitierten Schriften in der vorhergehenden Fußnote entsprechen, konzentrierte sich die Unterscheidung vor allem auf psychologische und biologische Aspekte. Eine Untersuchung des Theologen Rudolf EHRENBURG, Das Problem der Individualität, in Zeitschrift für systematische Theologie 3 (1925 461-516, ist ein Beispiel für die Unruhe über dieses Thema in der Zeit Edith Steins. Aber er umgeht die Tatsache , dass diese Individualität nur  vom Biologischen her gesehen wird. Das lässt uns andererseits umso besser die Originalität Edith Steins feststellen, weil sie dieses Thema in die theologische Diskussion gebracht hat, wie sie es in ihren Schriften nach der Konversion tut..
  • 31  EES S.431
  • 32  Vgl. ThAnt S.23
  • 33  Vgl. EES  S.399
  • 34  Vgl. EES S.70
  • 35  Vgl. EES  S.459
  • 36  EES S.334
  • 37  Vgl. EES S.431-432
  • 38  EES S.441
  • 39  EES S.459
  • 40  Vgl. EES S.460 ff.
  • 41  Vgl. EES S.462
  • 42  Vgl. EES S.336-337
  • 43  Über dieses Thema vgl. A. LOBATO, Struttura personale ed esperienza die Dio, in Edith Stein: mistica e martire, Citta del Vaticano 1992, S.135-170
  • 44  Vgl. EES S.399
  • 45  Vgl. EES S.464
  • 46  Vgl. EES S.463
  • 47  EES S. 464
  • 48  Individuum und Gemeinschaft, in Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung (hrsg. von Edmund Husserl) Band V, 1922, S. 267
  • 49  Vgl. EES S.466 ff.
  • 50  Vgl. EES S. 462
  • 51  EES S. 461
  • 52  EES S. 462
  • 53  Grundlagen der Frauenbildung,  in Die Frau (Edith Stein Werke 5), Herder, Freiburg 1959, S.77
  • 54  Probleme der Frauenbildung,  in (Edith Stein Werke 5), Herder, Freiburg 1959, S.152
  • 55  „Der Mensch ist dazu berufen, in seinem Innersten zu leben und sich selbst so in die Hand zu nehmen, wie es nur von hier aus möglich ist; nur von hier aus ist auch die rechte Auseinandersetzung mit der Welt möglich¸ nur von hier aus kann er den Platz in der Welt finden, der ihm zugedacht ist.“ In KWS S.143
  • 56  Eine deutsche Frau und große Karmelitin. Mutter Franziska von den unendlichen Verdiensten Jesu Christi OCD (Katharina Esser) 1804-1866, in Ganzheitliches Leben (Edith Stein Werke 12), Herder, Freiburg 1990 S.149.
  • 57  Vgl.EES S.462
  • 58  EES S. 481
  • 59  Vgl. EES S. 462
  • 60  Probleme der Frauenbildung, in Die Frau (Edith Stein Werke 5), Herder, Freiburg 1959, S.153
  • 61  EES S.245-246
  • 62  Vgl. EES S. 334
  • 63  Vgl. EES S. 225
  • 64  Vgl. EES S. 328ff.
  • 65  Vgl. EES S.399
  • 66  Vgl. EES S.464
  • 67  Vgl. EES: S.463
  • 68  Vgl. EES S.466
  • 69  Vgl. EES S.474ff.
  • 70  Vgl. EES S.466 ff.

Prof. Dr. Francisco Javier Sancho Fermín, ocd
Unbeschuhter Karmelit, geb. 1966 in Burgos (Spanien), Dr. theol.,  studierte in Spanien, Italien und Deutschland. Er lehrte u.a. am Theresianum (Rom), CEHCAC in Mexiko und  in Salamanca. Derzeit Professor an der Theologischen Fakultät in Burgos und Direktor der Mystik-Universität in Avila.

Der Artikel geht zurück auf einen Vortrag beim Internationalen Kongress „EDITH STEIN VERBINDET“ am 8.-10. Juni 2012 am Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim (Auschwitz).
© Autor und Centrum Dialogu i Modlitwy w Oświęcimiu.