Warszawa, 4. Februar 2005
Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim
Sehr geehrter Pfarrer Dr. Manfred Deselaers!
Die Aufgabe, die das Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim für deas Werk der Versöhnung und gemeinsamer Zukunftsverantwortung erfüllt, verdient höchste Anerkennung und Wertschätzung der Menschen, die die wagemutige Aufgabe auf sich genommen haben, Bedingungen für gegenseitiges Verständnis und Achtung unter verschiedenen Rassen, Bekenntnissen und Volkszugehörigkeiten zu schaffen.
Das Leben liefert uns täglich Beispiele, wie schwer diese Aufgabe ist und wie ungeheuer viel Zeit wir benötigen, um die Menschheit zu Geschwisterlichkeit zu führen, zu Verzicht auf Fremdenangst und Rache für das, was unsere Vorfahren getan haben. Einige Beobachtungen und Gedanken:
[…]
Ich apelliere an die Jugend Deutschlands! Lasst Euch von den Propagandisten unter dem Zeichen des schwarzen gebrochenen nazistischen Hakenkreuzes nicht einreden, es habe polnische Konzentrationslager gegeben. Solche Lager gab es auf dem Gebiet Polens nie. Auf dem Gebiet Polens, im von nazistischen Deutschen okkupierten Land waren nazistische Konzentrations- und Vernichtungslager, die einen wie die anderen von Deutschen gegründet. Das Lager Auschwitz-Birkenau war gleichzeitig ein Konzentrationslager und ein Vernichtungslager, während es z.B. in Treblinka nur ein Vernichtungslager gab, das die deutschen Nazis allein dafür geründet hatten, um etwa 700 000 Juden zu vergasen und zu verbrennen. Es gab mehr solcher Lager. Im Polen der Jahre 1939 bis 1945 gab es keine mit den Hitlerdeutschen kolaborierende Organisation. Weder tat das das polnische Rote Kreuz, noch die Caritas, noch der Hauptfürsorgerat. In vielen Ländern des heutigen Europa, die damals von Hitlerdeutschland besetzt waren – in Ländern, die sich heute herausnehmen, von „polnischen Konzentrationslagern” zu schreiben – gab es Organisationen, ja sogar Regierungen, die mit den nazistischen Deutschen kolaborierten. Jugendliche der Welt! Nehmt die Euch angebotenen Lügen nicht als Wahrheit! Andernfalls werdet Ihr Euch nie versöhnen und mögen!
Ich erinnere mich an das Jahr 1937. In Spala – dem damaligen Sitz des Präsidenten der Republik Polens Ignacy Moscicki – wurde ein „Jamboree” organisiert, ein internationales Pfadfindertreffen. Es waren Pfadfinder beiderlei Geschlechts aus der ganzen Welt gekommen. Ich war 13 Jahre alt, aber ich erinnere mich, wie die schottischen Pfadfinder in karierten Röcken und großen khakifarbenen Filzhüten mit polnischen Pfadfinderinnen spazieren gingen. Diese integrierte, aber gleichzeitig komplett untereinander gemischte Jugend bildete ein Bild, dass die Hoffnung einflößte, dass es gut ist, wenn sich die Jugend verbindet, dass eine Vision einer friedvollen, guten Welt entsteht. Wir wissen, dass es so nicht kam. Am „Jamboree” nahmen, wie ich mich erinnere, weder die sowjetischen Komsomolzen noch die Mitglieder der „Hitler Jugend” teil. Dennoch, meine ich, sollten junge Leute der Länder der Europäischen Union heute eine große Organisation gründen nach dem Vorbild der Pfadfinder, sich große humanistische Ziele vornehmen, internationale Treffen organisieren, gemeinsam die Ferien verbringen, viele Sportdisziplinien betreiben, verschiedene Sprachen lernen, an ökumenischen Gebeten teilnehmen, gemeinsam singen und spielen, sich gegenseitig lieben, aber konkurieren in dem, was anspruchsvoll, gut und edel ist. Dann wird sich die schlimme Geschichte nicht wiederholen, dass ein Olympiasportler (Janusz Kusocinski) von anderen Sportlern aus dem benachbarten Land erschossen wird.
Noch eine Reflexion. Adolf Hitler war ein Charismatiker. Er kam an die Macht, als in Deutschland eine große Wirtschaftskrise war. Das kam seinen mörderischen Gedanken entgegen. Er begeisterte eine enorme Menge Menschen für den Kampf gegen die an der schlechten Wirtschaftslage Schuldigen. Schuldig, seiner Ansicht nach, waren natürlich die Juden. Das redete er dem ganzen Volk ein. Später hat er den populären Slogan von der notwendigen Vergrößerung des „Lebensraumes” ausgegeben. So hat er den Zweiten Weltkrieg hervorgerufen. Solange er große militärische Erfolge errang, unterstützte ihn das ganze deutsche Volk. Aber später, als man sich nach der Niederlage in Stalingrad zurückziehen musste, verlor er die volle Unterstützung. Der Krieg zog sich in die Länge, Deutschland wurde von den Flugzeugen der Allianten bombardiert, und es starben Menschen im eigenen Land, hinter den Frontlinien. Viele Deutsche haben dann über den Sinn des Krieges nachgedacht. Auf diesem Hintergrund entstand Streit in deutschen Familien. Ein polnischer Literat, Leon Kruczkowski, brachte das in seinem Drama „Die Familie Sonnenbruch” (polnisch: „Niemcy”) zum Ausdruck. Ich habe in meinen Erinnerungen „Sich nicht totschlagen lassen” („Nie dac sie zabic”) meinen Kontakt mit einem Deutschen erwähnt, mit meinem Meister im Lager Wansleben am See, mit Alfred (?) Hahmann. Hahmann war, so sagte 1997 der Bürgermeister von Wansleben, „ein Nazi”. Aber damals, als um mich herum täglich Menschen an Hunger starben, hat er mir mit einem Stück Brot und mit einer Zigarette geholfen, die ich im Lager für ein Stück Brot verkaufte, um zu überleben! Man kann Hohmann nicht verurteilen, weil er „Nazi” war. Vielleicht war er es, aber er hat sich vermenschlicht. Ich habe ihm die Tragödie der Juden in Birkenau erzählt, und er hat mich nicht der „Gestapo” ausgeliefert. Was für ein „Nazi” war er also? Und als ich in eben diesem Wansleben am See 10 Tage lang in der Bäckerei Hoffmann Brot stahl, soll ich glauben, dass der Bäcker das nicht gemerkt hat? Ich bin heute überzeugt, dass er es gesehen hatte, aber so tat, als sähe er es nicht, weil SS-Männer daneben standen und er sich darüber im Klaren war, was die Folgen wären, wenn er es aufgedeckt hätte. Das ist Toleranz.
Ich habe an diese Episode erinnert, weil ich zeigen will, dass die heutigen Deutschen mit sich selbst nicht versöhnt sind. Es passt nicht in den Kopf des heutigen Bürgermeisters, dass Hahmann damals aufgehört haben könnte, „Nazi” zu sein. Mit anderen Worten, die heutigen Deutschen haben weiterhin mit sich selbst echte Probleme. Das dauert noch einige Generationen.
Geschätzter Pfarrer Dr. Deselaers!
Das sind unerschöpfliche Themen. Vielleicht versuche ich in einem folgenden Brief auf die vielen konkreten Fragen der Jugendlichen zu antworten. Die Fragen sind kurz, aber die Antworten lassen sich nicht in einen Satz fassen.
Ich grüße von Herzen,
hochachtungsvoll
Czesław Arkuszynski
Warszawa, 10. Februar 2005
Hier sind meine Antworten auf einige Fragen der Jugendlichen aus Deutschland, Österreich, Polen…
.:. Nicole Zach, Daniela Lazenhofer, Sylwia Rapp aus Hollabrunn – Österreich:
Verlangt über die Direktion Euerer Schulen, dass das Erziehungsministerium in Euerem Land in die Schulbücher für Geschichte pflichtmäßig eine Lektion über die Konzentrationslager und Vernichtungslager einfügt, die vom nazistischen Deutschland in Europa vor und während des Zweiten Weltkrieges gegründet wurden. Nach solch einer Lektion organisiert dann selbst Seminare – Wissensteste zu diesem Thema. Es gab schließlich auf dem Gebiet von Österreich zwei große Konzentrationslager in Mauthausen und Gusen und einige kleinere in anderen Ortschaften.
.:. Frauke Brünning, Mirjam Laux aus Hadamar sowie Katarina Hartwig und Anja Linding aus Jena – Deutschland:
Ich habe mich über Euer Bewußtsein und die angemessene Bewertung dessen, was geschehen war, gefreut. Wir, die ehemaligen Häftlinge, geben Euch keinerlei Schuld. Klärt aber die anderen jungen Deutschen auf, wenn sie die Geschichte anders bewerten als ihr. Was die Erziehung in den Schulen angeht, siehe meine Forderung oben. Den Jugendlichen aus Jena widme ich die Kapitel meiner Arbeit „Wansleben am See“ (das ist in der Nähe von Jena) und „Befreiung“.
.:. Mirjam, Martina und Maria aus Großkrotzenburg – Deutschland, sowie Verena Muckenhuber, Ines Beer, Andrea Hagendorfer aus Hollabrunn – Österreich:
Es gibt im Leben manchmal Erlebnisse, die eine tiefe Furche in die Erinnerung eingraben. Diese Furche läßt sich nicht zuschütten. Deshalb erzählen wir dauernd. Wir bitten Euch, die Jugend, um Weitergabe dieser Erinnerungen. Wir haben keinen Haß in uns, aber ich kann mich denen nicht anschließen, die darüber ohne Leid, Groll erzählen. Ich leide unter der durch den Krieg verspäteten Erziehung, durch die Schäden an der körperlichen und psychischen Gesundheit, am Verlust des Vaters, am Verarmen des Familienvermögens und ähnlichen Folgen des Krieges. All das hat mein späteres Leben geprägt und ärmer gemacht.
.:. Nadine Brothagen, Juliane Noack usw. aus Mönchengladbach, Deutschland:
Mädchen! Ihr geht einen guten Weg. Weiter so!
.:. Michał Chrzan aus Oświęcim – Polen und Pfeiffer aus Hollenbrunn – Österreich.
Euere Neugier kann nur vertiefstes Wissen über das Entstehen und die Ziele des Nationalsozialismus beantworten. Fragt Euere Geschichtslehrer danach, auch die Ethiklehrer.
.:. Katarina Groiss, Daniela Lazenhofer, Sylvia Rapp aus Hollabrun – Österreich, sowie Anna Wonsack aus Hünfelden, und auch Katarina Hartwig und Anja Lindig aus Jena- Deutschland
Die, die an Gott gleuben, machen ihm nie Vorwürfe. Wer gegen die göttlichen Normen verstossen hat, die sich aus dem Dekalog ergeben – der möge sich um die Zukunft seiner Seele sorgen. Immer muss man Gott um Hilfe in der Not und um ein besseres Morgen bitten. Als ich an Tyfus im Sterben lag, habe ich gebetet, wenn ich nur bei Bewußtsein war; als ich die Freiheit wiedergewonnen hatte – habe ich Gott gesucht, um ihm Dank zu sagen für die glückliche Fügung meines Schicksals in den Konzentrationslagern. Nie hatte ich die Hoffnung verloren.
.:. Ewelina Matyjasik aus Oświęcim – Polen:
Ich habe schon in meinem ersten Brief versucht, kurz die Umstände zu erklären, die es Hitler erleichterten, in Deutschland die Macht zu ergreifen. Er versprach dem Volk eine Verbesserung seiner Lebensbedingungen und im Grunde ist ihm das auch gelungen. Viel zu schnell, lawinenhaft, riß er das ganze deutsche Volk mit sich. Neben ihm war kein so charismatischer Deutscher da. Und wenn es ihn doch gab, dann hatte er nicht genug Mut. Die Konsequenzen seiner Ideologie kennen wir. 60 Jahre nach dem Krieg haben sich die deutschen Führer bei den Völkern der Welt entschuldigt für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Anständige Deutsche haben länger gelitten als wir gelitten haben. Ewelina – vergleiche das Handeln der Nazis mit den Wörten, die sie auf dem Gürtel ihrer Uniformen geschrieben hatten „Gott mit uns“. Das war doch Gotteslästerung.
.:. Auf die übrigen Fragen der deutschen und österreichischen Jugendlichen antworte ich :
– Nach dem Krieg war ich ganz mit Lernen und Arbeit beschäftigt. Unser Denken floh Lagerthemen. Wir hatten keine Lust, die schwarzen Epochen unseres Lebens zurückzurufen. Jedoch jeder Mensch ist ein Individuum. Ich habe oft ehemalige nazistische Konzentrationslager in Polen, Deutschland und Österreich besucht. Mein Bruder dagegen ist zu dem Thema erst nach 50 Jahren zurückgekehrt.
– Wie ich das Verhalten von SS-Männern bewertete? Natürlich habe ich es verurteilt. Ich habe für sie Verachtung.
– Hass gegenüber dem Deutschen Volk habe ich nicht gefühlt, obwohl Verachtung mir gegenüber – dem Polen – noch viele Jahre nach dem Krieg in Deutschland begegnet ist. Andererseits bin ich seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit einem Deutschen aus Hannover befreundet.
– Wie die Wiederholung solch einer finsteren Geschichte verhindern? In Deutschland und Österreich auf dem Weg ständiger Erinnerung daran, was während des II. Weltkrieges geschehen ist. Aber es gibt auf der Welt viele Brennpunkte des Bösen und wir können nicht sicher sein, dass sich Massenmorde nicht wiederholen. Außerdem hatten wir nach dem Krieg schon viele Beispiele von Streit zwischen Völkern und Gesellschaftsordnungen, in deren Folge hunderttausende Menschen starben. Ich denke, der Weg, Hass zu bremsen, ist Erziehung. Eine große Rolle haben auch die Kirchen der verschiedenen Konfessionen. Das ist ein schwerer, mühseliger und langer Weg.
– Die Jugendlichen aus Hadamar – Frauke Brünning, Mirjam Laux aus Deutschland, denken richtig. Durch weitmöglichste Verbreitung der Wahrheit über Auschwitz, durch Überzeugen von Gleichaltrigen zu einem Besuch der Gedenkstätte in Oswiecim – so kann man sicher Einfluss auf die Bildung von ethischen Charaktern haben, die widerständig sind gegen die Einladung, Hass und Fremdenfeindlichkeit zu säen.
Ich grüße Euch, junge Freunde.
Czesław A. (131603)
[Übs. MD]