Erzbischof Dr. Ludwig Schick, emeritierter Erzbischof des Erzbistums Bamberg
Versöhnung und Befreiung
1. Unsere Workshops in Oświęcim/Auschwitz der Maximilian-Kolbe-Stiftung beschäftigen sich mit Versöhnung nach gewaltbelastender Vergangenheit. In allen bisherigen 14 Workshops habe ich Vorträge zu diesem Thema gehalten. Ich habe mich z. B. mit den Fragen beschäftigt: Wie geht Versöhnung? – Was ist bei Versöhnung zu beachten? Dabei habe ich fünf Punkte unterstrichen:
Erstens müssen die Fakten der Gewalt und der Verbrechen genau angeschaut und analysiert werden!
Zweitens: Diese müssen bekannt werden, d. h. öffentlich gemacht werden.
Drittens müssen diese zutiefst bereut werden, von allen, die persönlich oder kollektiv daran teilgenommen haben oder beteiligt waren; von Nachfahren der Täter müssen sie geächtet und verurteilt werden!
Viertens: Die Täter und ihre Nachfahren müssen um Vergebung bitten, die aber niemals eingefordert werden kann.
Fünftens: Die Täter und ihre Nachfolger müssen zur Wiedergutmachung bereit sein, soweit das irgend möglich ist.
Ich habe auch über die notwendigen und möglichen Hilfen für die Opfer gesprochen, die es diesen ermöglichen, sich zu versöhnen. Bei anderen Vorträgen habe ich die Person und Persönlichkeit Maximilian Kolbe, Patron und Inspirator von Versöhnung, in allen Aspekten seines Lebens vorgestellt bis zum Opfer seines Lebens für einen Mitgefangenen in Auschwitz. Dabei habe ich nie verschwiegen, dass die Biografie von Maximilian Kolbe auch Schattenseiten hat. Er hat sich aus einem engen kämpferischen Katholiken und nationalistisch eingestellten Polen, der auch intolerant gegenüber Juden, Protestanten, Freimaurern etc. war, zu einem weitherzigen, international interessierten, tätigen Publizisten und katholischen Geistlichen entwickelt, der sich für eine solidarische geschwisterliche Menschengemeinschaft aus christlicher Nächstenliebe einsetzte. Am Ende seines Lebens war er von einer grenzenlosen und selbstlosen Nächstenliebe erfüllt, so dass er sein Leben im Hungerbunker für einen fremden Mithäftling hingeben konnte.
Ich habe auch den komplizierten Prozess der Heiligsprechung von Maximilian Kolbe, der 1963 begonnen wurde, über die Seligsprechung durch Papst Paul VI. 1971, bis zur Heiligsprechung durch Papst Johannes Paul II. 1982 dargestellt.
In einem weiteren Vortrag habe ich herausgearbeitet, wie Maximilian Kolbe zum Inspirator der deutsch-polnischen Versöhnung seit 1963 wurde und warum er als Patron für Versöhnung in Gewaltsituationen und nach Gewalterfahrungen gelten kann.
Auch über die Entwicklung der Maximilian-Kolbe-Stiftung, bei deren Gründung durch die deutsche und polnische Bischofskonferenz ich mitgewirkt habe und über das Wirken der Stiftung für Versöhnung in Europa, habe ich bei den Workshops gesprochen.
Heute, bei meinem wohl letzten Vortrag, möchte ich das Thema „Versöhnung und Befreiung“ behandeln. Mit Ihnen möchte ich der Frage nachgehen: Warum Versöhnung und Befreiung für die Zukunft so wichtig sind und für den Aufbau einer humanen Gesellschaft unerlässlich?
2. Seit meiner Oberstufenzeit im Gymnasium, also seit ca. 1967 habe ich mich mit der Geschichte des 20ten Jahrhunderts, den beiden Weltkriegen, der schrecklichen Nazi-Zeit und den Folgen für Europa und für die ganze Welt intensiv beschäftigt. Zu dieser schrecklichen Epoche gehören auch der Nationalismus in Italien, der Faschismus, der gleichzeitig mit Hitler und verbündet mit ihm das 20. Jahrhundert geprägt hat. Auch in Spanien gab es Nationalismus, die Franco-Ära, ebenso in Polen. In Osteuropa herrschten der Kommunismus und Bolschewismus, der 1917 begann, zunächst mit Hitler paktierte, sich nach 1945 in Osteuropa erneut ausbreitete, durch den Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 unterbrochen wurde und derzeit unter Putin wieder neu entsteht. Auch der Antisemitismus und der Antijudaismus durch die christlich geprägten Staaten und die christlichen Kirchen sind von Bedeutung. Auch über diese absolutistischen, autoritären Politiksysteme des 20. Jahrhunderts sowie über den Antisemitismus und Antijudaismus habe ich in den Workshops referiert. Sie sind für das Thema Versöhnung und Befreiung nach gewaltbelasteter Vergangenheit sowie für eine humanere Zukunft von großer Bedeutung.
3. Dabei habe ich auch viele Holocaust- und KZ-Überlebende gehört und mit ihnen gesprochen. Beeindruckt und beschäftigt hat mich bei vielen dieser Berichte, dass die Opfer des Nationalsozialismus, aber auch des Faschismus und des Kommunismus Versöhnung mit ihren Peinigern zu ihrer eigenen Befreiung angestrebt und vollzogen haben. Sie wollten sich befreien von den Ketten ihrer Erinnerungen und Traumata, deshalb haben sie Versöhnung angestrebt. Sie wollen sich von den Ketten des Hasses und der Vergeltung gegen die Täter lösen. Sie hatten erkannt, dass sie sich mit all dem und all denen, auch mit sich selbst, versöhnen mussten, um dann die Freiheit zu haben, neu zu leben und wirken zu können.
4. Versöhnung ist ein personaler Vorgang, der nicht zuletzt den Opfern selbst hilft. Nicht alle, aber viele wollen sich versöhnen, um frei zu werden für ihr Leben, das vor ihnen liegt. Versöhnung bedeutet Befreiung und ermöglicht Freiheit, für ein Leben, das aber die Vergangenheit und die schlimmen Erfahrungen nicht vergisst, sondern sie fruchtbar macht für die bessere Zukunft! Viele Nazi-Opfer und KZ-Überlebenden haben ihre Versöhnung als Befreiung für eine Freiheit, die eine „Freiheit für“ ist, erlebt.
5. „Befreiung von“ den Ketten der bösen Vergangenheit und den schlimmen Erinnerungen ist sehr schwierig und gelingt oft nicht. Hilfe von außen, zum Beispiel von Psychotherapeuten ist nötig, ebenso Gespräche und neue andere Erfahrungen sowie vor allem große eigene Anstrengung. Wo sie gelungen ist, war die Befreiung „Freiheit für“, für ein Leben und Wirken, das sich dann für eine Gesellschaft einsetzte, in der die Menschenwürde und die Menschenrechte für alle gelten, wo es keinen Rassismus und Nationalismus mehr gibt. Die Befreiten haben ihre Freiheit dafür genutzt, sich in Schulklassen und öffentlichen Vorträgen, in Symposien und Workshops für Einheit in Verschiedenheit, Freiheit und Toleranz, Gerechtigkeit und Gleichheit, unabhängig von Nation, Hautfarbe, Lebensentwürfen und Einstellungen einzusetzen, sowie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und für eine Völkergemeinschaft der Solidarität und Geschwisterlichkeit zu werben.
6. Versöhnung und Befreiung für die Freiheit, befreit zu leben und für eine gute Zukunft und das heißt im Christentum für das Reich Gottes, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude für alle Menschen zu wirken, hat im Christentum große Bedeutung. In der messianischen Botschaft Jesu ist diese Auffassung und dieser Auftrag bereits enthalten. Für Jesus selbst, den Sohn Gottes, den Messias, der Heilbringer für jeden Menschen und die ganze Menschheit, sowie für die Schöpfung ist Befreiung zur Freiheit Auftrag und Sendung. Er ist gekommen, damit alle das Leben haben und es in Fülle haben. Er will den neuen Menschen „zeugen“, der Freiheit und Gerechtigkeit. In seiner ersten Predigt, in seiner Heimatstadt Nazareth zitiert er den Propheten Jesaja, um seine Sendung deutlich zu machen. Wörtlich sagt er: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt, er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde, und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Diesem Zitat fügte er hinzu: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ Das Jesaja-Zitat ist wörtlich Jes 61,1 entnommen, außer dem Vers: „damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.“ Die Zerschlagenen sind die, die von anderen unterdrückt, missbraucht, niedergemacht, entwürdigt, versklavt und misshandelt wurden. Jesus will auch diese Zerschlagenen in Freiheit setzen. Auch sie sollen die messianische Freiheit erhalten, um in Freiheit in messianischer Art leben und für die Ausbreitung dieses messianischen Reiches zu wirken. Vom Apostel Paulus wird dieser Gedanke aufgenommen und in seinen Briefen mehrfach zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel in 2 Kor 3,17, „Wo aber der Geist des Herrn, da ist Freiheit“, oder in Gal 2,4: „Die Freiheit, die wir in Christus Jesus haben“, und in Gal 5,1: „Zur Freiheit hat uns Gott befreit.“
Sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen sind Versöhnung und Befreiung die gleichen Worte. Darauf weist Eduard Schweiz in seinem Lukas-Kommentar ausdrücklich hin. Im Christentum ist also Freiheit und Befreiung zur Freiheit ein Grundprinzip und ein Grundauftrag. Dabei wird auch deutlich, dass Versöhnung und Befreiung menschlich gesehen ein schwieriges und oft unmögliches Unterfangen ist, mit Gottes Hilfe aber möglich wird. Diese Auffassung hat auch der atheistische Philosoph Jaques de Derrida vertreten. Er ist der Auffassung, dass die Erlebnisse von Auschwitz nicht zu verarbeiten sind, ohne Gott und Religion. Für uns Christen wird durch Jesus Christus Versöhnung und Befreiung möglich, damit alle in Freiheit leben und wirken können, auch die Zerschlagenen.
7. Wer unversöhnt ist, bleibt unfrei für den Einsatz für Gemeinsinn und Gemeinwohl, sowohl in den Mikrostrukturen des Lebens, d.h. in den Familien, Nachbarschaften, Arbeitsstätten, Vereinen und Dörfern sowie auch in den Makrostrukturen Stadt, Staat, sowie der internationalen Völkergemeinschaft und in den Religionsgemeinschaften. Wer sich nicht versöhnt, bleibt zukunftsunfähig und auch gemeinschaftsunfähig, zumindest beschränkt zukunftsfähig und gemeinschaftsfähig. Wer sich nicht versöhnt, bleibt gefangen und kann sich nicht einsetzen für eine gute Zukunft.
8. Deshalb ist der Gedanke der Versöhnung zur Befreiung und der Auftrag, auch der Maximilian-Kolbe-Stiftung, für Versöhnung nach gewaltbelastender Vergangenheit zu wirken für eine Zukunft, in der es keine Gewalt mehr gibt, von bleibender Bedeutung. Die KZ-Überlebenden, denen Versöhnung und Befreiung gelungen ist, auch oft unter vielen Mühen, haben viel zum Aufbau einer Humangesellschaft beigetragen. Wir danken ihnen und ehren sie.
9. Da Verletzungen, Gewalt und Kriege immer wieder vorkommen werden, bleiben auch Versöhnung und Befreiung ein Dauerauftrag Versöhnung zur Befreiung, um in Freiheit sich für eine bessere Welt und gute Zukunft für alle einzusetzen, muss immer neu thematisiert werden. Das gilt für KZ-Überlebende sowie für alle Menschen und für die gesamte Dauer dieser Weltzeit. Versöhnung und Befreiung für die Freiheit, für eine gute Zukunft zu wirken, muss im Bewusstsein der Menschen und der Menschheit wachgehalten werden.
10. Dazu wünsche ich der Maximilian-Kolbe-Stiftung, deren Vorsitz ich im Herbst abzugeben gedenke, eine gute Zukunft. Selbstverständlich bin ich auch in Zukunft bereit, bei der Maximilian-Kolbe-Stiftung sowie beim Maximilian-Kolbe-Werk, mitzuarbeiten. Ihnen allen wünsche ich einen guten Workshop in Auschwitz und erbitte Ihnen und der Stiftung Gottes Segen.
Europa und der ganzen Welt erflehe ich eine gute Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden, Solidarität und Wohlergehen.