Vor achtzig Jahren, am Sonntag, dem 9. August 1942, erreichte ein Gefangenentransport, der im Lager Drente-Westerbork begann, sein Ziel. Die SS-Männer begannen, die zuvor verschlossenen Waggons zu öffnen, und die in den Niederlanden verhafteten Juden, die nach Auschwitz-Birkenau gekommen waren, begannen auf die Bahnrampe auszusteigen. Unter ihnen waren Schwester Benedykta vom Kreuz, Benedict a Cruce, Edyta Stein, und ihre Schwester Rosa.
Seit vielen Stunden, als der Zug eindeutig nach Osten fuhr, war sie sich voll und ganz bewusst, wo er ankommen würde und was für ein von den deutschen Nazis beschlossenes Schicksal sie hier – schon in Kürze – erwarten würde. Drei Tage zuvor, am 6. August, schrieb sie in Westerbork ihren letzten Brief in ihrem Leben, adressiert an Mutter Ambrosia Antonina Engelmann, Priorin des Karmel in Echt. In großen, unregelmäßigen, deutlich wackeligen Buchstaben, die zweifellos ihre enorme innere Anspannung andeuteten, übermittelte sie im zweiten Satz eine äußerst wichtige Botschaft: „Morgen wird 1 Transport vorzeitig abfahren (Schlesien oder Tschechoslowakei ??).“ Schlesien – das ist Auschwitz, oder die Tschechoslowakei – das ist Theresienstadt, genauer: Konzentrationslager Theresienstadt. Auschwitz bedeutete den sofortigen Tod in den Gaskammern, während das Ghetto Theresienstadt eine kaum größere Überlebenschance bot, obwohl es den Tag der Urteilsvollstreckung sicher hinauszögerte. Jedenfalls bedeuteten beide Möglichkeiten – Auschwitz oder Theresienstadt – eines: die letzte Reise zum Lebensende.
Für Edith Stein begann diese Reise laut dem Augenzeugen dieser Ereignisse im Lager Westerbork, Pater Ignacy Bromberg, „am frühen Morgen bei Sonnenaufgang am 7. August. Entlang der Straße, die durch das Lager führte, stand eine lange Reihe von Männern, Frauen und Kindern. Unter den Menschen fiel die klösterliche Kleidung besonders auf. Die Polizisten wurden durch bewaffnete SS-Männer ersetzt, und unter ihren vulgären und groben Befehlen verlies diese lange Schlange von Menschen das Lager. Wir, die wir blieben, winkten ihnen noch lange nach! Wir haben diesen Transport zum letzten Mal gesehen.“
Von diesem Weg gibt es nur noch wenige Spuren. Zuerst hörte eine Dame am Bahnhof in Schifferstadt bei Ludwigshafen, wie jemand sie mit ihrem Mädchennamen rief. Es war ihre alte Lehrerin, Fräulein Dr. Stein, schwarz gekleidet, die aus dem vergitterten Fenster ihres Wagens zu ihr sagte: „Grüßen Sie die Schwestern in St. Magdalene – Ich bin auf dem Weg nach Osten.“ Die letzte Spur, die sie hinterließ, war ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier, das Sr. Adelgunda Jaegerschmid aus St. Lioba in Freiburg bekam: „Grüße vom Weg nach Polen. Schwester Teresa Benedikta“.
Diese kurzen Bemerkungen „Ich bin auf dem Weg nach Osten“ und „Ich fahre nach Polen“ waren aus ihrem Mund eindeutig: „Ich fahre nach Auschwitz“, „Ich fahre in den Tod“. Als sie dies durch das Fenster ihres Wagons sagte, „machte sie den Eindruck einer ruhigen und guten Person.“
Wahrscheinlich bat sie Gott auch in ihren Gebeten, bis zum Schluss den Worten treu zu bleiben, die sie am Passionssonntag, dem 26. März 1939, weniger als zwei Wochen nach dem Fall der Tschechoslowakei und nach der Besetzung Böhmens und Mährens durch das Dritte Reich, an Mutter Ottilia Thannisch OCD, Äbtissin des Karmel in Echt, schickte: „Liebe Mutter, bitte, erlauben Sie mir, mich dem Herzen Jesu als Sühnopfer für den wahren Frieden anzubieten: daß die Herrschaft des Antichrist wenn möglich ohne einen neuen Weltkrieg zusammenbricht und eine neue Ordnung aufgerichtet werden kann.“
Auf diese Worte bezog sich Edith Stein zwei Monate später in ihrem Testament, das sie in der Fronleichnamsoktav 1939 schrieb: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freuden entgegen. Ich bitte den Herrn, daß Er mein Leben und Sterben annehmen möchte zu Seiner Ehre und Verherrlichung, für alle Anliegen der heiligsten Herzen Jesu und Mariae und der Heiligen Kirche, […] für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt, schließlich für meine Angehörigen, Lebende und Tote, und alle, die mir Gott gegeben hat: daß keines von ihnen verloren gehe.“.
Dieses Testament erklärt, warum sie zu Wielek, einem niederländischen Beamten in Westerbork, der immer noch versuchte, sie vor dem unvermeidlichen Transport zu retten, mit fester Stimme sagte: „Nein, bitte tun Sie nichts. Warum eine Ausnahme für mich oder diese Gruppe? Besteht nicht Gerechtigkeit gerade darin, dass ich aus meiner Taufe keine Privilegien ziehen sollte? Wenn ich das Schicksal meiner Brüder und Schwestern nicht teilen kann, ist mein Leben wie zerstört.“
Neben dieser Verbundenheit mit dem eigenen jüdischen Volk hallt noch ein weiteres, äußerst wichtiges Motiv ihres Lebens in ihren Schriften und Briefen wider: sich dem Mysterium des Kreuzes Christi anzuschließen. Anfang 1931 schrieb sie eine Meditation mit dem Titel Das Weihnachtsgeheimnis. Darin verband sie auf wunderbare Weise das Geheimnis der Menschwerdung mit dem Geheimnis der Erlösung – und dies in Bezug auf jeden wahrhaft glaubenden Christen:
„Jeder Mensch muss leiden und sterben, aber wenn er ein lebendiges Glied des mystischen Leibes Christi ist, erlangen sein Leiden und sein Tod erlösende Kraft durch die Göttlichkeit dessen, der sein Haupt ist. Dies ist der wesentliche Grund, warum jeder Heilige ein solches Leidensbedürfnis hatte.“ Und sie wollte eine heilige Nonne sein, die sich ganz ihrem Göttlichen Bräutigam hingab.
Ende 1941 schrieb sie in einem Brief an Mutter Ambrosia Antonia Engelmann: „Scientia Crucis kann man nur erlangen, wenn man das Kreuz selbst erlebt. Ich war von Anfang an davon überzeugt und habe aus ganzem Herzen gesagt: Ave Crux, spes unica! (Heil dem Kreuz, unserer einzigen Hoffnung!)“.
Jetzt, auf der Bahnrampe von Auschwitz-Birkenau sollte Edith Stein, Sr. Benedikta vom Kreuz, diese Scientia Crucis auf endgültige Weise bekommen. Indem sie ihr Leben für ihr Volk opferte, trat sie gewissermaßen in die Nachfolge eines Mannes, der fast genau ein Jahr zuvor sein Leben für einen unbekannten Mitgefangenen hingegeben hatte – nur weil er Frau und Kinder hatte – in die Fußstapfen des Paters Maximilian Maria Kolbe. Wahrscheinlich aufgrund der Ähnlichkeit ihres Schicksals, das so tief mit Scientia Crucis verbunden ist, hatte der Heilige Vater Johannes Paul II. während des Angelus-Gebetes, das die Heiligsprechungszeremonie von Edith Stein am 11. Oktober 1998 in Rom krönte, gesagt: „Ich erinnere mich, dass ich 1982, ebenfalls im Oktober, an gleicher Stelle Maximilian Maria Kolbe heiligsprechen durfte. Ich war immer davon überzeugt, dass dies zwei Märtyrer von Oświęcim sind, die uns gemeinsam in die Zukunft führen: Maximilian Maria Kolbe und Edith Stein – Heilige Teresa Benedicta vom Kreuz. Heute ist mir bewusst, dass sich ein Kreislauf schließt. Dafür danke ich Gott.“
Und nur ein Jahr später, im Apostolischen Schreiben Motu Proprio vom 1. Oktober 1999, hat der Heilige Vater Johannes Paul II. die heilige Edith Stein gemeinsam mit der hl. Brigida von Schweden und der hl. Katharina von Siena zur Mitpatronin Europas proklamiert.
„Mit Edith Stein – so lesen wir in diesem päpstlichen Dokument – befinden wir uns in einem ganz anderen historisch-kulturellen Umfeld. Sie führt uns nämlich mitten in unser geplagtes Jahrhundert. Aus dieser Gestalt werden die Hoffnungen deutlich, die das Jahrhundert entzündet hat, aber auch die Widersprüche und das Scheitern, die es gekennzeichnet haben. […] Sie machte sich insbesondere das Leiden des jüdischen Volkes zu eigen, je mehr sich dieses in jener grausamen nazistischen Verfolgung zuspitzte, die neben anderen schwerwiegenden Äußerungen des Totalitarismus einer der dunkelsten Schandflecke Europas in unserem Jahrhundert bleibt. Da ahnte sie, daß in der systematischen Ausrottung der Juden ihrem Volk das Kreuz Christi aufgebürdet wurde. Als persönliche Teilhabe an diesem Kreuz erlebte sie ihre eigene Deportation und Hinrichtung in dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ihr Schrei verschmilzt mit dem aller Opfer jener schrecklichen Tragödie. Vorher hat er sich jedoch mit dem Schrei Christi vereint, der dem menschlichen Leiden eine geheimnisvolle, ewige Fruchtbarkeit verspricht. […] Wenn heute Edith Stein zur Mitpatronin Europas erklärt wird, soll damit auf dem Horizont des alten Kontinents ein Banner gegenseitiger Achtung, Toleranz und Gastfreundschaft aufgezogen werden, das Männer und Frauen einlädt, sich über die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinaus zu verstehen und anzunehmen, um eine wahrhaft geschwisterliche Gemeinschaft zu bilden.
Eminenz, ehrwürdigster Herr Kardinalpräfekt des Dikasteriums für ganzheitliche menschliche Entwicklung,
Exzellenz, verehrter Bischof von Augsburg,
Liebe Brüder und Schwestern,
begeben wir uns jetzt auf den Weg, den die hl. Edith Stein, Sr. Benedikta vom Kreuz, hier vor 80 Jahren als den letzten Weg ihres Lebens gegangen ist. Möge unser gemeinsames Gebet einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer wirklich brüderlichen Gesellschaft in Europa leisten, das heute in der Ukraine von einem grausamen Krieg betroffen ist, der von dem rücksichtslosen Aggressor Russland verursacht wurde.
Unser solidarischer Aufruf für ein Europa des Geistes passt zu dem am Karfreitag 1938 geschriebenen Hymnus Juxt crucem tecum stare, in dem Edith Stein sagte, dass unser Verweilen bei der Schmerzhaften Muttergottes in erster Linie darin bestehen muss, zum ewigen Heil anderer beizutragen:
Doch die Du auserwählt Dir zum Geleite.
Dich zu umgeben einst am ew’gen Thron.
Sie müssen hier mit Dir am Kreuze steh’n.
Und müssen mit dem Herzblut bitt’rer Schmerzen.
Der teuren Seelen Himmelsglanz erkaufen.
Die ihnen Gottes Sohn als Erbe anvertraut.
[Arbeitsübersetzung MD 2022-08-08]