Bischof Dr. Bertram Meier (Augsburg), Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz: Ansprache am 9. August 2022 in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau
Im Glauben gegründete Hoffnung über den Tod hinaus –
zum 80. Todestag der hl. Karmelitin Teresia Benedicta a Cruce/Edith Stein
Hier zu stehen, an dem Tag, an dem vor genau 80 Jahren die beiden Schwestern Edith und Rosa Stein, und mit ihnen viele andere Menschen erbarmungslos in den Tod getrieben wurden, bewegt mich sehr – auch, dass ich auf Einladung von Erzbischof Marek Jedraszewski aus Krakau im Namen der deutschen Bischöfe heute zu Ihnen sprechen darf. Als Angehöriger desjenigen Volkes, das unendliches Leid und millionenfachen Tod über Europa brachte und dessen dunkelste geschichtliche Phase sich hier in ehemaligen KZ Auschwitz verdichtet, danke ich Ihnen, lieber Herr Erzbischof, ganz persönlich und aus tiefstem Herzen. Ihre Einladung ist Ausdruck der kostbaren Verbundenheit der polnischen und der deutschen Bischöfe sowie des gewachsenen Verständnisses in der Weltkirche für die Bedeutung von Auschwitz. Wir stehen damit in einer Tradition des Gedenkens und des Gebets, in die sich auch drei Päpste gestellt haben, allen voran der hl. Papst Johannes Paul II.
Wozu der Mensch ohne und gegen Gott fähig ist, das sehen wir an diesem Ort. Was der Mensch vermag, wenn er sich für Gott öffnet, das zeigen uns die hl. Teresa Benedicta a Cruce und mit ihr alle, die unter unmenschlichen Bedingungen Hoffnungsträgerinnen waren und sind.
Tod und Auferstehung
Auschwitz ist ein Ort des Todes. Es ist auch der Ort des gewaltsamen Todes von Edith Stein, der hl. Karmelitin Teresia Benedicta vom Kreuz. Wir haben es während unseres Gebetsweges gespürt: Das Morden und Leiden, die Verzweiflung, aber auch das Hoffen gegen alle Vernunft prägen den Grund, auf dem wir stehen. Ich habe im Gehen mehr als einmal an die Frage Gottes an Ezechiel gedacht, als er ihn auf das weite Feld führte, das mit Gebeinen übersät war: „Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden?“ (Ez 37,3) Schnelle und selbstgewisse Antworten auf diese Frage verbieten sich. Ezechiels Antwort lautete: „GOTT und Herr, du weißt es.“ Wir Heutige dürfen den Blick nicht von den Opfern dieses Ortes abwenden. Denn Auschwitz gehört nach der Überzeugung des Theologen Johann Baptist Metz, der ich mich voll und ganz anschließe, zu den prägenden „Zeit-Zeichen“ des 20. Jahrhunderts. Er schreibt in seiner „Memoria Passionis“: „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“ In diesem Zusammenhang beschäftigt ihn auch die Frage, ob man nach Auschwitz noch beten könne. Diese Frage ist ernst. Und mir scheint, dass Metz uns mit seinem Antwortversuch helfen kann: „Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde“ – gerade hier, am Ort des finstersten Absturzes des Menschen, am Ort der radikal erlittenen Abwesenheit Gottes, haben unzählige Opfer brutaler Gewalt Gott angerufen und so mit dem Propheten Ezechiel bezeugt, dass ER die einzige reale Hoffnung ist, die wir haben – über den Tod hinaus.
Die Hoffnung des Kreuzes
Es war der Glaube an die Auferstehung von den Toten, der die Philosophin Edith Stein anzog, als sie sich dem Christentum zuwandte. In ihm wusste sie sich verbunden mit den tiefsten Quellen des Judentums. In einer jahrelangen inneren Suchbewegung wurde aus der Wahrheitssucherin eine Gottsucherin und schließlich Jüngerin des Jesus von Nazareth und Tochter der hl. Teresa von Avila. Dies war ihr ganz persönlicher Glaubensweg. Er darf keinesfalls zu einer voreiligen Vereinnahmung oder unzulässigen Verallgemeinerung führen. Was für Edith Stein zu einer im Letzten beglückenden mystischen Erfahrung wurde, was sie biographisch als tiefe und unlösbare Verbindung ihres Jüdischseins mit dem Glauben an die christliche Verheißung erlebte – das gilt für sie und vermutlich ihre Schwester Rosa, ist aber nicht ohne weiteres auf andere Menschen übertragbar. Wir dürfen nicht nachlassen, dies in aller Redlichkeit klarzustellen.
Heute gedenken wir einer Karmelitin, die nach ihrer Erstprofess gefragt, wie ihr zumute sei, antwortete, „wie der Braut des Lammes!“ Sie war für sich zu der Erkenntnis gelangt, dass eine begründete Hoffnung auf Erlösung nur durch das Kreuz hindurch und nie am Kreuz vorbei bestehen kann.
Edith Stein und das Kreuz. 1938 hatte sie in einem Brief an Mater Petra Brüning geschrieben: „Ich brachte meinen Ordensnamen schon als Postulantin mit ins Haus. Unter dem Kreuz verstand ich das Schicksal des Volkes Gottes, das sich damals schon anzukündigen begann. Ich dachte, die es verstünden, dass es das Kreuz Christi sei, die müssten es im Namen aller auf sich nehmen.“
Nur vor diesem Hintergrund ist die Bitte der hl. Karmelitin an die Priorin ihres Exil-Konventes im holländischen Echt zu verstehen, die als Leitwort über dem heutigen Gedenktag steht: „…bitte erlauben Sie mir, mich dem Herzen Jesu als Sühnopfer für den wahren Frieden anzubieten…“ Weil wir wissen, wie furchtbar Edith Stein hier an diesem Ort um ihr Leben gebracht wurde, stehen wir ehrfürchtig vor dem Geheimnis ihrer innigen Gottesbeziehung. Wir können nicht anders, als kindlich stammeln: Heilige Teresa Benedicta, die Du dem Herrn auf seinem Kreuzweg nachgefolgt bist, hilf auch uns, Menschen zu werden, die sich für den so bedrohten Frieden einsetzen! Du Patronin Europas, stärke die Kräfte des Friedens in Europa und in der Welt!
Die katholische Kirche und das Judentum
Edith Stein war der Zeit, auch der katholischen Kirche weit voraus. Sie hat uns mit ihrer Solidarität für ihre jüdischen Schwestern und Brüder und für alle Gedemütigten und Entrechteten einen Weg gewiesen. Einen Weg, der viele schmerzhafte Einsichten für uns bereithielt, da er uns als Kirche auf unser Versagen hinwies. Nach der Schoa mussten wir uns unserer Schuld stellen. Mit dem Dokument „Nostra Aetate“ verabschiedete sich das II. Vatikanische Konzil vom jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und leitete eine neue Phase des Dialogs mit unseren älteren Schwestern und Brüdern im Judentum ein. Fünfzig Jahre nach dieser bahnbrechenden Erklärung (2017) bestätigte die europäische Rabbinerkonferenz gemeinsam mit dem Rabbinischen Rat von Amerika und dem Oberrabbinat des Staates Israel, dass sich „Zwischen Jerusalem und Rom“, wie der Titel des Schreibens lautete, wirklich Vertrauen und gute Zusammenarbeit entwickelten.
Doch wir dürfen uns nicht ausruhen auf den Bemühungen derer, die vor uns Verantwortung getragen haben. Immer wieder flammt der Antisemitismus in Europa, in Deutschland auf. Ich erinnere an den für zwei Passanten tödlichen Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019, ausgerechnet am Jom Kippur, dem Versöhnungstag – Edith Stein berichtet in ihren Lebenserinnerungen, welche tiefe Bedeutung es für ihre Mutter besaß, dass ihr jüngstes Kind am Versöhnungstag geboren wurde. Unter dem Eindruck dieser Gewalttat sagte Kardinal Marx: „Wir Christen stehen bis zur Wiederkunft des Herrn an der Seite unserer jüdischen Geschwister.“ Ein starkes Wort. Es will im Alltag eingelöst werden: durch Interesse an jüdischen Traditionen und Festen im Jahreskreis, um zu erkennen, wieviel wir unserer Mutterreligion zu verdanken haben; durch Kontakte zwischen Pfarreien und israelitischen Kultusgemeinden, den gegenseitigen Besuch in Synagoge und Kirche – kurz: durch „eine Option, die immer möglich ist“, den ‚Dialog des Lebens.‘
Es ist sehr bedeutsam, dass wir hier heute als Polen und Deutsche gemeinsam stehen. An diesem Ort des Leidens jüdischer Menschen, des Leidens von Polen, aber auch vieler Menschen anderer Nationen. Wir erinnern das Leben der deutschen Jüdin, Philosophin und katholischen Ordensschwester Teresia Benedicta vom Kreuz – und denken zugleich an all die anderen, die hier ermordet wurden.
Zu Lebzeiten war die heilige Edith Stein eine engagierte und zielstrebige Lehrerin, gerecht und gütig, und immer konsequent. Sie wollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern gab mit ihrem ganzen Leben Zeugnis davon, wie Gott sich den Menschen gedacht hat. Wenn wir uns von ihr ansprechen und führen lassen, gewinnen wir eine Ahnung von der Gnade der Gotteskindschaft und dem Auftrag, den unser Schöpfer gerade für uns, für jede und jeden von uns bereithält – in der Gemeinschaft der einen katholischen und apostolischen Kirche. Sie ist bestimmt, in all ihrer Unvollkommenheit Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit zu sein. Diese Existenzform ist ihr vom Kreuz Jesu her eingeschrieben. Das Lebenszeugnis der Karmelitin Teresia Benedicta ruft uns immer neu zum Kreuz.
Wir sind den Weg in Gebet und Gedenken gemeinsam hierher gegangen, doch entscheidend ist: Wie gehen wir von hier wieder weg? Was verändert dieser Moment des Innehaltens in unserem persönlichen Leben?
Viele von uns sind als Repräsentanten gekommen – wir sollten immer auch Multiplikatoren sein: In uns muss das Licht brennen, das sich gegen die Dunkelheit der Unwissenheit, der Ablehnung und des Hasses stellt. Den jungen Menschen rufe ich daher zu: baut aktiv am Frieden mit, lasst Euch nicht instrumentalisieren für die Machthaber dieser Welt, übernehmt die Verantwortung für Euer eigenes Leben und sucht Euch Verbündete unter den Heiligen – den lebenden und den verstorbenen.
Heilige Edith Stein, bitte für uns!
Sancta Teresia Benedicta a Cruce, ora pro nobis!
Święta Teresa Benedykta od Krzyża, proszę dla nas!
- Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. In Zusammenarbeit mit Johann Reikerstorfer. (= Gesammelte Schriften Bd. 4) Freiburg/Brsg.: Herder 2006, S.49.
- Ebd. S. 48.
- Teresia Renata de Spiritu Sancto, Edith Stein. Nürnberg: Glock und Lutz 1948, S. 107.
- Zit. n. Edith Stein Gesamtausgabe Bd. IX: Selbstbildnis in Briefen II (1933-1942), Brief Nr. 580, S. 302. https://www.karmelitinnen-koeln.de/edith-stein-archiv-kk/gesamtausgabe (aufgerufen am 21. 07.2022).
- Vgl. Edith Stein Gesamtausgabe Bd. I: Aus dem Leben einer jüdischen Familie, S. 39. Edith Stein-Gesamtausgabe zum kostenlosen Download (karmelitinnen-koeln.de) (aufgerufen am 21.07. 2022)
- Vgl. Papst Franziskus, Botschaft zum 55. Weltfriedenstag, 1. Januar 2022.