Deutsche Bischöfe im Weltkrieg
Wort der Deutschen Bischofskonferenz
zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren
29. April 2020
Geleitwort
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa, der 1939 vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselt worden war. Mehr als 50 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Im Westen des Kontinents handelte es sich um einen Unterwerfungskrieg, im Osten – vor allem in Polen und gegenüber den Völkern der Sowjetunion – aber wurde ein Versklavungs- und Vernichtungskrieg geführt. Im Schatten der Kampfhandlungen verübten die Nationalsozialisten das Menschheitsverbrechen der Shoa: Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Auch Hunderttausende Sinti und Roma kostete ein vom „Dritten Reich“ systematisch betriebener Völkermord das Leben. Als der Krieg endlich vorüber und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gebrochen war, lagen unzählige Städte, vor allem im Osten des Kontinents und in Deutschland, in Schutt und Asche.
Während überall in Europa der 8. Mai 1945 seit Jahrzehnten als Tag des Glücks und der Freude erinnert wird, taten wir Deutschen uns lange schwer mit diesem Datum. Es war der Tag der Kapitulation, der Niederlage, und er fiel in eine Zeit, in der die Deutschen wie nie zuvor selbst die Folgen des von ihnen verursachten Krieges erleben mussten: als Besatzung, als Hungersnot, vor allem aber als Vertreibung und Flucht aus den östlichen Gebieten des Reiches. Dennoch: Mit wachsendem zeitlichen Abstand vom Geschehen haben die Deutschen immer tiefer verstanden, dass der 8. Mai auch für uns vor allem ein Tag der Befreiung war: Befreiung von der Geißel des Krieges, nationalsozialistischer Unterdrückung und Massenmord.
Europa ist in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg keinen gradlinigen Weg gegangen. Getrennt durch einen „Eisernen Vorhang“ standen sich Ost und West lange Zeit feindselig gegenüber. Aber die Integration Westeuropas, die schließlich in die Europäische Union mündete, die Aussöhnung zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn und die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, vor allem die Versöhnung mit Polen, haben dazu beigetragen, dass Vertrauen wuchs und Konflikte nicht in kriegerische Gewalt mündeten. Dies war die Voraussetzung für den Umbruch, aus dem Ende der 1980er Jahre ein neues Europa hervorging.
Das Christentum hat Wesentliches zum Gelingen dieser Prozesse geleistet. Kirchliche Amtsträger und ebenso viele Organisationen und Gruppen, die von christlichem Geist angetrieben waren, haben der Versöhnung zwischen den Völkern gedient, Vorurteile und Stereotypen bekämpft und Menschen über die Blockgrenzen des „Kalten Krieges“ hinweg zusammengeführt. Obwohl erheblichen Repressionen ausgesetzt, haben auch die Kirchen im Osten Europas die Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Gewaltfreiheit verteidigt und so zum Wandel beigetragen.
Heute, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben wir Grund zur Dankbarkeit. Sie gilt allen, die geholfen haben, die Macht des Nationalsozialismus zu brechen, und ebenso allen, die in den folgenden Jahrzehnten für Frieden und Völkerverständigung, für Versöhnung und Recht, für Demokratie und würdige Lebensverhältnisse tätig waren. Die dankbare Erinnerung ist zugleich mit dem Auftrag verbunden, dieses Erbe in die Zukunft zu tragen. Europa ist derzeit, so scheint es, in keinem guten Zustand. Der alte Ungeist der Entzweiung, des Nationalismus, des „völkischen“ Denkens und autoritärer Herrschaft erhebt vielerorts, auch in Deutschland, sein Haupt, ja er ist in einigen Ländern zur dominierenden Kraft geworden. Wer aus der blutigen Geschichte gelernt hat, muss diesen Tendenzen entschieden entgegentreten. Auch die Kirche, dem Evangelium der Gerechtigkeit und des Friedens verpflichtet, ist hier ohne Wenn und Aber gefordert.
Dabei wissen wir: Auch uns als Kirche bleibt das Lernen aus der Geschichte nicht erspart. So sind in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Diskussionen über das Verhalten der Kirchen und besonders ihrer Amtsträger während des Nationalsozialismus geführt worden. Manches, das zu großer Dankbarkeit Anlass gibt, wurde dabei zutage gefördert, manches aber auch, das uns beschämt. So schmerzhaft diese Erfahrungen sind, so notwendig sind sie für die Erneuerung der Kirche. Denn Wahrhaftigkeit gehört unverzichtbar zum Weg der Christen.
Während viele Aspekte dieses Themas inzwischen gut ausgeleuchtet sind, ist erst in den letzten Jahren mit wachsendem Nachdruck die Frage nach dem Verhältnis der deutschen Bischöfe zum Zweiten Weltkrieg aufgeworfen worden. Unsere Bischofskonferenz hat sich entschieden, auf die kritischen Anfragen mit dem nun vorliegenden Wort aus Anlass des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs zu antworten. An der Vorbereitung waren die Deutsche Kommission Justitia et Pax, die Kommission für Zeitgeschichte und mehrere Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz beteiligt.
Wir deutschen Bischöfe wissen, dass uns die Rolle des Richters über unsere Vorgänger nicht gut zu Gesicht steht. Keine Generation ist frei von zeitbedingten Urteilen und Vorurteilen. Dennoch müssen sich die Nachgeborenen der Geschichte stellen, um aus ihr zu lernen für Gegenwart und Zukunft.
Bischof Dr. Georg Bätzing
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Bonn/Limburg, den 29. April 2020
I. Die Gegenwart der Erinnerung
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, haben wir immer noch mit den vielfältigen Folgen dieses Krieges für unser Land, für Europa und für die Welt zu tun. Der Krieg und seine Opfer, Verluste und Entbehrungen, Schuld und Scham haben viele Familien über Generationen geprägt. Auch die deutschen Bischöfe erlebten und erleben diese Prägung. Sie haben sich daher seit 1945 wiederholt mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen kritisch auseinandergesetzt. Diese Reflexion war oft schmerzhaft, da es neben der Würdigung der Opfer auch darum gehen musste, Schuld und Versagen zu thematisieren.
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Für die große Mehrheit der Deutschen bedeutete dies Kapitulation und Niederlage. Das Kriegsende war verbunden mit Gefühlen der Demütigung und der Angst vor dem Kommenden. Aber auch Scham und Schuld sowie die Erleichterung darüber, dass Krieg und Nationalsozialismus ein Ende gefunden hatten, waren für diesen Tag bezeichnend. Für viele war das Kriegsende auch mit schmerzhaften Vertreibungserfahrungen und dem Verlust ihrer Heimat verbunden. Erst im Laufe der Generationenfolge und der Versöhnung mit unseren Nachbarn wurde der 8. Mai von der Mehrheit der Gesellschaft als ein Tag der Befreiung wahrgenommen und empfunden. Dieser Prozess war in der offenen Gesellschaft der Bundesrepublik von vielen Konflikten geprägt, in denen um das Selbstverständnis der Gesellschaft gerungen wurde.
Die DDR verfolgte in ihrem Umgang mit dem Kriegsende einen anderen Weg als die Bundesrepublik Deutschland, indem sie die Erinnerung politisch im Dienste des Bündnisses mit der Sowjetunion verzweckte. Die SED-Führung stellte sich auf die Seite der sowjetischen Sieger, was sie daran hinderte, sich in angemessener Weise mit den Ambivalenzen und Brüchen der eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Das erschwerte die aufrichtige Versöhnung der Deutschen mit ihren Nachbarn und mit sich selbst eher, als dass es sie förderte.
Im Wandel der Erinnerung spiegelt sich bis heute die politisch-kulturelle Transformation Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Erinnerungskultur ist mehrheitlich von dem Bewusstsein geprägt, dass der 8. Mai in einen europäischen Kontext zu stellen und in einer Weise zu begehen ist, die den Entwicklungen seit 1945 Rechnung trägt. Zu diesen Entwicklungen gehört, dass sich die Deutschen mit sich selbst, ihrer schuldbelasteten Vergangenheit sowie ihren Nachbarn weitgehend ausgesöhnt haben. Die Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung ist dabei ein bleibendes Geschenk, für das wir demütig dankbar sind. Die kritische Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit gehört heute zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Der Wandel der Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist Ausdruck dieses Prozesses. Es ist daher kein Zufall, dass diejenigen, die eine grundlegend andere Gesellschaft und Republik wollen, diesen breiten Konsens fundamental infrage stellen.
Mit Sorge beobachten wir, dass auch außerhalb Deutschlands die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – insbesondere in der östlichen Hälfte Europas – zu oftmals unwürdigem Streit führt. Dieser hat seine Wurzeln in den andauernden Verwundungen des Zweiten Weltkriegs, aber auch in den darauffolgenden Erfahrungen von Unrecht und Gewalt in der Zeit des Kommunismus. Nicht alle können offensichtlich der Versuchung widerstehen, mittels durchsichtiger Vereinfachungen die gesellschaftlichen Empfindsamkeiten für politische Zwecke zu missbrauchen. Es besteht, um nur ein Beispiel zu nennen, kein Zweifel, dass die Völker der Sowjetunion immense Opfer für den Sieg über den Nationalsozialismus gebracht haben. Aber es gehört genauso zur Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg, dass die Sowjetunion den deutschen Angriff auf Polen mit dem Hitler-Stalin-Pakt gefördert und sich selbst an der Zerschlagung Polens beteiligt hat. Zudem ging der Sieg über den Nationalsozialismus im östlichen Europa einher mit der Errichtung einer jahrzehntelangen kommunistischen Gewaltherrschaft. Auch diese Erinnerungen werden am Jahrestag des 8. Mai 1945 gegenwärtig. Das europäische Haus benötigt, damit wir gemeinsam in Frieden in ihm leben können, eine Kultur des Dialogs und des Respekts vor den Leiden der Menschen. Die Tonlagen des Mitgefühls, der Trauer und der Nachdenklichkeit sollten uns stärker bestimmen als die schrillen Töne gegenseitiger Anklage.
Gerade im Sinne dieser Nachdenklichkeit haben wir uns aus Anlass dieses Jahrestages mit dem Verhalten unserer Vorgänger im Amt während des Zweiten Weltkriegs befasst. Wir wurden in dieser Auseinandersetzung nicht zuletzt durch die Klagen bestärkt, dass die katholischen Bischöfe in Deutschland die katholischen Soldaten in ihrer Gewissensnot allein gelassen und sich – mehr noch – am Krieg beteiligt hätten. In der Tat gibt der Blick auf das historische Material viel Anlass zu kritischen Fragen. Es ist uns daher ein Anliegen, diese Periode der Geschichte kritisch zu betrachten und auch Verfehlungen zu benennen. Unsere Haltung ist dabei vom Respekt vor den Opfern sowie dem Bemühen bestimmt, die Gründe für das Handeln unserer Vorgänger zu erkennen und daraus für unser eigenes Wirken zu lernen. Wir sehen uns darin durch das Zeugnis des hl. Papstes Johannes Paul II. bestärkt, der die Kirche in seinem Schuldbekenntnis im Heiligen Jahr 2000 zur Erneuerung und Reinigung ihres Gedächtnisses aufgefordert hat.
II. Das Verhalten der katholischen Bischöfe in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs
Mit dem Angriff auf Polen im September 1939 begann das nationalsozialistische Deutschland seinen weltanschaulichen Vernichtungskrieg. Am Beginn unzähliger Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs standen die Deportation und die Ermordung der polnischen Intelligenz, darunter katholische Geistliche in großer Zahl. Fast zwei Millionen Polinnen und Polen wurden zur Zwangsarbeit in deutsche Betriebe verschleppt – auch in viele Einrichtungen der katholischen Kirche in Deutschland. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 begann schließlich die exterminatorische Phase des Holocaust. Auschwitz, Treblinka, Warschau und viele Orte mehr wurden zu Synonymen für die lebensvernichtende Gewalt der nationalsozialistischen Ideologie und insbesondere für den Völkermord an den Juden und an Sinti und Roma.
Bei aller inneren Distanz zum Nationalsozialismus und bisweilen sogar offener Gegnerschaft war die katholische Kirche in Deutschland Teil der Kriegsgesellschaft. Daran änderten auch die zunehmende Repression gegen das Christentum, der Vernichtungskrieg sowie die seit der Wende des Kriegsgeschehens und mit dem Bombenkrieg gegen Deutschland anwachsenden Verluste der Deutschen wenig. Trotz massiver Bedrängnisse der Kirche durch Staat und NSDAP, blieb – wie schon im Ersten Weltkrieg – die patriotische Bereitschaft, die materiellen, personellen und geistigen Ressourcen der Kirche für den Kriegseinsatz zu mobilisieren, bis zum Ende ungebrochen. Als Divisions-, Lazarett- oder Gefängnispfarrer waren Hunderte Militärgeistliche seelsorglich in den Einsatzgebieten der Wehrmacht tätig. Priester, Seminaristen und Ordensleute waren im Rahmen der Wehrpflicht im Heer als Sanitäter eingebunden. Mehrere Tausend klösterliche und kirchliche Häuser dienten Lazarettzwecken, Zehntausende Ordensfrauen erfüllten vor allem in Krankenhäusern ihre „vaterländische Pflicht“. Zum Kriegsalltag sowohl an der Front als auch an der „Heimatfront“ gehörten ungezählte Fälle seelsorglicher und menschlicher Zuwendung, aber auch schuldhaftes Versagen. Eine besonders problematische und negative Rolle spielte Feldbischof Franz Justus Rarkowski. Nicht der Bischofskonferenz zugehörig und ein deutsch-nationaler Außenseiter in der Kirche, suchte er die religiösen und spirituellen Kräfte der Soldaten ganz im Sinne der Wehrmachtsführung zu mobilisieren.
Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der deutschen Truppen auf Polen standen die Bischöfe vor der Frage, wie sie sich zu diesem Krieg verhalten sollten. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges ließen sie in ihren Predigten und Hirtenbriefen eine spürbare Zurückhaltung erkennen. Aber ganz im Sinne der kirchlich tradierten Sicht des Krieges riefen sie die Soldaten und Gläubigen zu Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung, zu Bewährung, Sühne und Opfersinn auf. Dabei wiesen die Tonlagen der einzelnen Äußerungen durchaus Unterschiede auf, wenngleich die Melodie dieselbe war. Allein der Berliner Bischof Konrad von Preysing verzichtete auf solche Mahnungen, sprach von den „Gefahren der Zeit“ und zeigte Wege auf, mit der drohenden Wirklichkeit des Sterbens umzugehen.
Den von Deutschland ausgehenden Krieg legitimierten die Bischöfe nach den 1914 bis 1918 gemachten Erfahrungen zwar nicht mehr ausdrücklich als „gerecht“. Aber die leidvollen Opfer, die es zu bringen und – je länger desto mehr – zu beklagen galt, wurden wie ehedem aus einem nationalen, „vaterländischen“ Denken heraus akzeptiert. Nach dem Sieg über Frankreich 1940 läuteten im Reich die Glocken. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion verband sich die Vorstellung eines „Kreuzzugs“ gegen den „gottlosen Bolschewismus“, was das Kriegsgeschehen zusätzlich religiös auflud. Zwar teilten die Bischöfe nicht die rasseideologische Begründung des Krieges durch die Nationalsozialisten, aber ihre Worte und Bilder bestärkten sowohl Soldaten als auch das kriegsführende Regime, indem sie dem Krieg einen zusätzlichen Sinn verliehen.
Unter dem Eindruck der vielfachen Verbrechen an der Front, in den besetzten Gebieten und im Reich veränderte sich die Perspektive der bischöflichen Äußerungen. Die letztlich euphemistische Vorstellung vom Krieg als aufrichtigem und ehrenvollem Kampf mit dem Gegner wich zusehends einem Entsetzen über das enorme Leiden und Sterben der Soldaten. Sie wurde auch durch den Bombenkrieg gegen die heimische Zivilbevölkerung erschüttert. Die Leiden der Anderen kamen hingegen nur ungenügend in den Blick.
Sowohl im September 1939 als auch danach blieb der offene Protest der deutschen Bischöfe gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg aus. Die tradierte kirchliche Sicht des Krieges und das nationale Bewusstsein standen gegen aufkommende Zweifel. Auch gegen die ungeheuerlichen Verbrechen an den als „rassenfremd“ diskriminierten und verfolgten Anderen, insbesondere den Juden, erhob sich in der Kirche in Deutschland kaum eine Stimme. Es bedurfte des Anstoßes durch Patientenmorde und „Klostersturm“, damit einzelne Bischöfe die allzu lange geübte Praxis schriftlicher Eingaben verließen und offenen Widerspruch wagten. Am bekanntesten ist die scharfe Kritik des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen an den Euthanasieverbrechen.
Erst am 19. August 1943 gelang es der Bischofskonferenz, sich zu einem gemeinsamen Hirtenbrief („Über die zehn Gebote als Lebensgesetz der Völker“) durchzuringen, in dem sie die Bindung jeder staatlichen Ordnung an Wahrheit und göttliches Recht, den Schutz von Ehe und Familie, die Rückbindung des Gehorsams an das Gewissen, das bedingungslose Recht auf Leben und den Schutz des Eigentums öffentlich einklagte.
Das änderte aber nichts daran, dass die Soldaten weiterhin zu treuer Pflichterfüllung aufgerufen wurden. Jene Soldaten, für die sich die Kriegserfahrungen von hemmungsloser Gewalt zu existentiellen Fragen nach dem Sinn und nach Gott verdichteten, standen weitestgehend allein. Auch diejenigen, die zweifelten, sich mit dem Gedanken der Desertion trugen oder tatsächlich desertierten, fanden keine Stütze in den Äußerungen der Bischöfe. Sie blieben mit ihren Gewissensnöten allein.
Letztlich fanden die Bischöfe keinen Ausweg aus der Spannung, die sich aus der geteilten Vorstellung patriotischer Verpflichtung im Krieg, der Legitimität staatlicher Obrigkeit, den daraus resultierenden Gehorsamspflichten sowie den offenkundigen Verbrechen ergab. Die christlichen Maßstäbe zur Einordnung des Krieges trugen offenkundig nicht mehr. So blieb der Blick für die Fragen der eigenen Soldaten und das Leid der Anderen verstellt. Die Äußerungen der Bischöfe, bei allen den jeweiligen Persönlichkeiten geschuldeten Nuancen, scheiterten an der Realität der verbrecherischen Gewalt. Sie blieben auf die (illusorische) Verhaltensänderung der politischen Führung, auf die Einhaltung der rechtlichen Vereinbarungen sowie auf die tugendhafte Pflichterfüllung der Geführten, gewissermaßen also auf ein „richtiges Leben im Falschen“ (Adorno), gerichtet. Den teuflischen Verstrickungen in die Verbrechen und den daraus erwachsenen Nöten wurde man damit nicht gerecht.
Mehr noch: Indem die Bischöfe dem Krieg kein eindeutiges „Nein“ entgegenstellten, sondern die meisten von ihnen den Willen zum Durchhalten stärkten, machten sie sich mitschuldig am Krieg.
III. Zugänge des Verstehens
So schwer verständlich, wenn nicht sogar falsch uns das Verhalten unserer Vorgänger im Bischofsamt heute auch erscheint, es enthebt uns nicht der Mühen des historischen Verstehens. Nur so entkommen wir der Versuchung, das damalige Geschehen nicht nah genug an uns herankommen zu lassen. Wir sind es nicht zuletzt den Opfern schuldig, der Frage nachzugehen, wie sich solche Haltungen entwickeln konnten und worin sie ihre Begründung fanden.
Wir möchten daher im Folgenden auf einige Faktoren hinweisen, die die Gesamtheit der Kirche und insbesondere die Bischofskonferenz geprägt haben. Sie helfen, das Verhalten zum Krieg nachvollziehbar zu machen, ohne es entschuldigen zu wollen. Die spezifische Bedeutung dieser einzelnen Faktoren für die jeweiligen Bischöfe kann dabei sehr unterschiedlich sein. Auch hier gilt es, vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden.
Nahezu fremd erscheint uns heute, wie sehr die Vorstellungen der Bischöfe von traditionellen Ordnungsvorstellungen geprägt waren, die in der antiken Philosophie und Theologie ihren Ausgang genommen und die Welt des Mittelalters gedeutet und geformt hatten. Auch unter Bezugnahme auf den Brief des Apostels Paulus an die Römer (13,1–7) und den 1. Petrusbrief (2, 13 f.) betrachtete die Kirche staatliche Ordnung und Gewalt als von Gott gegeben und gewollt. Dies schloss Kritik an den Verantwortlichen nicht aus. Die Ordnung selbst wurde aber nicht infrage gestellt, da eine Auflehnung gegen die staatliche Ordnung zugleich als Auflehnung gegen den göttlichen Willen verstanden wurde. Diese traditionelle Form der Legitimation von Herrschaft brachte unter den Bedingungen der Moderne eine größere Nähe zu monarchistischen und autoritären als zu freiheitlich-demokratischen Staatsformen hervor, da die Verwirklichung der Menschenrechte als Ziel und Legitimationsgrundlage aller staatlichen Gewalt erst langsam das kirchliche Denken zu bestimmen begann. So wurde der deutsche Staat nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, deren Weltanschauung von den Bischöfen klar abgelehnt wurde, weiterhin als eine Ordnungsmacht angesehen, die es zu respektieren und zu schützen galt. Unter den Bedingungen des NS-Unrechtsstaats führte dies zu einer ambivalenten und teils auch problematischen Positionierung der Kirche.
Mit Blick auf den Krieg kam mit der Lehre vom „Gerechten Krieg“ eine weitere Lehrtradition zum Tragen. Diese auf Cicero, Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehende Lehre, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts hatte und hat, war entgegen ihrer Intention der Gewaltbegrenzung im Laufe der Neuzeit zusehends zu einem Mittel der Gewaltlegitimation geworden und hatte zur Gewöhnung an Gewaltmittel beigetragen. Auch wenn am gewachsenen politischen Umgang mit dieser Lehre seit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges Zweifel lauter wurden, hat sie doch dazu beigetragen, dass die allermeisten Christinnen und Christen den Krieg als Form politischer Auseinandersetzung dem Grundsatz nach in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht hinterfragten.
Die tradierten christlichen Vorstellungen von staatlicher Ordnung und Krieg fügten sich ein in die breite gesellschaftliche Akzeptanz der selbstverständlichen Anwesenheit des Militärischen im Alltag. Die Militarisierung der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches sowie die Prägungen durch die Gewalt- und Militärerfahrungen des Ersten Weltkriegs wirkten nach. Das Soldatische war weithin gesellschaftlich anerkannt und präsent. Auch im zivilen Bereich, sei es in Jugendorganisationen oder in den politischen Parteien der Weimarer Republik, gab es militärähnliche Strukturen, Sprach- und Verhaltensformen. Vorstellungen von Ehre, Disziplin und Gehorsam, die mit der soldatischen Existenz verbunden wurden, galten viel. Im Fahneneid, den jeder Soldat schwören musste und der seit 1934 auf Adolf Hitler geschworen wurde, kam dieses Denken in einer für viele Soldaten bindenden Form zum Tragen. Eid- und Kriegsdienstverweigerer mussten während des Krieges mit brutaler Verfolgung und drakonischen Strafen rechnen. Entsprechend gering war die Bereitschaft, in der Öffentlichkeit das Handeln und die Pflichten von Soldaten zu hinterfragen. Die entstehende Friedensbewegung, wie z. B. der Friedensbund der Deutschen Katholiken, blieb gesellschaftlich und kirchlich eine Randerscheinung.
Die katholische Kirche in Deutschland hatte einen langen Weg hinter sich, bis sie nach dem Kulturkampf während des Kaiserreichs in der Nation angekommen war. Die Erfahrungen des Kulturkampfs und das Bedürfnis, die nationale Loyalität sichtbar werden zu lassen, wirkten in der Zeit des Nationalsozialismus fort. Gerade im Krieg wurde es als selbstverständliche patriotische Pflicht verstanden, zu seinem Vaterland zu stehen. Die Bedürfnisse und Rechte der anderen Nationen gerieten dabei weitgehend aus dem Blick. Auch in der katholischen Kirche in Deutschland und unter den Bischöfen wurde der Versailler Vertrag mit seiner Zuweisung der alleinigen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs an Deutschland abgelehnt und als Demütigung empfunden. Die massiven Auflagen, die der Vertrag dem Land machte, wurden von vielen Katholiken (auch Bischöfen) als ungerecht und eine Revision als erstrebenswert angesehen. Das prägende nationale Denken und Empfinden kam dabei zum Tragen. Es gipfelte in der Zustimmung zum Einmarsch in Paris (1940).
Neben dem nationalen Denken bot die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus bzw. der Kampf gegen den Bolschewismus die größte Anschlussfähigkeit an nationalsozialistische Ideen. Der Kommunismus verkörperte in besonderer Weise die mit der Moderne aufgekommenen Probleme. Mehr noch: Die kirchliche Ablehnung eines konkurrierenden, religionsfeindlichen Gesellschaftssystems fand ihre Bestätigung in der systematischen Verfolgungspolitik Stalins gegen die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion. Der weltanschauliche Gegensatz war dadurch blutig manifest geworden. Der Kampf gegen den Bolschewismus gewann nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Jahre 1941 in der NS-Propaganda eine besondere Bedeutung. Er besaß, abgesehen von der rasseideologischen Begründung der NS-Propaganda, ein erhebliches Zustimmungspotential. Die konkreten Realitäten des Vernichtungskrieges kamen bei dieser Zustimmung zum Kampf gegen den Bolschewismus allenfalls schemenhaft in den Blick.
Die kirchliche Situation hatte sich nach den im Reichskonkordat 1933 gegebenen Garantien für die seelsorgerische Tätigkeitder Kirche als zunehmend prekär erwiesen. Das NS-Regime bemühte sich, die katholische Kirche auf der Grundlage des Konkordats aus der Öffentlichkeit auf ein Sakristeichristentum zurückzudrängen. Während die Nationalsozialisten ein taktisches Verhältnis zu Recht und Verträgen pflegten, das sich zwischen Instrumentalisierung und Rechtsbruch bewegte, sahen sich die Bischöfe weiterhin daran gebunden. Mit den insbesondere im Laufe des Krieges zunehmenden Repressionen gegen die Kirche, wie den vielen Inhaftierungen von Priestern, Ordensleuten und Laien, wurden die Grenzen dieser defensiven Strategie zunehmend sichtbar.
Der Herausforderung des Nationalsozialismus und insbesondere des von ihm ausgehenden rasseideologischen Vernichtungskriegs zeigte sich die Bischofskonferenz aus preußischen, bayerischen und seit 1938 österreichischen Bischöfen nicht zuletzt aufgrund ihrer inneren Organisation nicht gewachsen. Sie erwies sich als institutionell zu schwach, um zu einer durchschlagenden gemeinsamen Handlungslinie zu kommen. Nur einstimmig gefasste Beschlüsse hatten bindende Wirkung, ohne des halb auch rechtlich für alle Bischöfe verbindlich zu sein, was den Handlungsspielraum zusätzlich verringerte. Die divergierenden Vorstellungen darüber, ob und inwieweit die tradierten Ordnungsvorstellungen und das bischöfliche Amtsverständnis in ein gesellschaftliches Wächteramt überführt werden sollten, standen in Spannung zum notwendigen Bemühen um innere Geschlossenheit. Dass der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Adolf Bertram, eine Änderung des Kurses trotz der immer dramatischeren Erfahrungen blockierte und auf einer Fortsetzung der Eingabenpolitik bestand, machte die Bischofskonferenz gerade zu jenem Zeitpunkt handlungsunfähig, als sich das Regime 1941 entschloss, das Judentum zu vernichten. Erst im August 1943 gelang den Bischöfen nach zwei Jahren kontroversen Ringens auf ihrer letzten Zusammenkunft im Krieg der bereits erwähnte gemeinsame Hirtenbrief: eine beachtliche fundamentale Stellungnahme, welche die zehn Gebote als Lebensgesetz aller Völker und damit die Geltung der Menschenrechte forderte.
IV. Lehren für die Zukunft
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation Deutschlands. Es hat lange gedauert, bis in der katholischen Kirche in Deutschland und auch unter den Bischöfen die eigenen Verstrickungen in das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg thematisiert und selbstkritisch betrachtet wurden. Der grundsätzliche Widerspruch zur nationalsozialistischen Weltanschauung, der Verweis auf die vielen Märtyrer der Konzentrationslager und Hinrichtungsstätten sowie die Anwaltschaft der Bischöfe für das eigene deutsche Volk galten lange Zeit der Mehrheit als hinreichende Antwort auf die Fragen nach der Mitverantwortung und Schuld im Krieg und im Nationalsozialismus. Heute blicken wir mit Trauer und Scham auf die Opfer und diejenigen, deren existentielle Fragen angesichts der Verbrechen und des Krieges ohne angemessene Antwort aus dem Glauben blieben. Mit dem Abstand der Jahre ist der Umstand, dass für die Leiden und die Opfer der Anderen lange Zeit jeder Blick fehlte – von offenen Worten ganz zu schweigen –, besonders beschämend.
Der Austausch und die Wege der Versöhnung mit unseren Nachbarn, insbesondere mit Frankreich und Polen, haben uns geholfen, diese von Vermeidung, Verdrängung und eigenem Schmerz geprägten verengten Sichtweisen hinter uns zu lassen. In der kritischen, nicht selten spannungsreichen und schmerzhaften Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und dem Leid der Anderen, insbesondere der Juden, konnte die Kirche in Deutschland erst nach und nach zu sich selbst finden. Dabei haben wir erleben können, dass diese Begegnungen wesentlich auch zur Erneuerung der Kirche beigetragen haben und beitragen.
Das Verhalten unserer Vorgänger im Amt wurzelte in einer Verstrickung in den nationalen Zeitgeist und in kirchlichen Vorstellungen über das Staat-Kirche-Verhältnis, die unter anderen historischen Umständen entwickelt worden waren und aus theologischer Sicht keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Sie wurden in den Jahren 1933–1945 nur unzureichend in Bezug auf ihre Grenzen und ihre Zeitbedingtheit hinterfragt und entfalteten deshalb hochproblematische Wirkungen. Es bedurfte der erschreckenden Erfahrungen der Moderne und auch der kritischen exegetischen und theologischen Anfragen, damit die Kirche das Verhältnis von Gesellschaft und Religion neu bestimmte und die Rolle der Kirche im Staat im Sinne einer kritischen Zeitgenossenschaft schärfte. Die Kirche versteht sich heute berufen und verpflichtet, die in der Gottesebenbildlichkeit gründende Würde aller Menschen, die unveräußerlichen Menschenrechte, die sittlichen Grundsätze über die soziale Ordnung und alles, was dem Heil der Seelen dient, in jedem Staat und von jeder Regierung einzufordern und selbst zur Verwirklichung beizutragen. Die erneuerte Form der Militär- und Gefängnisseelsorge ist ein beispielhaftes Zeugnis für das neue Miteinander von Staat und Kirche. Wir haben zudem wiederentdeckt, dass die Botschaft des Evangeliums nicht an der eigenen Landesgrenze endet und Solidarität im christlichen Sinn nicht auf das eigene Volk begrenzt ist. Die Überwindung allen Leids weltweit entspricht der Nachfolge Jesu.
Nicht zuletzt konnten wir die zentralen Einsichten der Lehre vom „Gerechten Krieg“ im Leitbild des „Gerechten Friedens“ so zur Geltung bringen, dass sie ihrer Intention der Gewalteindämmung besser gerecht werden. Wir verstehen es als unsere Aufgabe, dazu beizutragen, diese Lernprozesse fortzusetzen und damit die kirchliche Friedenslehre im Lichte neuer Erfahrungen zu vertiefen. Die in Vorbereitung befindliche Fortschreibung unseres Worts „Gerechter Friede“ (2000) geschieht wesentlich aus diesem Verständnis heraus.
Heute stellen wir dankbar fest, dass die Bereitschaft, sich den bohrenden Fragen und drängenden Problemen zu stellen, uns näher zu Christus und zu einem tieferen Verständnis des Evangeliums geführt hat. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der memoria passionis, der Erinnerung an die Leiden der Opfer, zu. In ihnen begegnen wir Christus.
Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren / hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. – Bonn 2020. – 23 S. – (Die deutschen Bischöfe ; 107)