(1) Vor 70 Jahren, am 1. September 1939, eröffnete die Deutsche Wehrmacht ihren Angriff auf Polen. So begann der Zweite Weltkrieg. Viele, die den Krieg miterlebt haben, werden am bevorstehenden Gedenktag von schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht werden: Erinnerungen an Gewalt, Rechtlosigkeit und Ohnmacht, Erinnerungen an den Verlust von Angehörigen und Freunden oder den Verlust der Heimat. Einmal mehr werden wir an diesem Tag gewahr, wie tief sich die Erlebnisse des Weltkrieges den Menschen und den Völkern eingebrannt haben. Manche Verletzung an Geist und Seele ist bis heute nicht geheilt.
Die Erinnerung an den Krieg erfolgt in unserer Zeit unter neuen Voraussetzungen. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, vergeht, und mit ihr die Augenzeugen. Auch tritt die Generation jener ab, die den Mut besaßen, Worte der Reue und der Vergebung auszusprechen und ein neues Kapitel in der Geschichte unserer Völker aufzuschlagen. In dieser Lage kommt es darauf an, dass die Nachkriegsgenerationen ein angemessenes Verständnis des Weltkrieges gewinnen und bewahren. Redlichkeit in der Auseinandersetzung mit den Schrecken der Vergangenheit gehört ebenso dazu wie der Verzicht auf Stereotypen, die wirkliches Verstehen behindern und das mühsam gewachsene Vertrauen zwischen Polen und Deutschen untergraben können. Nicht weniger als früher brauchen wir eine lebendige Sorge um den Frieden und um die Heranbildung von Menschen, die gefeit sind gegen den Hass auf andere und fähig zum gemeinsamen Aufbau einer menschenwürdigen Ordnung.
Wir wissen: Der Frieden hängt auch von jedem Einzelnen ab: von unserem Willen, unserer Haltung, von unserem Wort und unserer Geste, von der Fähigkeit zum Bekennen von Schuld und zum Verzeihen – und schließlich auch davon, dass wir in die Zukunft zu blicken vermögen, um der Vergangenheit nicht unentrinnbar verhaftet zu bleiben.
Erinnerung und Gedenken
(2) Jeder Krieg ist letztendlich „eine Katastrophe für jeden authentischen Humanismus“ und eine „Niederlage der Menschheit“ (Papst Johannes Paul II., Botschaft zum XXII. Weltfriedenstag 1999; Ansprache an das diplomatische Corps am 13.01.2003). Für den Zweiten Weltkrieg gilt dies in einer radikal zugespitzten Weise. Er war kein Krieg wie viele andere. Das nationalsozialistische Deutschland entfesselte in Europa einen Krieg, in dem die fundamentalen Menschenrechte offen verneint und alle moralischen Prinzipien über Bord geworfen wurden. Im Osten Europas zielte der Krieg auf Vernichtung und Versklavung. Besonders die polnischen Führungsschichten – Intellektuelle, Wissenschaftler und Klerus – waren betroffen von einer Ausrottungspolitik, die eine Knechtschaft des ganzen Volkes zum Ziel hatte.
Wir gedenken heute der Millionen von Opfern des Krieges und ebenso all jener, die aus rassenideologischen Gründen oder aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens verfolgt und ermordet wurden: der europäischen Juden, die dem Menschheitsverbrechen des Holocaust zum Opfer fielen, der Sinti und Roma, der geistig Behinderten und der Eliten in Mittel- und Osteuropa. Wir dürfen auch diejenigen nicht vergessen, die unter Gefährdung oder Aufopferung ihres Lebens aktiv Widerstand geleistet haben gegen die Unmenschlichkeit der Zeit. Manche von ihnen verehrt die Kirche als Märtyrer. Unsere Erinnerung geht über in das Gebet für die Opfer und um den Frieden: „Nie wieder die einen gegen die anderen, nie wieder! […] nie wieder Krieg!” (Papst Paul VI., Rede vor der UN-Vollversammlung am 4.10.1965).
(3) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges traf unsere beiden Länder ein unterschiedliches Los. Polen geriet im Zuge der Entscheidung der Siegermächte in die Einflusszone der Sowjetunion, was von der polnischen Gesellschaft als neue Besatzung aufgefasst wurde – mit neuem Leid, neuen Opfern, Vertreibungen und Umsiedlungen. Bis zum Beginn der 1990er Jahre folgte ein Leben in einem System der Unfreiheit und der Isolation. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde behindert und der Zugang zu neuen Technologien war eingeschränkt. Auch das Glück der Deutschen war sehr unterschiedlich verteilt. Während im Westen schon bald nach 1945 ein freiheitliches Gemeinwesen aufgebaut werden konnte, mussten sich die Ostdeutschen mit sowjetischer Oberhoheit und dem kommunistischen Gesellschaftssystem abfinden. Das herrschende System in Polen errichtete eine amtliche Freundschaft mit den Ostdeutschen und entfachte zugleich den Hass gegen die Bundesrepublik Deutschland, der „Revisionismus“ unterstellt wurde, und gegen die mit ihr verbündeten USA, die man des „Imperialismus“ bezichtigte.
Zu den großen Verlierern des Hitlerschen Angriffskrieges gehören auch jene Menschen, die ihr Heim und Erbe verloren haben. Zuerst waren es Polen, die nicht nur Opfer des Krieges wurden, sondern auch von Zwangsdeportationen durch die Armeen Hitlers und Stalins. Als Ergebnis der expansiven sowjetischen Neuordnungspläne für den mittel-osteuropäischen Raum und von Entscheidungen der Siegermächte erlitten am Ende des Krieges und in der Folgezeit dann viele Deutsche das Schicksal von Flucht und Vertreibung.
Wir rufen in diesem Zusammenhang das Gemeinsame Wort der Polnischen und der Deutschen Bischofskonferenz vom Dezember 1995 in Erinnerung: „Nur die Wahrheit kann uns frei machen, die Wahrheit, die nichts hinzufügt und nichts weglässt, die nichts verschweigt und nichts aufrechnet (vgl. Joh 8,32). In Anbetracht des verbrecherischen Angriffskriegs des nationalsozialistischen Deutschland, des tausendfachen Unrechts, das in der Folge den Menschen in Polen durch Deutsche zugefügt wurde, und des Unrechts, das vielen Deutschen durch Vertreibung und Verlust der Heimat angetan wurde, wiederholten wir in diesem Geiste gemeinsam die Worte von 1965: Wir vergeben und bitten um Vergebung.“
Die deutschen und die polnischen Bischöfe verurteilen gemeinsam das Verbrechen des Krieges; einig sind wir uns auch in der Verurteilung der Vertreibungen. Dabei verkennen wir niemals den inneren Zusammenhang und die Abfolge der Geschehnisse.
(4) Mit Dankbarkeit erinnern wir uns heute all jener, die trotz oder gerade wegen ihrer furchtbaren Erfahrungen seit 1945 für die Versöhnung unserer Völker sowie zwischen allen Nationen Europas gearbeitet haben.
Besonders denken wir hier an die wegweisende Geste der polnischen Bischöfe, die 1965 in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils als erste ihren deutschen Mitbrüdern die Hand der Versöhnung entgegengestreckt haben. Die Antwort der deutschen Bischöfe zeugte von ihrer Offenheit für das Geschenk dieses Neuanfangs. Mit Dankbarkeit erinnern wir uns auch der vielfältigen anderen Initiativen für Frieden und Versöhnung, die von Christen, aber auch von anderen Gruppen in der polnischen wie der deutschen Gesellschaft ausgingen oder im Bereich der Politik entwickelt wurden.
Es braucht nicht verschwiegen zu werden: Der Weg der Verständigung und der Zusammenarbeit, den die Kirche in unseren beiden Ländern seither gegangen ist, war manches Mal schwierig und nicht frei von Missverständnissen und Belastungen. Wir haben jedoch gelernt, dass Geduld, Behutsamkeit, Wahrhaftigkeit und guter Wille unverzichtbare Wegbegleiter beim Aufbau des Gemeinwohls sind.
Mit großer Dankbarkeit rufen wir die organisierten und die spontanen Hilfsaktionen von Seiten der deutschen Katholiken und der deutschen Gesellschaft für die Menschen in Polen in Erinnerung, die sich im Zuge des auseinanderbrechenden kommunistischen Wirtschaftssystems im Jahre 1980 am Abgrund einer humanitären Katastrophe befanden. Damals sind feste Bande der Solidarität und der Freundschaft zwischen Familien, Pfarreien und Gemeinden entstanden. Ein echter Prozess der Annäherung, des Sich-Kennenlernens und der gegenseitigen Annahme ist in Gang gekommen. Dieses enorme Kapital an sozialen Beziehungen muss auch in Zukunft sorgsam gepflegt werden.
Alle, denen eine Atmosphäre gutnachbarlicher Beziehungen im europäischen Haus ein Anliegen ist, laden wir ein, sich intensiv am Aufbau der gemeinsamen Zukunft zu beteiligen und nicht selektiv in die Vergangenheit zurückzukehren. Gemeinsam müssen wir in die Zukunft blicken, auf die wir zugehen möchten, ohne die geschichtliche Wahrheit in all ihren Aspekten zu vergessen noch zu gering zu achten. Dieser Absicht dient auch die Arbeit der neuen Schulbuchkommission, die ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch ausarbeitet. Wir hegen die Hoffnung, dass diese Arbeiten in Kürze abgeschlossen werden und das neue Schulbuch für die jungen Generationen in Deutschland und in Polen eine Quelle des Wissens über unsere schwierige und belastete Vergangenheit wird. Wir rufen auch die Vertreter der Medien, die Mitarbeiter von Radio und Fernsehen auf, ihrer Verantwortung für das Klima wachsenden Vertrauens zwischen Polen und Deutschen gerecht zu werden.
Die Zukunft gestalten
(5) Wir sind uns bewusst: Auch wenn die Prozesse der Versöhnung in den vergangenen Jahrzehnten gute Früchte getragen haben, so sind die Erfahrungen des Krieges und der Folgezeit in den Beziehungen unserer Völker nach wie vor lebendig. Auch besteht bei manchen gesellschaftlichen oder politischen Kräften die Versuchung, die in der Geschichte geschlagenen Verletzungen propagandistisch auszubeuten und, gestützt auf einseitige geschichtliche Interpretationen, Ressentiments zu schüren. Die Kirche wird solcher mangelnden Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte auch weiterhin entschieden entgegentreten. Stattdessen ermutigen wir zum intensiven Dialog, der immer auch die Bereitschaft einschließt, den anderen aufmerksam zuzuhören. Gemeinsam sollen Deutsche und Polen ihre besondere Aufmerksamkeit denen schenken, die nach wie vor unter den traumatischen Erlebnissen von Menschenverachtung, Krieg, Okkupation und Verlust der Heimat leiden. Ein solcher Umgang mit der Geschichte und ihren weiterwirkenden Folgen sperrt unsere Völker gerade nicht im Gefängnis ihrer Erinnerungen ein. Im Gegenteil: Die „Heilung der Erinnerungen“, von der Papst Johannes Paul II. immer wieder gesprochen hat, schafft – psychologisch, kulturell und politisch – den Raum, in dem die politischen Fragen des Alltags mit der gebotenen Sachlichkeit behandelt werden können. Erinnerung kettet uns nicht an die Vergangenheit; sie macht uns frei für die Zukunft. Diesem Gedanken ist auch eine Reihe von Initiativen verpflichtet, in denen deutsche und polnische Katholiken gemeinsam tätig sind. Als Beispiele verweisen wir auf das „Zentrum für Dialog und Gebet“ am Rande des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz, das „Maximilian-Kolbe-Werk“ und die 2007 gegründete „Maximilian-Kolbe-Stiftung“.
Das Zeugnis der Kirche
(6) Der Friede zwischen den Nationen, der auf Gerechtigkeit und Versöhnung beruht, ist uns nicht ein für allemal gegeben. Tag für Tag muss am Frieden gebaut werden, und das Werk kann nur gelingen, wenn wir alle unsere Verantwortung wahrnehmen: Die Menschen müssen den Frieden persönlich als tiefgehenden Wert erleben, damit er sich in den Familien, in den gesellschaftlichen Zusammenhängen und schließlich auch im staatlichen Gemeinwesen verbreiten kann. Im Klima des Verzeihens und der Versöhnung, im Klima von Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit kann sich eine Kultur des Friedens entwickeln, die dem Gemeinwohl dient.
Als Kirche bezeugen wir, dass Gott die tiefste Quelle des Friedens ist. Deshalb ist das Handeln von Menschen, die aus dem Evangelium ihre tiefe Motivation zum Dienst an einem gerechten Frieden gewinnen, von so großer Bedeutung. Wir laden zum Gebet um den Frieden ein und zu Begegnungen, die dem Kennenlernen, dem Respekt und gegenseitiger Annahme dienen. Wir ermutigen die Jugend, die Sprache der Nachbarn zu lernen und sich mit deren Kultur zu befassen, in der auch die gemeinsamen christlichen Wurzeln zum Ausdruck kommen. Wir rufen zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den kirchlichen Institutionen in Polen und in Deutschland auf, um gemeinsam für die Evangelisation der Welt zu wirken und den humanitären Herausforderungen zu begegnen, die sich in vielen Teilen der Welt, besonders im europäischen Nachbarkontinent Afrika stellen. Die Kirche in Deutschland und in Polen verfügt über ein beachtliches Potential an Menschen und Mitteln, sodass unser gemeinsames Handeln reiche Frucht tragen kann. Die Erfahrung von Gewalt und Unrecht, an die wir aus Anlass des Beginns des Zweiten Weltkriegs erinnern, sollte uns in besonderer Weise auch sensibel machen für die Forderungen der Religionsfreiheit, die in unserer Welt auch viele Christen vermissen und für die Notwendigkeit, mit allen solidarisch zu sein, deren Menschenrechte nicht respektiert werden. Das Leitbild einer Kultur des Friedens, die immer auch als Kultur des Lebens gedacht werden muss, hält uns als Kirche schließlich dazu an, uns für die Förderung der Familie zu engagieren und den Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod einzufordern.
Als versöhnte Menschen, die ständig auf dem Weg der Versöhnung fortschreiten, wollen wir der Welt auf diese Weise Zeugnis geben von einer neuen Kultur des Friedens, der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe.
(7) Die Versöhnung zwischen unseren Nationen ist ein Geschenk, das wir in das Werden des vereinten Europas einbringen. Auch wenn hier und da Spannungen und Missverständnisse diese Völkerfamilie nicht verschonen, dürfen wir nicht den fundamentalen Fortschritt der Geschichte vergessen, der durch die europäische Integration erreicht wurde. Die Chance eines Friedens, die der Vereinigung der europäischen Völker entspringt, darf nicht verpasst werden. Wir wenden uns an alle, nicht darin nachzulassen, im Beten und Handeln an der europäischen Einheit mitzuwirken. Nur so werden wir uns weiterhin am Frieden erfreuen können.
Unsere Hoffnung auf eine letztliche Versöhnung unserer Völker im Rahmen der europäischen Gemeinschaft liegt in Gott, der uns in Jesus Christus den Frieden geschenkt hat. Wir wollen auf dieses Geschenk antworten, indem wir Friedensbringer werden. Seien wir Zeugen des Friedensfürsten!
Auf unserem gemeinsamen Weg begleitet uns Maria, die Königin des Friedens, der wir das Los der Deutschen und Polen, das Los Europas und der Welt anvertrauen.
Bonn / Warschau, den 25. August 2009
Erzbischof Dr. Robert Zollitsch Erzbischof Józef Michalik
Vorsitzender der Deutschen Vorsitzender der Polnischen
Bischofskonferenz Bischofskonferenz
Die Erklärung wird mitunterzeichnet von den Vorsitzenden der Kontaktgruppe der Polnischen und der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Wiktor Skworc und Erzbischof Dr. Ludwig Schick.