Den Besuch von Papst Benedikt XVI in Auschwitz habe ich noch lebendig in Erinnerung. Es hatte natürlich eine besondere Bedeutung, dass nach dem polnischen Papst der deutsche Papst wiederholte „Ich konnte als Papst unmöglich nicht hierher kommen“. Aber das hatte nicht nur eine historische und nationale Bedeutung. Benedikt XVI. hat es auch als Papst für die Weltkirche gesagt, die ihre Botschaft von der erlösenden Liebe Gottes durch die Geschichte trägt und die selbst ein Teil davon ist.
„Auschwitz“, die konkrete historische Erfahrung, die sich mit diesem Ort verbindet, als auch die symbolische Bedeutung, die dieses Wort bekommen hat, kennzeichnet eine tiefe Wunde. Es ist eine tiefe Wunde in der Seele Israels, in den Völkern der Sinti und Roma, im polnischen Volk, in den Völkern der ehemaligen Sowjetunion und in vielen anderen betroffenen Menschen. Es ist, nicht zuletzt wegen der Frage nach der Schuld, eine tiefe Wunde in der Seele des deutschen Volkes. Schliesslich ist Auschwitz auch eine Wunde in der Seele des Christentums, vor allem des europäischen Christentums. Diese Wunde heilt nur sehr langsam und sie wirkt sich bis heute auf die ganze Menschheitsfamilie aus.
Die Kirche muß und will die Herausforderung ernst nehmen. Papst Benedikt XVI hat dies bei seinem Besuch in Auschwitz und in Birkenau vor allem dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er die meiste Zeit schweigend gegenwärtig war und Überlebenden des Holocaust begegnet ist. Gemeinsam mit Vertretern verschiedener Gruppen der Opfer hat er gebetet.
Die Kirche hat die Hoffnung zu verkünden, die in der Verheissung Gottes begründet ist, die Hoffnung, die sie selber trägt und von der sie überzeugt ist, daß sie Hoffung für die gesamte Welt ist. Diese Hoffnung wurzelt im Kreuz und in der Auferstehung: Gott selbst ist in die tiefste Nacht des Todes hinabgestiegen; so hat die Macht des Bösen und des Todes nicht mehr das letzte Wort. Gott ist mit den Opfern von Unrecht und Gewalt selbst in der dunkelsten Nacht. Die Verheißung der Auferstehung gilt allen. Gott ist Treue in der Liebe, das ist unser Glaube, auch „nach Auschwitz“.
Im Angesicht von Auschwitz steht die Kirche nicht nur vor der Herausforderung, ihren Glauben an Gottes Treue zu bekennen, sondern auch vor der Herausforderung, ihr Gewissen zu erforschen. Deshalb war der Prozess der „Reinigung des Gedächtnisses“, das Schuldbekenntnis und die Bitte um Gottes Gnade am ersten Sonntag in der österlichen Busszeit im Jahre 2000 ein wesentlicher Abschnitt auf dem Weg der Kirche in das dritte Jahrtausend.
Unser Verhältnis zum jüdischen Volk betrifft nicht nur ethische Fragen, sondern auch die Theologie. Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert wieder daran, dass der Bund Gottes mit seinem Volk nie beendet wurde und dass er auch für Christen bleibende Bedeutung hat. Der Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Synagoge Roms im April 1986 und sein Gebet an der Klagemauer in Jerusalem im März 2000 haben das vor aller Welt deutlich gemacht. Gleich zu Beginn seines Pontifikates hat Papst Benedikt XVI. im August 2005 auf seiner ersten Auslandsreise die Synagoge in Köln besucht. Auf seiner Reise nach Polen wollte er auch nach Auschwitz gehen. Darüber sagte er später: „Bei meinen Wegen durch Polen konnte der Besuch in Auschwitz-Birkenau nicht fehlen, an der Stätte der grausamsten Unmenschlichkeit – des Versuchs, das Volk Israel auszulöschen und so auch die Erwählung Gottes zuschanden zu machen, Gott selbst aus der Geschichte zu verbannen“ (Ansprache vor der römischen Kurie am 22. Dezember 2006).
Die katholische Kirche steht zu ihrem Versprechen, die Schoa in Erinnerung zu halten; sie will „ihr tiefes Bedauern über das Versagen ihrer Söhne und Töchter aller Generationen zum Ausdruck bringen. Dies ist ein Akt der Reue (teschuwa) […] Die Kirche nähert sich mit tiefem Respekt und großem Mitgefühl der Erfahrung der Vernichtung, der Schoa, die das jüdische Volk im Zweiten Weltkrieg durchlitten hat. Dies ist ein Ausdruck nicht bloßer Worte, sondern tatsächlich einer bindenden Verpflichtung. […] Schließlich laden wir alle Männer und Frauen guten Willens dazu ein, intensiv über die Tragweite der Schoa nachzudenken“ (Dokument der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum von 1998 Wir Erinnern: Eine Reflexionen über die Schoa, Nr.V).
Dieser Prozess hat erst begonnen und muss in Verantwortung für die Zukunft weitergehen. Das kann letztlich nur im Dialog und getragen vom Gebet geschehen. Doch weder Gebet noch Dialog ist im Hinblick auf Auschwitz einfach. Aber beides ist nötig. Nur so heilen wir die Welt (tikkun olam). Deshalb war es Papst Benedikt XVI. ein wichtiges Anliegen, bei seinem Besuch in Auschwitz das Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim und die Schwestern aus dem benachbarten Karmelitinnenkloster zu segnen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch ein Wort zu den polnischen Brüder und Schwestern sagen. Das ganze polnische Volk hat im Zweiten Weltkrieg schwer gelitten und tiefe Wunden davongetragen. Die von deutschen NS-Verbrechern organisierten Vernichtungslager für die Juden haben in Polen ein schweres Erbe hinterlassen. Die vielen Jahre kommunistischer Diktatur haben es erschwert, mit dieser Herausforderung angemessen umzugehen. Uns hilft, dass es in Polen eine starke Tradition der Versöhnung gibt. Ich denke etwa an den Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe von 1964 mit den Sätzen „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Wir alle sind noch tief geprägt vom Wirken des großen Papstes Johannes Paul II, der die Kraft seiner Versöhnungsarbeit auch aus den polnischen Wurzeln seines christlichen Glaubens schöpfte.
Ich freue mich, daß dieses Buch mit den Zeugnissen vom Besuch des Papstes in Auschwitz, vom Seminar über Edith Stein, und vom Seminar, das nach der Gegenwart Gottes in den Dunkelheiten der Geschichte fragte, davon zeugt, dass um eine ernsthafte Antwort auf die mahnende Stimme von Auschwitz gerungen wird. Dies ist ein wichtiger Schritt auf einem Weg, der weitergehen muß. Ich wünsche deshalb, dass das Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim auch in Zukunft dazu beitragen kann, „daß aus dem Ort des Grauens Besinnung wächst und daß das Erinnern hilft, dem Bösen zu widerstehen und der Liebe zum Sieg zu verhelfen“ (Benedikt XVI. in Auschwitz 28. Mai 2006).
Walter Kardinal Kasper
Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum des Heiligen Stuhls