DEUTSCHE BISCHOFSKONFERENZ

Wort aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz
27. Januar 1995

Am 27. Januar 1945 wurden die Konzentrationslager Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau befreit. Unzählige Menschen sind dort auf schreckliche Weise umgebracht worden: Polen, Russen, Sinti und Roma sowie Angehörige anderer Nationen. Die überragende Mehrheit der Gefangenen und Opfer dieses Lagers waren Juden. Deshalb ist Auschwitz das Symbol für die Vernichtung des europäischen Judentums, die als „Holocaust“ oder mit dem hebräischen Wort „Schoa“ bezeichnet wird.

Das Verbrechen an den Juden wurde von den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland geplant und ins Werk gesetzt. Das „präzedenzlose Verbrechen“ der Schoa (Papst Johannes Paul II. am 13. Juni 1991) wirft noch immer viele Fragen auf, denen wir nicht ausweichen dürfen. Die Erinnerung an den 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ist für deutsche Katholiken Anlaß, erneut ihr Verhältnis zu den Juden zu überprüfen. Zugleich mahnt der Tag an die Tatsache, daß Auschwitz seinen Platz auch in der polnischen Leidensgeschichte hat und das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen belastet.

Schon in früheren Jahrhunderten sahen sich Juden Verfolgung, Unterdrückung, Ausweisung und selbst der Lebensgefahr ausgesetzt. Viele suchten und fanden Zuflucht in Polen. Doch verblieben auch Orte und Gebiete in Deutschland, in denen Juden relativ ungestört leben konnten. Seit dem 18. Jahrhundert bot sich in Deutschland eine neue Chance zu einem friedlichen Zusammenleben, Juden haben zur Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur Entscheidendes beigetragen. Dennoch lebte eine antijüdische Einstellung auch im kirchlichen Bereich weiter. Sie hat mit dazu geführt, daß Christen in den Jahren des Dritten Reiches nicht den gebotenen Widerstand gegen den rassistischen Antisemitismus geleistet haben. Es hat unter Katholiken vielfach Versagen und Schuld gegeben. Nicht wenige haben sich von der Ideologie des Nationalsozialismus einnehmen lassen und sind bei den Verbrechen gegen jüdisches Eigentum und Leben gleichgültig geblieben. Andere haben den Verbrechen Vorschub geleistet oder sind sogar selber Verbrecher geworden. Unbekannt ist die Zahl derer, die beim Verschwinden ihrer jüdischen Nachbarn entsetzt waren und doch nicht die Kraft zum sichtbaren Protest fanden. Jene, die bis zum Einsatz ihres Lebens halfen, blieben oft allein. Es bedrückt uns heute schwer, daß es nur zu Einzelinitiativen für verfolgte Juden gekommen ist und daß es selbst bei den Pogromen vom November 1938 keinen öffentlichen und ausdrücklichen Protest gegeben hat, als Hunderte von Synagogen verbrannt und verwüstet, Friedhöfe geschändet, Tausende jüdischer Geschäfte demoliert, ungezählte Wohnungen jüdischer Familien beschädigt und geplündert, Menschen verhöhnt, mißhandelt und sogar ermordet wurden. Der Rückblick auf die Geschehnisse vom November 1938 und die 12jährige Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten vergegenwärtigt die schwere Last der Geschichte. Er erinnert daran, „daß die Kirche, die wir als heilig bekennen und als Geheimnis verehren, auch eine sündige und der Umkehr bedürftige Kirche ist“ (Wort der deutschsprachigen Bischöfe aus Anlaß des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938).

Versagen und Schuld der damaligen Zeit haben auch eine kirchliche Dimension. Daran erinnern wir mit dem Zeugnis der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland: „Wir sind das Land, dessen jüngste politische Geschichte von dem Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk systematisch auszurotten. Und wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten jüdischen Volkes weiterlebte, deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institutionen fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum verübten Verbrechen geschwiegen hat … Die praktische Redlichkeit unseres Erneuerungswillens hängt auch an dem Eingeständnis dieser Schuld und an der Bereitschaft, aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes und auch unserer Kirche schmerzlich zu lernen“ (Beschluß „Unsere Hoffnung“, 22. November 1975). Wir bitten das jüdische Volk, dieses Wort der Umkehr und des Erneuerungswillens zu hören.

Auschwitz stellt uns Christen vor die Frage, wie wir zu den Juden stehen und ob unser Verhältnis zu ihnen dem Geist Jesu Christi entspricht. Antisemitismus ist „eine Sünde gegen Gott und die Menschheit“, wie Papst Johannes Paul II. mehrfach gesagt hat. In der Kirche darf es keinen Platz und keine Zustimmung für Judenfeindschaft geben. Christen dürfen keinen Widerwillen, keine Abneigung und erst recht keinen Haß gegen Juden und Judentum hegen. Wo sich eine solche Haltung kundtut, besteht die Pflicht zu öffentlichem und ausdrücklichem Widerstand.

Die Kirche achtet die Eigenständigkeit des Judentums. Zugleich muß sie selbst neu lernen, daß sie aus Israel stammt und mit seinem Erbe in Glaube, Ethos und Liturgie verbunden bleibt. Wo es möglich ist, sollen christliche und jüdische Gemeinden Kontakt miteinander pflegen. Wir müssen alles tun, damit Juden und Christen in unserem Land als gute Nachbarn miteinander leben können. So werden sie ihren unverwechselbaren Beitrag für ein Europa leisten, dessen Vergangenheit durch die Schoa verdunkelt ist und das in der Zukunft ein Kontinent der Solidarität werden soll.