Liebe Schwestern!

„Meine Berufung ist die Liebe. Ja, ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden … die Kirche hat ein Herz, ein von Liebe brennendes Herz … die Liebe zum Nächsten ist die Grundlage meiner Berufung geworden … Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein“ (Autobiographie, Lisieux 1957, 227–229).

Diese Worte der heiligen Karmeliterin von Lisieux offenbaren den Wesenskern der Berufung jeder Schwester im Karmel: jeder einzelnen von euch. Um die Liebe im Herzen der Kirche zu sein, seid ihr vor einiger Zeit nach Auschwitz gekommen. Ist es nötig zu erklären, warum besonders an diesem Ort das Herz der Kirche so stark schlagen sollte? Wieso diese Liebe, mit der Christus die Menschen bis zum Ende geliebt hat, hier so notwendig gebraucht wird? Warum gerade hier, wo jahrelang Haß und Verachtung gegenüber den Menschen wüteten und wo sich das Werk der Zerstörung und des Todes unter den Menschen so vieler Nationen in ungeheurem Maße anhäufte?

Dem Willen der Kirche zufolge müßt ihr nun an einen anderen Ort in Auschwitz übersiedeln. Jede von euch ist frei zu entscheiden, ob sie ihr Leben als Karmeliterin dort in der gegenwärtigen Gemeinschaft fortführen oder in ihr Mutterhaus zurückkehren möchte. Zweifellos ist dies für jede von euch ein schmerzlicher Augenblick. Inständig bitte ich Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, euch alle seinen Willen und die besondere Berufung auf dem Weg des Karmelitenlebens erkennen zu lassen.

Auschwitz – und alles, was mit diesem Namen verbunden ist, wie das tragische Erbe Europas und das der Menschheit – wird stets eine Verpflichtung für den Karmel sein. Vor allem bleibt all das eine Aufgabe, was in der Erinnerung vieler Völker mit dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Verbindung steht: in der Erinnerung der Töchter und Söhne Israels, und gleichzeitig alles, was die Vergangenheit der Polen und unseres Vaterlands betrifft. Wie sich die Zukunft gestalten wird, die aus dieser qualvollen Vergangenheit hervorgeht, hängt weitgehend von der Tatsache ab, daß auf der Schwelle von Auschwitz jene Liebe wacht, die stärker ist als der Tod (Hld 8,6).

Ganz besonders euch, liebe Schwestern, ist das Geheimnis dieser erlösenden Liebe anvertraut – dieser Liebe, die die Welt rettet. Und wie sehr ist doch unsere Welt von heute – fünfzig Jahre nach dem schrecklichen Krieg, der uns unter anderem Auschwitz beschert hat –, wie sehr ist sie doch stets vom Haß bedroht!

Liebe Töchter des Karmel! Möge euch zugleich jene Osterfreude („gaudium paschale“) zuteil werden, die die Kirche in dieser Osterzeit lebt.

Im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes – im Namen Jesu Christi, der die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16,33) – erteile ich euch meinen Segen.

Johannes Paul II

Vatikan, am 9. April 1993