POLNISCHE BISCHOFSKONFERENZ

Hirtenbrief aus Anlaß des 25. Jahrestages der Konzilserklärung „Nostra aetate“

30. November 1990
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, heute wenden wir uns an euch in der ungemein wichtigen Angelegenheit unserer Beziehung zum jüdischen Volk und zur mosaischen Religion, mit denen uns Christen einzigartige und einmalige Bande verbinden. Wir tun dies aus Anlaß des 25. Jahrestages der Verkündigung der Konzilserklärung „Nostra aetate“, in der die Kirche ihr Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, darunter auch zu den Juden, näher bestimmt hat. Diese am 28. Oktober 1965 angenommene Erklärung hat bis heute nichts von ihrer Bedeutung und Aktualität verloren.

Das hat der Heilige Vater Johannes Paul II. wiederholt unterstrichen, indem er unter anderem sagte: „Aus tiefster Überzeugung möchte ich bekräftigen, daß die Lehre der Kirche, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Erklärung ‚Nostra aetate‘ verkündet wurde, für uns, für die katholische Kirche, für den Episkopat und den Papst immer eine Lehre bleibt, an die man sich halten muß, eine Lehre, die man nicht nur als der Sache dienlich auffassen sollte, sondern vielmehr als Ausdruck des Glaubens, als Eingebung des Heiligen Geistes, als Wort der göttlichen Wahrheit“ (Ansprache vor der Jüdischen Gemeinde in Venezuela am 15. Januar 1985).

Die Konzilserklärung weist vor allem auf die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Verbindungen hin, die zwischen der Kirche und der mosaischen Religion sowie dem jüdischen Volk bestehen. Mit keiner anderen Religion steht die Kirche in einer so engen Beziehung, auch ist sie mit keinem anderen Volk durch so feste Bande verbunden. „Die Kirche Christi“, schreiben die Konzilsväter in der Erklärung, „anerkennt, daß nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden“ (Nostra aetate 4). Deshalb konnte sich Johannes Paul II., der nach dem heiligen Petrus als erster seiner Nachfolger eine Synagoge besuchte, bei seiner Ansprache in der römischen Synagoge am 13. April 1986 an die Juden als an „unsere älteren Brüder“ im Glauben wenden.

Die Kirche ist im jüdischen Volk und im Glauben der Juden vor allem durch die Tatsache verwurzelt, daß Jesus Christus dem Fleisch nach diesem Volk entstammt. Dieses zentrale heilsgeschichtliche Ereignis war von Anfang an von Gott in seinem ewigen Erlösungsplan beabsichtigt. Diesem Volk offenbarte Gott auch seinen Namen, und mit ihm schloß er seinen Bund. Die Erwählung war nicht nur ein außerordentliches Privileg, sondern auch eine große Verpflichtung zum Glauben und zur Treue dem einen Gott gegenüber bis hin zum Zeugnis des Leidens und nicht selten des Todes. Diesem Volk vertraute Gott die besondere Mission an, alle im wahren Glauben an den einen Gott und in der Erwartung des Messias, des Erlösers, zu vereinen. Als die Fülle der Zeit gekommen war, nahm das ewige Wort Gottes, der eingeborene Sohn des Vaters, Fleisch an aus der Jungfrau Maria, Tochter des jüdischen Volkes. Verkündet durch die Propheten und erwartet von seinem Volk, wurde Jesus Christus in Betlehem als „Sohn Davids, Sohn Abrahams“ (Mt 1,1) geboren. Aus dem jüdischen Volk stammen auch die „Apostel, die Grundfesten und Säulen der Kirche, sowie die meisten jener ersten Jünger, die das Evangelium Christi der Welt verkündet haben“ (Nostra aetate 4).

Die Kirche als Volk Gottes der Neuen Erwählung und des Neuen Bundes hat das Volk Gottes der ersten Erwählung und des ersten Bundes nicht von seinen Gaben enterbt, die es von Gott erhalten hat. Wie nämlich der heilige Paulus lehrt: „Die Israeliten sind um der Väter willen geliebt“ (Röm 11,28) und deshalb sind „Gnade und Berufung, die Gott gewährt, unwiderruflich“ (Röm 11,29). Ihnen gehören auch „die Sohnschaft und die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen“ (Röm 9,4). Gott hat dem jüdischen Volk also nicht seine Erwählung entzogen, sondern schenkt ihm weiterhin seine Liebe. Und nur er allein, der höchste und barmherzige Gott, kennt den Tag, „an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm ‚Schulter an Schulter‘ dienen“ (Nostra aetate 4).

Die Konzilsväter wenden sich in der Erklärung klar und entschieden gegen den Hauptvorwurf, der allen Juden die Verantwortung für den Tod Christi aufbürdet. Die Erklärung stellt fest: „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen“ (Nostra aetate 4).

Einige jedoch berufen sich auf die Worte des Matthäus-Evangeliums: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25) und beschuldigen die Juden des Todes an Christus. Tatsächlich bedeutet diese Äußerung: Wir übernehmen die volle Verantwortung für diesen Tod. Das rief jedoch nicht das ganze jüdische Volk, sondern nur die aufgewiegelte Menge, die vor dem Palast des Pilatus versammelt war. Ebenso darf man nicht vergessen, daß Jesus auch für diese Menschen wie für uns alle am Kreuze betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34).

Der Katechismus des Tridentinischen Konzils sieht die Frage der Verantwortlichkeit für den Tod Christi so: „Sündige Christen haben am Tod Christi mehr Schuld als einige Juden, die an ihm beteiligt waren. Die letzteren wußten wirklich nicht, was sie taten, während wir es nur zu gut wissen“ (pars I, cap. V, quaestio IX). Die Erklärung „Nostra aetate“ erinnert an die traditionelle Lehre der Kirche, daß nämlich „Christus in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen hat“ (Nostra aetate 4). Die Lehre der Kirche, die in dieser Erklärung enthalten ist, wurde in späteren Dokumenten des Apostolischen Stuhls weiterentwickelt.

Besonders wichtig ist das Dokument aus dem Jahre 1985 mit dem Titel: „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“. Dieses Dokument verdient eine möglichst große Verbreitung, vor allem unter Seelsorgern und Katecheten.

Mit dem jüdischen Volk verbinden uns Polen besondere Bande, und das schon seit den ersten Jahrhunderten unserer Geschichte. Polen wurde für viele Juden zum zweiten Vaterland. Die Mehrheit der Juden, die gegenwärtig in der Welt leben, stammt aus den Gebieten der ehemaligen und der jetzigen Republik.

Leider wurde gerade diese Erde in unserem Jahrhundert zum Grab für einige Millionen Juden. Nicht aus unserem Willen und nicht von unserer Hand. Folgendes sagte der Heilige Vater vor kurzem – am 26. September dieses Jahres – über unsere gemeinsame Geschichte: „Es gibt noch eine Nation, ein besonderes Volk: das Volk der Patriarchen, des Moses und der Propheten, das Erbe des Glaubens Abrahams … Dieses Volk lebte mit uns über Generationen hinweg, Seite an Seite, auf derselben Erde, die gleichsam zur neuen Heimat in der Zerstreuung wurde. Diesem Volk wurde ein schrecklicher Tod in Millionen Söhnen und Töchtern bereitet. Zuerst brandmarkte man sie mit einem besonderen Zeichen. Dann drängte man sie in Ghettos in gesonderten Stadtteilen ab. Dann wurden sie in Gaskammern verschleppt, um sie zu töten – nur deshalb, weil sie Kinder dieses Volkes waren. Die Mörder taten das auf unserer Erde – vielleicht, um sie zu schänden. Aber man kann die Erde nicht durch den Tod unschuldiger Opfer schänden. Durch so einen Tod wird die Erde zur heiligen Reliquie“ (Ansprache vor Polen während der Mittwochsaudienz am 26. September 1990).

Und während der historischen Begegnung mit den wenigen in Polen lebenden Juden im Jahre 1987 in Warschau sagte der Heilige Vater: „Seien Sie versichert, liebe Brüder, daß die Polen, die polnische Kirche im Geiste tiefer Solidarität mit euch verbunden ist, wenn sie aus der Nähe auf diese schreckliche Realität der Vernichtung – der bedingungslosen Vernichtung – eures Volkes sieht, einer Vernichtung, die mit Vorsatz ausgeführt wurde. Die Bedrohung für euch war auch eine Drohung gegen uns; sie wurde nicht im selben Ausmaß verwirklicht, weil die Zeit dazu nicht ausreichte. Sie waren es, die diese schrecklichen Opfer erlitten haben: man könnte sagen, daß sie es auch erleiden mußten wegen jener, die ebenso zur Ausrottung bestimmt waren“ (Ansprache vom 14. Juni 1987).

Viele Polen haben während des letzten Krieges Juden gerettet. Hunderte, wenn nicht Tausende, bezahlten diese Hilfe mit dem eigenen Leben und dem Leben ihrer Nächsten. Hinter jedem geretteten Juden stand eine ganze Kette von Herzen von Menschen guten Willens und hilfreicher Hände. Ein beredtes Zeugnis dieser Hilfe für die Juden in den grausamen Jahren der Hitlerschen Okkupation sind die zahlreichen jungen Bäume an der Nationalgedenkstätte „Jad Wa-Schem“ in Jerusalem, die Polen gewidmet sind, sowie der vielen Polen zuerkannte Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“.

Trotz so zahlreicher heroischer Beispiele der Hilfe seitens christlicher Polen gab es auch solche Polen, die dieser unfaßbaren Tragödie gegenüber gleichgültig blieben. Besonders beklagen wir diejenigen unter den Katholiken, die auf irgendeine Weise zum Tod von Juden beigetragen haben. Sie bilden für immer einen Vorwurf des Gewissens auch in gesellschaftlicher Dimension. Wenn auch nur ein Christ hätte helfen können, aber einem Juden zur Zeit der Gefährdung keine helfende Hand gereicht hat oder gar zu seinem Tod beigetragen hat, so heißt uns das, unsere jüdischen Schwestern und Brüder um Verzeihung zu bitten.

Wir sind uns dessen bewußt, daß bei vielen unserer Landsleute noch die Erinnerung an Leid und Ungerechtigkeit lebendig ist, die ihnen von den kommunistischen Regierungen der Nachkriegszeit angetan wurden, denen auch Menschen jüdischer Abstammung angehörten. Wir müssen aber zugeben, daß die Quelle der Inspiration ihres Tuns sicher nicht ihre Abstammung oder ihre Religion war, sondern die kommunistische Ideologie, von der im übrigen auch Juden selbst viele Ungerechtigkeiten erfahren haben.

Wir bringen auch unser aufrichtiges Bedauern über alle antisemitischen Vorfälle zum Ausdruck, die durch wen auch immer und wann auch immer auf polnischem Boden begangen wurden. Wir tun das in der tiefen Überzeugung, daß alle Erscheinungen von Antisemitismus unvereinbar sind mit dem Geist des Evangeliums und – wie Johannes Paul II. vor kurzem unterstrich – „im vollkommenen Gegensatz zu der christlichen Sicht von der Würde des Menschen stehen“ (Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs vom 27. August 1989, Nr. 5).

Wenn wir unser Bedauern über alle Ungerechtigkeiten und alles Leid ausdrücken, das Juden angetan wurde, können wir nicht unerwähnt lassen, daß wir es als ungerecht und tief verletzend empfinden, wenn sich viele des Begriffs des sogenannten polnischen Antisemitismus als einer besonders gefährlichen Form eben dieses Antisemitismus bedienen und dabei nicht selten die Konzentrationslager nicht mit deren tatsächlichen Urhebern, sondern mit den Polen im von den Deutschen besetzten Polen in Verbindung bringen. Wenn man von der beispiellosen Ausrottung der Juden spricht, darf man die Tatsache nicht vergessen und noch weniger verschweigen, daß auch die Polen als Nation zu den ersten Opfern derselben verbrecherischen rassistischen Ideologie des Hitlerschen Nationalsozialismus gehörten.

Dieselbe Erde, die über Jahrhunderte hinweg die gemeinsame Heimat von Polen und Juden war, das gemeinsam vergossene Blut, das Meer grauenvollen Leids und erfahrenen Unrechts sollten uns nicht trennen, sondern verbinden. Zu dieser Gemeinsamkeit rufen uns besonders die Orte der Qual, in vielen Fällen auch gemeinsame Gräber. Es verbindet uns Christen und Juden doch der Glaube an den einen Gott, den Schöpfer und Herrn des ganzen Universums, der den Menschen nach seinem Ebenbilde schuf. Es verbinden uns gemeinsam anerkannte ethische Grundsätze, grundgelegt im Dekalog, umfaßt im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Es verbindet uns die Verehrung der biblischen Bücher des Alten Testaments als Wort Gottes sowie gemeinsame Gebetstraditionen.

Es verbindet uns schließlich die eine Hoffnung auf das endgültige Kommen des Reiches Gottes. Gemeinsam erwarten wir den Messias, den Erlöser, wenn wir auch glauben, daß er Jesus Christus aus Nazaret ist – so erwarten wir nicht sein erstes, sondern sein endgültiges Kommen, nicht mehr in der Armut des Stalles von Betlehem, sondern in Macht und Herrlichkeit.

Die wichtigste Weise der Überwindung der heute noch bestehenden Schwierigkeiten ist die Haltung des Dialogs, die zum Abbau des Mißtrauens, der Vorurteile und Stereotypen sowie zum gegenseitigen immer besseren Kennenlernen und Verstehen führt, welches auf den Respekt der besonderen religiösen Traditionen gründet und auch den Weg zur Zusammenarbeit auf vielen Gebieten eröffnet. Bedeutsam ist dabei, daß wir lernen, die eigenständigen religiösen Inhalte von Juden und Christen so zu erleben und zu würdigen, wie sie Juden und Christen heute selbst erleben.

Wir schließen, geliebte Brüder und Schwestern, unser Hirtenwort mit der Erinnerung an die jüngste Äußerung des Heiligen Vaters über unsere gemeinsame zeitliche und ewige Bestimmung: „Das [jüdische] Volk, das über Generationen hinweg mit uns zusammenlebte, ist nach dem schrecklichen Tod von Millionen Söhnen und Töchtern bei uns geblieben. Gemeinsam erwarten wir den Tag des Gerichts und der Auferstehung“ (Ansprache vor Polen während der Mittwochsaudienz am 26. September 1990).

Indem wir dem barmherzigen Gott alle Opfer von Gewalt und Haß empfehlen, segnen wir euch und bitten von Herzen, daß „der Gott des Friedens immer mit euch sei“ (Phil 4,9).