Botschaft seiner Heiligkeit Johannes Paul II an die Polnische Bischofskonferenz
zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges

am 1. September 1939

1. „… Und nun kommt unsere Botschaft zu ihrem Höhepunkt“, sagte Papst Paul VI. am 4. Oktober 1965 vor der Versammlung der Organisation der Vereinten Nationen. „…Ihr erwartet von Uns dieses Wort, das nicht des Ernstes und der Feierlichkeit entbehren kann: Nicht die einen gegen die andern, nie mehr, nimmermehr… Es bedarf keiner vielen Worte, um dieses höchste Ziel dieser Einrichtung darzulegen. Es genügt, daran zu erinnern, daß das Blut von Millionen von Menschen sowie unzählige und unerhörte Leiden, unnötiges Gemetzel und furchtbare Zerstörungen den Vertrag sanktionieren, der euch mit einem Schwur verbindet, der die künftige Geschichte der Welt verändern soll: Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg! Der Friede, der Friede muß die Geschicke der Völker und der ganzen Menschheit leiten“ (AAS, 57, 1965, 881).

2. Am 1. September 1989 jährt sich zum 50. Mal der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Als in den frühen Morgenstunden jenes Tages Polen von der Westgrenze her angegriffen wurde, war das ganze Volk bereit, auf diese militärische Invasion zu antworten und den Krieg zur Verteidigung des töd­lich bedrohten Vaterlandes auf sich zu nehmen.

Es waren damals kaum mehr als zwanzig Jahre seit dem Augenblick ver­gangen, da Polen die Unabhängigkeit wiedererlangt und ein autonomes Leben als souveräner Staat neu begonnen hatte. Und auch in jener verhält­nismäßig kurzen Periode war es auf dem Weg seiner Entwicklung vielen inneren und äußeren Schwierigkeiten begegnet, dennoch hatte es offenkun­dig Fortschritte gemacht. Entschlossen war darum der Wille, das Vaterland zu verteidigen, auch wenn das Kräfteverhältnis ungleich war. Bewunde­rungswürdig und für immer bedenkenswert ist dieser Einsatz ohnegleichen der ganzen Gesellschaft und besonders der jungen Generation der Polen zur Verteidigung des Vaterlandes und seiner grundlegenden Werte.

Dieser Wille zur Verteidigung der Unabhängigkeit des Staates beseelte die Söhne und Töchter unserer Nation nicht nur im besetzten Land, sondern auch an allen Fronten in der Welt, wo die Polen für die eigene Freiheit und die der anderen kämpften. Der Krieg, der am 1. September begonnen hatte, weitete sich sehr schnell auf andere europäische und außereuropäische Län­der aus. Neue Völker wurden Opfer der Invasion Hitlers oder befanden sich in einer äußerst bedrohten Lage. Im Verlauf des Krieges, der gleich als eine unverzichtbare Verteidigung Europas und seiner Zivilisation gegen­über der totalitären Vorherrschaft erschien, hat das polnische Volk seine Verpflichtungen als Verbündeter voll ‑ man kann sogar sagen, im Über­maß ‑ erfüllt, indem es für „unsere und eure Freiheit“ den höchsten Preis gezahlt hat.

Davon geben auch die erlittenen Verluste Zeugnis. Diese waren immens, vielleicht viel größer als die Verluste irgendeines anderen verbündeten Lan­des: vor allem die Verluste an Menschen und zugleich die enorme Verwü­stung des Landes, sowohl in seinem westlichen wie auch in seinem östlichen Teil. Bekanntlich sind am 17. September 1939 auch über die Ostgrenze Truppen in Polen einmarschiert. Die vorher unterzeichneten Nichtangriffs­verträge wurden verletzt und durch das Abkommen vom 23. August 1939 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gelöscht. Dieses Abkommen, das als die „vierte Teilung Polens“ bezeichnet wird, dekretier­te zugleich das Todesurteil über die baltischen Völker, die im Norden an polen angrenzen.

Das Ausmaß der erlittenen Verluste und mehr noch das Ausmaß der Lei­den, die einzelnen Personen, den Familien und den Gemeinschaften zuge­fügt worden sind, ist wirklich schwer zu ermessen. Viele Fakten sind bekannt, viele andere müssen noch ans Licht gebracht werden. Der Krieg spielte sich nicht nur an der Front ab, sondern erfaßte als totaler Krieg die ganzen Gesellschaften. Ganze Bevölkerungsgruppen sind deportiert wor­den. Tausende wurden gefangengenommen, wurden gefoltert und hinge­richtet. Die Menschen starben auch fern der Kriegshandlungen als Opfer der Bombenangriffe und des systematischen Terrors, dessen organisiertes Mittel die Konzentrationslager waren, die formell zur Arbeit bestimmt waren, sich aber in Wirklichkeit in Stätten des Todes verwandelt haben. Ein besonderes Verbrechen des Zweiten Weltkrieges bleibt die massive Ver­nichtung der Juden, die aus Rassenhaß in die Gaskammern geschickt wur­den.

Wenn uns dies alles vor Augen steht, dann erhalten die Worte Pauls VI. vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen ihre volle Bedeutung. Mehr noch, die geschichtliche Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges ist furchtba­rer, als daß man sie mit Worten beschreiben könnte.

3. Aber muß man überhaupt davon reden? Da seit dem Ausbruch dieses Krieges erst fünfzig Jahre vergangen sind, lebt die Generation noch, die ihn miterlebt und durchlitten hat. Seitdem sind aber auch wenigstens zwei Generationen herangewachsen, für die dieser nur ein Kapitel der Geschich­te ist. Es ist jedoch dafür Sorge zu tragen, daß jenes tragische Geschehen nicht aufhört, eine Warnung zu sein.

Die Vereinten Nationen haben gezeigt, daß sie sich dessen bewußt sind, indem sie unmittelbar nach Kriegsende die Erklärung der Menschenrechte veröffentlicht haben. Die Bedeutung dieses Dokumentes ist grundlegend. Der Zweite Weltkrieg hat alle das Ausmaß erkennen lassen, das bisher noch unbekannt war, bis wohin die Verachtung des Menschen und die Verlet­zung seiner Rechte gelangen kann. Er hat unerhörte Wellen des Hasses her­vorgerufen, der den Menschen und alles, was menschlich ist, im Namen einer imperialistischen Ideologie mit Füßen getreten hat.

Viele haben sich die Frage gestellt, ob es nach jener furchtbaren Erfahrung überhaupt noch möglich ist, eine Gewißheit zu haben. Denn die Ungeheu­erlichkeiten jenes Krieges haben sich doch in einem Kontinent ereignet, der sich einer besonderen Blüte von Kultur und Zivilisation gerühmt hat; in einem Kontinent, der am längsten unter dem Einfluß des Evangeliums und der Kirche gewesen ist.

Es ist wahrhaftig schwer, den Weg fortzusetzen, da wir diesen furchtbaren Kalvarienberg der Menschen und der Nationen hinter uns haben. Es bleibt nur ein einziger Bezugspunkt: das Kreuz Christi auf Golgota, von dem der Völkerapostel sagt: „Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade über­groß geworden“ (Röm 5, 20).

Geleitet von diesem Glauben, sucht die Kirche zusammen mit den Men­schen unseres Jahrhunderts, mit den Völkern Europas und der Welt den Weg in die Zukunft zu finden.

4. Die Suche dieses Weges betrifft alle Bewohner des europäischen Konti­nents. Sie betrifft in besonderer Weise Polen, das vor fünfzig Jahren als erstes ein entschiedenes „Nein“ zur bewaffneten Gewalt des Hitlerstaates zu sagen versuchte – und das als erstes für diese seine Entschlossenheit gezahlt hat. An allen Fronten und auch im Partisanenkampf im Vaterland, im Aufstand von Warschau, haben die Söhne und Töchter unserer Nation unzählige Beweise dafür erbracht, wie wertvoll ihnen die Sache der Unab­hängigkeit des Vaterlandes gewesen ist. Nach der Beendigung dieses furcht­baren Krieges waren sie gezwungen, sich zu fragen, ob die am Ende des Konfliktes getroffenen Entscheidungen den ungeheuren Beitrag ihrer Anstrengungen und der erlittenen Opfer widerspiegeln; ob sie nicht, obwohl sie sich auf der Seite der Sieger befanden, vielmehr wie Besiegte behandelt worden sind? Diese Frage wurde immer drängender, indem sie mit immer größerer Kraft dazu antrieb, neue Kämpfe zu unternehmen. Denn es ist keine wirkliche Souveränität, wenn in einem Staat die Gesell­schaft nicht souverän ist: Wenn diese nämlich nicht die Möglichkeit hat, über das Gemeinwohl zu entscheiden, wenn ihr das Grundrecht verweigert wird, sich an der Macht und an der Verantwortung mitzubeteiligen.

Papst Pius XII. hebt in seinen Darlegungen über die moralischen Prinzi­pien, von denen sich die Welt nach Kriegsende hätte inspirieren lassen sol­len, besonders hervor, daß es „im Bereich einer neuen Ordnung, die auf den moralischen Prinzipien gründet, keinen Platz für eine Verletzung der Frei­heit, der Integrität und der Sicherheit anderer Nationen gibt, was auch immer ihre territoriale Ausdehnung oder Verteidigungskraft ist“.

Als der Papst dann auf den wirtschaftlichen Bereich übergeht, erinnert er an die Rechte der Nationen, „ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung zu schützen, da sie nur so das Allgemeinwohl, das materielle und geistige Wohlbefinden des eigenen Volkes auf angemessene Weise erlangen kön­nen“ (Radioansprache vom 24. Dezember 1941: AAS, 34, -17).

Es ist schwer, sich der Überzeugung zu widersetzen, daß die Jahrzehnte nach dem Krieg das von der polnischen Nation so sehr ersehnte Wachstum und den Fortschritt nicht gebracht haben, die für das Vaterland nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges so dringend notwendig gewesen wären, sondern vielmehr eine große sozio-ökonomische Krise und neue Verluste verursacht haben ‑ nicht mehr an den Fronten des bewaffneten Kampfes, sondern an der friedlichen Front des Kampfes für eine bessere Zukunft des Vaterlandes, für den Platz, der ihm unter den Nationen und den Staaten Europas und der Welt zukommt.

5. Ich erlaube mir, noch einmal auf die Worte Papst Pauls VI. zurückzu­kommen. Ich habe schon zweimal bei meinen Besuchen in Polen darauf Be­zug genommen (2. Juni 1979, 17. Juni 1983). Ich wiederhole sie nochmals im gegenwärtigen Zusammenhang. Der Papst sagte: „Ein blühendes und zuversichtliches Polen ist… im Interesse der Ruhe und der guten Zusam­menarbeit zwischen den Völkern Europas“.

Diese Worte sind an die Polen gerichtet. Es hängt sicher und in entschei­dendem Maße von den Polen ab, ob Polen „blühend und zuversichtlich“ sein wird; ob es ein Land vielfältigen Fortschritts sein wird; ob es die Verzö­gerung aufholen wird, nicht nur die wirtschaftliche, die die bittere Frucht des Systems ist, das an der Macht war; ob es fähig sein wird, den Millionen seiner Bürger, besonders den jugendlichen, das Vertrauen in die eigene Zukunft wiederzugeben. All das hängt von den Polen ab.

Aber die Worte Pauls VI. sind auch an ganz Europa gerichtet: an Ost und West.

Keiner kann die Spuren der Verantwortung auslöschen, die in so schreckli­cher Weise auf der Geschichte unserer Nation und der anderen Nationen Europas gelastet hat.

Die gemeinsame Entscheidung vom August 1939, der von den Vertretern des Deutschen Reiches und der Sowjetunion unterzeichnete Vertrag, der Polen und andere Länder zum Tod verurteilte, war kein Ereignis ohne Prä­zedenzfälle. Es wiederholte sich damals, was bereits schon einmal am Ende des 18. Jahr-hunderts in West und Ost von unseren Nachbarn beschlossen worden war und das bis zum Beginn dieses Jahrhunderts programmatisch aufrechterhalten wurde. Um die Mitte unseres Jahrhunderts hat sich diesel­be Entscheidung zu Zerstörung und Vernichtung wiederholt.

Die europäischen Nationen dürfen das nicht vergessen. Besonders auf die­sem Kontinent, der das „Europa der Vaterländer“ genannt worden ist, dür­fen sie die Grundrechte des einzelnen wie der Nationen nicht vergessen!

Man muß ein solches System der Kräfte errichten, daß keine wirtschaftliche oder militärische Oberhoheit ein anderes Land zerstören und seine Rechte mit Füßen treten kann.

6. „Wird die Welt niemals dazu kommen, ihre eigennützige und kriegeri­sche Mentalität zu ändern, die bis jetzt einen so großen Teil ihrer Geschich­te geprägt hat?“ ‑ fragte sich Paul VI. in seiner Rede vor der Organisation der Vereinten Nationen. Und er antwortete: „Es ist schwer vorauszusehen; aber es ist leicht zu bekräftigen, daß man mit Entschlossenheit auf die neue Geschichte, auf die friedliche, die wahrhaft und voll menschliche, auf die, die Gott den Menschen guten Willens verheißen hat, zugehen muß“ (AAS, 57, 1965, 882).

Man kann sagen, daß Europa ‑ trotz allem Anschein ‑ noch nicht von den Wunden geheilt ist, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges geschlagen worden sind. Damit dies geschieht, sind große Anstrengungen und ein star­ker Wille in Ost und West erforderlich; es bedarf einer echten Solidarität. Diese Wünsche für unser Vaterland lege ich am 1. September 1989 in die Hände der Polnischen Bischofskonferenz.

7. An diesem Tag versammeln sich in Europa und in der Welt die gläubigen Gemeinschaften zum Gebet. Wieviele Menschen müssen in dieses Gebet eingeschlossen werden, um ihrer Leiden, ihrer vielfältigen Opfer und besonders ihres Todes zu gedenken!

Da sind nicht nur diejenigen, die Leiden und Tod auf sich nehmen mußten; da sind auch jene, die diese anderen zugefügt haben, jene, die eine große Verantwortung für die Grausamkeiten dieses Krieges haben. Eine Verant­wortung, mit der alle vor das Gericht Gottes treten müssen.

Wieviele Menschen, wieviele Millionen von menschlichen Wesen muß unser Gebet an diesem Tag wirklich umfangen? Können wir sie mit jener „unend­lichen Schar“ vergleichen, die der heilige Johannes in der Offenbarung schaut (vgl. Offb 7, 9)?!

Diese „Vision“ der Offenbarung ist nicht allein dem Gesetz der Zerstörung und des Todes unterworfen. Denn in ihr ist „das Blut des Lammes“ (vgl. Offb 7,14) gegenwärtig. Das Blut, das mit der Macht der Erlösung wirkt, die viel größer ist als irgendeine Macht der Zerstörung und des Bösen in der Geschichte des Menschen auf der Erde.

Im Gebet versammelt an dem Tag, der uns an den 50. Jahrestag der großen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges erinnert, hören wir darum nicht auf, an die von Gott inspirierten Worte zu denken: „Seht, neu mache ich alles“ (Offb 21, 5).

Mit diesen Worten erinnert Christus die immer neuen Generationen an die Wahrheit seines heilschaffenden Ostern.

Diese Gedanken, dieses Gebet und eine lebendige Hoffnung lege ich in die mütterlichen Hände der Königin Polens von Jasna Gora, in der Gott uns eine „wunderbare Hilfe und Schutz“ geschenkt hat.

Aus dem Vatikan, am 26. August 1989, dem Fest der Seligen Jungfrau Ma­ria von Tschenstochau.