Ansprachen beim Weltgebetstag der Religionen für den Frieden am 27. Oktober 1986 in Assisi
JOHANNES PAUL II.
Ansprache zu Beginn des Weltgebetstags
in der Basilika Santa Maria degli Angeli
Meine Brüder und Schwestern,
Führer und Vertreter der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der Weltreligionen, liebe Freunde!
1. Ich habe die Ehre und Freude, Sie alle zu unserem Weltgebetstag in dieser Stadt Assisi willkommen zu heißen. Lassen Sie mich damit beginnen, Ihnen von Grund meines Herzens für die Offenheit und den guten Willen zu danken, mit denen Sie meine Einladung zum Gebet in Assisi angenommen haben. Als religiöse Führer sind Sie nicht für eine interreligiöse Friedenskonferenz hierher gekommen, bei der der Akzent auf der Diskussion und der Suche nach Aktionsplänen auf Weltebene zugunsten einer gemeinsamen Sache liegen würde. Die Zusammenkunft von so vielen religiösen Führern, um zu beten, ist in sich selbst heute eine Einladung an die Welt, sich dessen bewußt zu werden, daß es noch eine andere Dimension des Friedens und einen anderen Weg der Friedensförderung gibt, die nicht das Ergebnis von Verhandlungen, von politischen Kompromissen oder wirtschaftlichen Verträgen ist. Sie ist das Ergebnis von Gebet, das in der Verschiedenheit der Religionen eine Beziehung mit der höchsten Macht ausdrückt, welche unsere menschlichen Fähigkeiten allein übersteigt. Wir kommen von weither, nicht nur, wie viele von uns, wegen der geographischen Entfernungen, sondern vor allem wegen unserer jeweiligen historischen und geistigen Ursprünge.
2. Die Tatsache, daß wir hierher gekommen sind, beinhaltet nicht die Absicht, unter uns selbst einen religiösen Konsens zu suchen oder über unsere religiösen Überzeugungen zu verhandeln. Es bedeutet weder, daß die Religionen auf der Ebene einer gemeinsamen Verpflichtung gegenüber einem irdischen Projekt, das sie alle übersteigen würde, miteinander versöhnt werden könnten, noch ist es eine Konzession an einen Relativismus in religiösen Glaubenshaltungen, weil jedes menschliche Wesen ehrlich seinem rechtschaffenen Gewissen folgen muß mit der Absicht, die Wahrheit zu suchen und ihr zu gehorchen. Unsere Begegnung bezeugt nur – und das ist ihre wirkliche Bedeutung für die Menschen unserer Zeit –, daß die Menschheit in dem großen Kampf für den Frieden, gerade in ihrer Verschiedenheit, aus ihren tiefsten und lebendigsten Quellen schöpfen muß, von wo ihr Gewissen geformt wird und auf dem das sittliche Handeln der Menschen gründet.
3. Ich betrachte die heutige Versammlung als ein sehr bedeutsames Zeichen für die Verpflichtung, mit der Sie alle sich der Sache des Friedens verbunden fühlen. Diese Verpflichtung ist es, die uns nach Assisi geführt hat. Die Tatsache, daß wir einen verschiedenen Glauben bekennen, schmälert nicht die Bedeutung dieses Tages. Im Gegenteil, die Kirchen, die kirchlichen Gemeinschaften und Weltreligionen zeigen, daß sie sich sehr um das Wohl der Menschheit bemühen. Der Friede ist, wo es ihn gibt, äußerst zerbrechlich. Er ist auf so vielfältige Weise bedroht und mit so unvorhersehbaren Folgen, daß wir uns darum bemühen müssen, ihn auf sichere Fundamente zu gründen. Ohne daß wir auf irgendeine Weise die Notwendigkeit von menschlichen Mitteln leugnen, die den Frieden erhalten und festigen, sind wir hier, weil wir uns dessen gewiß sind, daß wir über solche Maßnahmen hinaus das Gebet benötigen, das inständige, demütige und vertrauensvolle Gebet, wenn die Welt schließlich ein Ort wahren und dauerhaften Friedens werden soll. Deshalb ist dieser Tag ein Tag, der dem Gebet und all dem gewidmet ist, was mit dem Gebet zusammengeht: Stille, Wallfahren und Fasten. Indem wir uns der Speise enthalten, werden wir uns um so mehr dessen bewußt werden, daß wir ganz allgemein der Buße und der inneren Umwandlung bedürfen.
4. Die Religionen sind zahlreich und mannigfaltig. Sie spiegeln den Wunsch von Männern und Frauen durch die Jahrhunderte hindurch wider, mit dem absoluten Sein in Beziehung zu treten. Das Gebet verlangt die Bekehrung des Herzens unsererseits. Es bedeutet eine Vertiefung unseres Gespürs für die letzte Wirklichkeit. Das ist der eigentliche Grund für unser Zusammenkommen an diesem Ort. Wir werden von hier aus zu unseren getrennten Gebetsorten gehen. Jede Religion wird die Zeit und Gelegenheit haben, sich in ihrem eigenen traditionellen Ritus auszudrücken. Darauf werden wir uns von diesen getrennten Gebetsorten schweigend zum unteren Platz der Franziskusbasilika begeben. Auf dem Platz versammelt, wird wiederum jede Religion ihr eigenes Gebet vortragen können, eine nach der anderen. Nachdem wir so getrennt gebetet haben, werden wir in Stille unsere eigene Verantwortung für das Werk des Friedens betrachten. Dann werden wir symbolisch unsere Verpflichtung für den Frieden erklären. Am Ende des Tages werde ich schließlich auszudrücken versuchen, was diese einzigartige Feier meinem Herzen gesagt hat, als einem, der an Jesus Christus glaubt und der der erste Diener der katholischen Kirche ist.
5. Ich möchte Ihnen noch einmal meinen Dank dafür bekunden, daß Sie zum Gebet nach Assisi gekommen sind. Ich danke ebenso allen einzelnen Personen und den religiösen Gemeinschaften, die sich mit unserem Gebet verbunden haben. Ich habe diese Stadt Assisi als Ort für unseren Gebetstag für den Frieden gewählt, weil sie von besonderer Bedeutung ist wegen des heiligen Mannes, der nun hier verehrt – des hl. Franziskus – und der von so vielen in der Welt gekannt und geehrt wird als ein Symbol für Frieden, Versöhnung und Brüderlichkeit. Inspiriert durch sein Beispiel, seine Sanftmut und Demut, laßt uns in wirklicher innerer Stille unsere Herzen für das Gebet bereiten. Laßt uns diesen Tag zu einer Vorwegnahme einer friedvollen Welt machen. Möge der Friede auf uns herabkommen und unsere Herzen erfüllen!
Ansprache zum Abschluß des Weltgebetstags
vor der Franziskus-Basilika
Meine Brüder und Schwestern, Führer und Vertreter der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der Weltreligionen, liebe Freunde!
1. Am Ende dieses Weltgebetstages für den Frieden, zu dem Sie meine Einladung angenommen und aus vielen Erdteilen hierhergekommen sind, möchte ich nun meinen Empfindungen Ausdruck geben als Bruder und Freund, aber auch als einer, der an Jesus Christus und an die katholische Kirche glaubt und der erste Zeuge des Glaubens an ihn ist. In bezug auf das letzte, das christliche Gebet in der Serie, die wir alle gehört haben, bekenne ich hier erneut meine Überzeugung, die von allen Christen geteilt wir, daß in Jesus Christus, als dem Erlöser aller, wahrer Friede gefunden wird, Friede den Fernen und Friede den Nahen (vgl. Eph 2,17). Seine Geburt wurde vom Gesang der Engel begrüßt: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,14). Er hat Liebe zu allen, sogar zu den Feinden, gepredigt, seliggepriesen diejenigen, die Frieden stiften (vgl. Mt 5,9) und hat durch seinen Tod und seine Auferstehung Himmel und Erde miteinander versöhnt (vgl. Kol 1,20): Um einen Ausdruck des Apostels Paulus zu benutzen: „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14).
2. Es ist in der Tat meine Glaubensüberzeugung, die mich euch, den Vertretern der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und Weltreligionen, in tiefer Liebe und Achtung zugewandt hat. Mit den anderen Christen teilen wir viele Überzeugungen und besonders, was den Frieden betrifft. Mit den Weltreligionen teilen wir eine gemeinsame Achtung des Gewissens und Gehorsam ihm gegenüber, das uns alle lehrt, die Wahrheit zu suchen, die einzelnen und die Völker zu lieben und ihnen zu dienen, und deshalb unter den einzelnen Menschen und unter den Nationen Frieden zu stiften. Ja, wir alle halten das Gewissen und den Gehorsam gegenüber der Stimme des Gewissens für ein wesentliches Element auf dem Weg zu einer besseren und friedvolleren Welt. Könnte es anders sein, da doch alle Männer und Frauen in dieser Welt eine gemeinsame Natur, einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames Schicksal haben? Wenn es auch zwischen uns viele und bedeutsame Unterschiede gibt, so gibt es doch auch einen gemeinsamen Grund, von wo her es zusammenzuarbeiten gilt für die Lösung dieser dramatischen Herausforderung unserer Zeit: wahrer Friede oder katastrophaler Krieg.
3. Ja, es gibt die Dimension des Gebetes, die sogar in der tatsächlichen Verschiedenheit der Religionen eine Verbindung mit einer Macht über allen menschlichen Kräften auszudrücken versucht. Der Friede hängt grundlegend von dieser Macht ab, die wir Gott nennen und die, wie die Christen glauben, sich selbst in Christus geoffenbart hat.
Dies ist der Sinn dieses Weltgebetstages. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir, christliche Kirchen und kirchliche Gemeinschaften und Weltreligionen, von überallher zusammengekommen an diesem heiligen, dem hl. Franziskus geweihten Ort, um vor der Welt jeder entsprechend seiner eigenen Überzeugung vom transzendenten Wert des Friedens Zeugnis zu geben. Die Form und der Inhalt unserer Gebete sind sehr verschieden, wie wir gesehen haben, und es kann keine Frage sein, sie auf eine Art gemeinsamen Nenner zu reduzieren.
4. Dennoch haben wir in dieser tatsächlichen Verschiedenheit vielleicht neu entdeckt, daß es hinsichtlich des Friedensproblems und seiner Beziehung zur religiösen Verpflichtung etwas gibt, was uns miteinander verbindet. Die Herausforderung des Friedens, wie sie sich gegenwärtig jedem menschlichen Gewissen stellt, ist verbunden mit dem Problem einer angemessenen Lebensqualität für alle, mit dem Problem des Überlebens für die Menschheit, mit dem Problem von Leben und Tod. Angesichts eines solchen Problems scheinen zwei Dinge eine höchste Wichtigkeit zu haben, und beide von ihnen sind uns allen gemeinsam. Das erste ist der innere Imperativ des moralischen Gewissens, das uns einschärft, menschliches Leben zu achten, zu schützen und zu fördern vom Mutterleib bis zum Totenbett, für einzelne Menschen und Völker, besonders aber für den Schwachen, den Notleidenden, den Verlassenen: der Imperativ, Selbstsucht, Gier und den Geist der Rache zu überwinden. Die zweite Gemeinsamkeit ist die Überzeugung, daß der Friede die menschlichen Kräfte weit übersteigt, besonders in der gegenwärtigen Lage der Welt, und deshalb seine Quelle und Verwirklichung in jener Wirklichkeit zu suchen ist, die über uns allen ist. Das ist der Grund, warum jeder von uns um Frieden betet. Sogar wenn wir denken, wie wir es auch tatsächlich tun, daß die Beziehung zwischen jener Wirklichkeit und dem Geschenk des Friedens entsprechend jeweiligen religiösen Überzeugung verschieden ist, so bejahen wir doch alle, daß es solch eine Beziehung gibt. Das ist es, was wir ausdrücken, wenn wir darum beten. Ich wiederhole demütig hier meine eigene Überzeugung: Friede trägt den Namen Jesu Christi.
5. Aber zur selben Zeit und im selben Atemzug bin ich bereit anzuerkennen, daß Katholiken nicht immer treu zu dieser Glaubensaussage gestanden haben. Wir sind nicht immer „Friedensstifter“ gewesen. Deshalb ist für uns selbst, aber vielleicht auch in einem gewissen Sinn für alle diese Begegnung in Assisi ein Akt der Buße. Wir haben gebetet, jeder auf seine Weise, wir haben gefastet, wir sind zusammen gepilgert. Auf diese Weise haben wir versucht, unsere Herzen der göttlichen Wirklichkeit über uns und auf unsere Mitmenschen hin zu öffnen. Ja, weil wir gefastet haben, haben wir die Leiden vor Augen, die unsinnige Kriege verursacht haben und noch immer für die Menschheit verursachen. Dadurch haben wir versucht, geistig den Millionen nahe zu sein, die die Opfer von Hunger in aller Welt sind. Während wir schweigend einhergeschritten sind, haben wir über den Weg nachgedacht, den unsere Menschenfamilie geht: entweder in Feindschaft, wenn wir es verfehlen, uns einander in Liebe anzunehmen; oder als eine gemeinsame Wanderung zu unserem erhabenen Ziel, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die anderen unsere Brüder und Schwestern sind. Die Tatsache selbst, daß wir von den verschiedenen Erdteilen nach Assisi gekommen sind, ist in sich ein Zeichen für diesen gemeinsamen Weg, den zu beschreiten die Menschheit berufen ist. Entweder lernen wir, in Frieden und Harmonie miteinander zu gehen, oder wir werden vom Wege abgetrieben und zerstören uns selbst und die anderen. Wir hoffen, daß die Pilgerreise nach Assisi uns erneut gelehrt hat, uns des gemeinsamen Ursprungs und des gemeinsamen Schicksals der Menschheit
bewußt zu werden. Laßt uns darin eine Vorwegnahme dessen sehen, was Gott von der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit gern verwirklicht sehen möchte: eine brüderliche Wanderung, auf der wir uns gegenseitig begleiten zum transzendenten Ziel, das er uns gesetzt hat. Gebet, Fasten, Wallfahrt.
6. Dieser Tag in Assisi hat uns geholfen, uns unserer religiösen Verpflichtung mehr bewußt zu werden. Er hat aber auch die Welt, die durch die Medien auf uns geschaut hat, der Verantwortung jeder Religion für das Problem von Krieg und Frieden bewußter gemacht. Mehr vielleicht als je zuvor in der Geschichte ist die innere Verbindung zwischen einer aufrichtigen religiösen Haltung und dem großen Gut des Friedens allen deutlich geworden. Was für eine furchtbare Last für menschliche Schultern zu tragen! Aber gleichzeitig was für ein wunderbarer, erfreulicher Ruf zu folgen! Wenn auch das Gebet in sich selbst schon Aktion ist, so entschuldigt uns dies jedoch keineswegs davon, auch für den Frieden zu arbeiten. Hier handeln wir als die Herolde des moralischen Bewußtseins der Menschheit als solcher, der Menschheit, die Frieden wünscht, die des Friedens bedarf.
7. Es gibt keinen Frieden ohne eine leidenschaftliche Liebe für den Frieden. Es gibt keinen Frieden ohne eine unnachgiebige Entschlossenheit, den Frieden auch zu erlangen. Der Friede wartet auf seine Propheten. Wir haben gemeinsam unsere Augen mit Friedensvisionen gefüllt: sie setzen Kräfte frei für eine neue Sprache des Friedens, für neue Gesten des Friedens, Gesten, welche die verhängnisvollen Ketten der Entzweiungen zerbrechen, die von der Geschichte ererbt oder durch moderne Ideologien geschmiedet worden sind. Der Friede wartet auf seine Erbauer. Laßt uns unsere Hände unseren Brüdern und Schwestern entgegenstrecken, sie ermutigen, Friede auf den vier Säulen der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens zu errichten (vgl. Pacem in terris). Der Friede ist eine Werkstatt, die allen offensteht, nicht nur Fachleuten, Gebildeten und Strategen. Der Friede ist eine universale Verantwortung: er verwirklicht sich durch tausende kleiner Handlungen im täglichen Leben. Durch die Art ihres täglichen Zusammenlebens mit anderen entscheiden sich die Menschen für oder gegen den Frieden. Wir vertrauen die Sache des Friedens besonders der Jugend an. Mögen die jungen Menschen helfen, den Lauf der Geschichte von den falschen Pfaden zu befreien, auf denen sich die Menschheit verirrt. Der Friede liegt nicht nur in den Händen von einzelnen Personen, sondern von ganzen Nationen. Die Nationen sind es, die die Ehre haben, ihr friedensstiftendes
Handeln auf der Überzeugung von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der Anerkennung der unbesteitbaren Gleichheit der Menschen untereinander zu gründen. Eindringlich laden wir die Führer der Nationen und der internationalen Organisationen ein, sich unermüdlich um Dialog zu bemühen und ihn dort zu fördern, wo immer der Friede bedroht oder bereits kompromittiert ist. Wir bieten ihren oft anstrengenden Bemühungen, den Frieden zu erhalten oder wiederherzustellen, unsere Unterstützung an. Wir ermutigen erneut die Organisation der Vereinten Nationen, ihrer universalen Friedenssendung in all ihrer Weite und Größe voll zu entsprechen.
8. Als Antwort auf den Aufruf, den ich von Lyon in Frankreich an dem Tag gemacht habe, an dem wir Katholiken das Fest des hl. Franziskus feiern, hoffen wir, daß die Waffen schweigen und die Kämpfe aufgehört haben. Dies würde ein erstes bedeutsames Ergebnis der geistigen Wirksamkeit des Gebetes sein. Dieser Aufruf wurde in der Tat von vielen Herzen und Lippen überall in der Welt geteilt, besonders dort, wo Menschen unter dem Krieg und seinen Folgen leiden. Es ist lebenswichtig, den Frieden und die Mittel zu wählen, um ihn zu erhalten. Der Friede, der von so anfälliger Gesundheit ist, erfordert ständige und intensive Pflege. Auf diesem Pfad sollten wir sicheren und schnelleren Schrittes voranschreiten, denn zweifellos haben die Menschen niemals zuvor so viele Mittel wie heute gehabt, den wahren Frieden zu erbauen. Die Menschheit ist in eine Ära erhöhter Solidarität und größeren Hungers nach sozialer Gerechtigkeit eingetreten. Darin liegt unsere Chance. Es ist auch unsere Aufgabe, die das Gebet uns zu meistern hilft.
9. Was wir heute in Assisi getan haben, indem wir gebetet und für unser Engagement für den Frieden Zeugnis abgelegt haben, müssen wir jeden Tag unseres Lebens fortsetzen. Denn das, was wir heute getan haben, ist lebenswichtig für die Welt. Wenn die Welt weiterbesteht und Männer und Frauen in ihr überleben sollen, kann ihr das nicht ohne Gebet gelingen. Das ist die ständige Lehre von Assisi: es ist die Lehre des hl. Franziskus, der für uns ein anziehendes Ideal verkörpert; es ist die Lehre der hl. Klara, seiner ersten Schülerin. Es ist ein Ideal, das sich aus Sanftmut, Demut, einem tiefen Gefühl der Nähe Gottes und der Bereitschaft allen zu dienen, zusammensetzt.
Der hl. Franziskus war ein Mann des Friedens. Wir erinnern uns, daß er die militärische Karriere, welche er eine Zeitlang in seiner Jugend verfolgt hatte, aufgegeben und den Wert der Armut entdeckt hat, den Wert eines einfachen und strengen Lebens in der Nachfolge Jesu Christi, dem er dienen wollte. Die hl. Klara war die Frau des Gebetes par excellence. Ihre Vereinigung mit Gott im Gebet unterstützte Franziskus und seine Anhänger, wie es uns heute unterstützt. Franziskus und Klara sind Beispiele des Friedens: mit Gott, mit sich selbst, mit allen Männern und Frauen in dieser Welt. Mögen dieser heilige Mann und diese heilige Frau heute alle Menschen inspirieren, die gleiche Charakterstärke und Liebe zu Gott und zum Nächsten zu haben, um auf dem Weg weiterzuschreiten, den wir zusammen gehen müssen.
10. Bewegt vom Beispiel des hl. Franziskus und der hl. Klara, den wahren Jüngern Christi, und erneut überzeugt von der Erfahrung dieses Tages, den wir zusammen verlebt haben, sind wir bereit, unser Gewissen zu überprüfen, seine Stimme treuer zu hören, unseren Geist von Vorurteil, Ärger, Feindschaft, Eifersucht und Neid zu reinigen. Wir wollen danach trachten, Friedensstifter im Denken und Tun zu sein, mit Geist und Herz auf die Einheit der menschlichen Familie ausgerichtet. Und wir fordern all unsere Brüder und Schwestern, die uns hören, auf, dasselbe zu tun. Wir tun dies mit dem Gefühl unserer eigenen menschlichen Begrenzungen und im Bewußtsein, daß wir aus uns allein heraus scheitern werden. Deshalb betonen wir und erkennen wir, daß unser künftiges Leben und der Friede immer von Gottes Geschenk an uns abhängen. In diesem Geist bitten wir die Führer der Welt davon Kenntnis zu nehmen, daß wir Gott demütig um Frieden anflehen. Aber wir bitten sie auch, ihre Verantwortungen zu erkennen, sich selbst der Aufgabe des Friedens ganz zu widmen, Strategien des Friedens mit Mut und Weitblick zu verwirklichen.
11. Laßt mich nun zu einem jeden von euch zurückkommen, den Vertretern der christlichen Kirchen, kirchlichen Gemeinschaften und Weltreligionen, die ihr zu diesem Gebetstag nach Assisi gekommen seid, fastend und pilgernd. Ich danke euch noch einmal, daß ihr meine Einladung angenommen habt, zu diesem Zeugnisakt vor der Welt hierher zu kommen. Ich danke auch all jenen, die unsere Anwesenheit hier ermöglicht haben, besonders unseren Brüdern und Schwestern in Assisi. Vor allem aber danke ich Gott dem Vater Jesu Christi, für diesen Tag der Gnade für die Welt, für jeden von euch und für mich selbst. Ich tue dies unter Anrufung der Jungfrau Maria, der „Königin des Friedens“. Ich tue dies mit den Worten, die dem hl. Franziskus zugeschrieben werden:
„Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
daß ich liebe, wo man haßt;
daß ich verzeihe, wo man beleidigt;
daß ich verbinde, wo Streit ist;
daß ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
daß ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
daß ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
daß ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
daß ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt!
Herr, laß mich trachten, nicht daß ich getröstet werde, sondern daß ich tröste;
nicht, daß ich verstanden werde, sondern daß ich verstehe;
nicht, daß ich geliebt werde, sondern daß ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergißt, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwachet zum ewigen Leben.“