Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs

Arbeitspapier des Gesprächskreises „Juden und Christen“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) vom 8. Mai 1979

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Vorwort
Dieses vom Gesprächskreis des Zentralkomitees der der deutschen Katholiken „Juden und Christen“ erarbeitete theologische Dokument setzt einen Meilenstein auf dem Weg jüdisch-christlichen Dialogs. Hier haben Juden und Christen miteinander so gesprochen, daß aus ihrem Eigenen das Gespräch über dieses Eigene als unabdingbar hinzugehörig zum Eigenen hervortritt. In solcher Bemühung hat der Dialog sein Was und sein Wie gefunden. Nicht nur Berührung an den Rändern, sondern Berührung von Mitte zu Mitte. Nicht nur Aufarbeitung der ungeheuerlichen geschichtlichen Last, die auf dem gegenwärtigen Verhältnis liegt, nicht nur Rückweg zur gemeinsamen Wurzel und der Weise, wie aus ihr vor Jahrtausenden gemeinsames Erbe wuchs, nicht nur Zugehen auf gemeinsame Aufgaben, wobei aber die unterschiedliche Motivierung und der unterschiedliche Glaubenshintergrund auf sich beruhen blieben.

Nein, gegenwärtiges, aus seinem Ursprung lebendes, die eigene Substanz ganz und gar an-und ernstnehmendes Judentum und Christentum stoßen vor in die Gleichzeitigkeit des Gesprächs über das, was den Juden zum Juden und den Christen zum Christen macht. Und solches Gespräch ist, ohne Verwischungen und Umgehungen der Unterschiede, gerade um des eigenen Judeseins und Christseins willen notwendig – und möglich. Eine Entdeckung, die der Umsetzung bedarf aus dem Zirkel der Eingeweihten in den Alltag der Glaubenden, in die Mitte unserer Welt. Aber auch solche Umsetzung hat mit dem Dokument schon begonnen.

Aachen, 24. April 1979

Bischof Klaus Hemmerle Geistlicher Assistent des ZdK


I. Warum das Gespräch suchen?
1. Juden und Christen haben einen gemeinsamen Grund ihrer Hoffnung: den sich der Menschheit gnädig zuwendenden Gott Israels. Gemeinsam erwarten sie die volle Erfüllung ihrer Hoffnung: die endgültige Herrschaft Gottes.

Juden und Christen sind durch das, was ihnen von Gott her widerfahren ist, und sie sind von der Welt, in der sie leben, zu einem gemeinsamen Zeugnis herausgefordert. Nicht nur ihnen, so glauben sie, sondern allen Völkern gilt der einladende Ruf, im Jerusalem des lebendigmachenden Gottes Leben, Heimat und Frieden zu finden (vgl. Jes 2,1-5; Jes 60). Indem sie sich selbst auf den Weg machen zu diesem Jerusalem als der Stätte von Gerechtigkeit und Treue (vgl. Jes 1,26), erfahren sie die Verpflichtung, allen Menschen die befreiende Kraft ihrer Bindung an Gott weiterzugeben, der Leben und Zukunft schenken kann und will (vgl. Jer 29,11).
Der Ruf Gottes nimmt sie in Dienst für die Gestaltung der Welt, macht sie zu Wegbereitern von Hoffnung gerade für jene, die keine Hoffnung haben. Dieser Ruf ist zugleich Gericht, indem er sie von jeder Fixierung auf bloß innerweltliche Interessen und Ängste befreit. Dem Ruf Gottes folgend, sollen sie zu ehrlichen und mutigen Sachwaltern der Gerechtigkeit Gottes und zu Fürsprechern seiner Barmherzigkeit werden.

2. Liegt die zu allen Zeiten geltende Verpflichtung zum Gespräch darin, daß Juden und Christen im Handeln des Gottes Israels zusammengebunden sind, so verstärken die leidvollen Erfahrungen der jüngsten Geschichte den Auftrag, dieses Gespräch in unserer Zeit nach Kräften zu intensivieren und zu vertiefen.

– Die vergangenen 1900 Jahre des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum haben sich als Entzweiungsgeschichte vollzogen, deren geschichtliche Folgen furchtbar waren. Im Zusammenhang mit dieser Entzweiungsgeschichte muß auch das schreckliche Geschehen von Auschwitz gesehen werden, der Versuch einer völligen Ausrottung des jüdischen Volkes durch die Hitlerdiktatur.

– Im Judentum wie im Christentum, die ihre Existenz gemeinsam der Offenbarung des Gottes Israels verdanken, erwacht zunehmend ein „geistliches“ Interesse aneinander. Juden und Christen bekennen sich zu der gemeinsamen Offenbarung durch eben dieses Interesse.
Ihr Interesse aneinander ist deshalb selbst ein Akt der Verehrung Gottes.

– Einer Menschheit, deren Überleben in Menschlichkeit auf dem Spiel steht, haben Juden und Christen ein gemeinsames Zeugnis zu geben, das als konkretes Zeugnis konkrete Wege der Gerechtigkeit und des Heiles aufzeigen und bahnen muß.

II. Bedingungen eines Dialogs, der den Juden als Juden und den Christen als Christen betrifft
Weil Juden und Christen einen gemeinsamen Schatz biblischer Schriften als Grundlage ihres Lebens überliefern, hat das Gespräch eine Basis, deren Wert sich nicht überschätzen läßt. Es ist der Glaube an den rettenden und heiligenden Gott, von dessen Nähe zu den Vätern die Tora erzählt und dessen lebensfördernde Weisungen sie verkündet. Es ist das Hören auf den Gott der Lebenden und der Toten, dessen Herrschaft inmitten des Volkes, das nach ihm genannt wird, die Propheten ansagen.

Es ist das Festhalten an dem nahen und fernen Gott, den die Beter der Psalmen rühmen und dessen Treue sie selbst da noch einklagen, wo ihnen alles genommen scheint. Es ist das Vertrauen auf den Schöpfergott, dessen Güte die Sprüche und Betrachtungen der Weisen erinnern. Von all diesem geben Juden und Christen je auf ihre Art in ihren Gottesdiensten und in ihrem Leben Zeugnis. Ab er genau hier zeigt sich auch eine für das jüdisch-christliche Gespräch typische Schwierigkeit: Begründen die gleichen Schriften wirklich eine Gemeinsamkeit des Lebens? Zur Antwort auf diese Frage ist es nötig, einige fundamentale Bedingungen für den jüdisch-christlichen Dialog zu bedenken:

1. Es kann kein Zweifel daran sein, daß Juden und Christen füreinander zunächst einmal sehr viel Arbeit zu leisten haben, um zu einem besseren gegenseitigen Verstehen zu kommen. Die Bilder, die sich Juden von Christen und Christen von Juden im Laufe der Geschichte gemacht haben und noch machen, sollen überprüft und in einer Begegnung korrigiert werden, in der einer dem anderen im Rückgang auf den gemeinsamen Grund und im Lichte der gemeinsamen Hoffnung seinen eigenen Weg deutet. Gerade hier wird der eine nicht darauf warten, daß der andere zu ihm kommt, um ihn zu „studieren“. Er spurt vielmehr die Verpflichtung zur Mitteilung des Eigenen.

Umgekehrt wird er um der gemeinsamen Hoffnung willen eine aktive Bereitschaft zum Hören auf den anderen entwickeln. Indem sie sich einander darstellen, vertrauen und offenlegen, können beide das Zeugnis ablegen, zu dem sie sich von Gott berufen wissen.

2. Ein jüdisch-christlicher Dialog gelingt nicht, wenn der Christ im Judentum von heute lediglich das Denkmal seiner eigenen Vergangenheit, der Zeit Jesu und der Apostel, sieht. Der Dialog gelingt aber auch nicht, wenn der jüdische Gesprächspartner in den jüdischen Wesenselementen christlichen Glaubens nichts anderes entdeckt als die Nachwirkungen eines vergangenen Zustandes, der zwar in den ersten Christengemeinden bestand, aber heute nicht mehr besteht. In beiden Fällen nimmt der eine Gesprächspartner noch nicht des anderen Zeitgenossenschaft ernst, sondern macht ihn zum bloßen Spiegel seiner eigenen Vergangenheit. Zeitgenossenschaft aber ist die Bedingung jeden Dialogs.

Der jüdische Gesprächspartner kann sich nicht damit zufriedengeben, im Gespräch mit Christen nur als ein fortlebendes Zeugnis für das sogenannte Alte Testament und für die Ursprungszeit der christlichen Gemeinden betrachtet zu werden. Umgekehrt kann der christliche Gesprächspartner sich nicht damit zufriedengeben, wenn der jüdische Gesprächspartner glaubt, nur er habe für den Christen etwas für dessen Glauben Wesentliches zu sagen, während das, was der Christ dem Juden zu sagen hat, für den jüdischen Glauben keine wesentliche Bedeutung habe. Aus der ökumenischen Erfahrung des innerchristlichen Gesprächs kann Zuversicht auch für den jüdisch-christlichen Dialog wachsen: Auch dort haben beide Gesprächspartner die Fähigkeit und die Bereitschaft aufzubringen gelernt, das Wort des anderen als Zeugnis zu hören, das den Hörenden in seinem Verhältnis zu Gott angeht.

3. Die Geschichte, die eine heutige Begegnung zwischen Juden und Christen erschwert, kann auch einen Weg zueinander bahnen, wenn sie – und sei es zunächst nur in Teilaspekten – als wirklich gemeinsame Geschichte, die uns aktuell betrifft, erfahren und anerkannt wird.

Wenn der Christ in einem Gebet der Osternacht die „israelitische Würde“ für alle Völker erbittet, kann er dabei nicht vergessen – er kann es höchstens zu seinem eigenen Schaden verdrängen -, daß es jenes Israel bis heute noch gibt, das bis heute Träger der israelitischen Würde geblieben ist. Die christliche Kirche, die sich „Volk Gottes“ nennt, darf nicht vergessen, daß die gegenwärtige Existenz des Judentums Zeugnis dafür ablegt, daß derselbe Gott noch heute in Treue zu jener Erwählung steht, durch die er Israels Gott wurde und Israel zu seinem Volk gemacht hat. Darum versteht der Christ seine eigene Würde und Erwählung nicht angemessen, wenn er die Würde und Erwählung des Judentums von heute nicht zur Kenntnis nimmt und zu verstehen sucht. Dazu aber muß er jüdischen Glauben und jüdische Existenz aus dem Selbstzeugnis seiner jüdischen Gesprächspartner kennenlernen.

Wenn der Jude sich mit Recht „Sohn Abrahams“ nennt, kann er nicht vergessen – er kann es höchstens verdrängen -, daß nicht nur in ferner Vergangenheit die ersten Christen Söhne Abrahams waren, sondern daß auch heute niemand Christ sein kann, ohne sich zu Abraham als dem „Vater der Glaubenden“ zu bekennen. Auch ist sich die jüdische Gemeinschaft der Zusage einer Erneuerung ihres Bundes gewiß, wie geschrieben steht: „Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen“ (Jer 31,31 f). Die jüdische Gemeinschaft darf daher nicht vergessen, daß es die Gemeinschaft der Christen niemals gegeben hätte, wenn diese sich nicht vom selben Gott in seinen „Neuen Bund“ berufen wüßte. Dar um versteht der Jude die Weise, wie Abraham zum „Vater vieler Völker“ (Gen 17) geworden ist, nicht vollständig, wenn er den Glauben des Christen von heute nicht zur Kenntnis nimmt und zu verstehen sucht. Dazu aber muß er christlichen Glauben und christliche Existenz aus dem Selbstzeugnis der Christen kennenlernen.

4. Ist die Bedeutung des Verbindenden in der Geschichte bewußt geworden und anerkannt, dann entsteht die Chance, daß beide Partner des Gesprächs sich in eine Verantwortung füreinander rufen lassen: Jeder wird für den anderen zum Zeugen derjenigen Großtaten Gottes, auf denen es beruht, daß er selbst als Jude bzw. als Christ in der Gegenwart lebt. Leben aus dem Glauben, Leben aus der Mitte der Existenz, christliches wie jüdisches Leben lebt aus dem Zeugnis. Und überall, wo das Leben einer Gemeinschaft zum Zeugnis für Gottes Heilstat wird, ist dieses Zeugnis für den anderen Glaubenden, der aus den gleichen Heilstaten Gottes lebt, kostbar, ja unersetzlich. Glaubende, die aus dem gleichen Ursprung leben, werden aneinander schuldig, wenn sie nicht füreinander dieses Zeugnis geben.

III. Zentrale Themen des Dialogs
1. Weggemeinschaft von Juden und Christen
Das gemeinsame Ziel der Heilsherrschaft Gottes läßt Juden und Christen miteinander von Glauben zu Glauben sprechen. Beide wissen sich von Gott angerufen, beide wollen der ihnen aus Gottes gnädiger Erwählung geschenkten Erkenntnis des Gotteswillens die Antwort der Liebe aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele, aus ihrem ganzen Denken und ihrer ganzen Kraft geben. Solche Übereinstimmung ist für das gemeinsame Handeln in der Welt wichtig. Wichtig ist es aber auch, nicht nur die Tatsache von Übereinstimmung, sondern auch das Maß der Übereinstimmung abzuwägen. Dies um so mehr, als gerade dort, wo uns zutiefst ein Konsens verbindet, auch die Wurzel des Dissenses liegt.

Für den Christen ist das Ziel der Heilsherrschaft Gottes, die Israels Bibel verheißt, vermittelt durch den Juden Jesus. Hier bereits zeigt sich die nicht nur trennende, sondern auch verbindende Funktion Jesu: Durch den Juden Jesus wirkt im Christentum die Tora weiter. Durch ihn ist sie als Gottes Verheißung und Gebot den Christen zur Verwirklichung aufgegeben. Der Jude dagegen muß nicht erst Jesus kennenlernen, um die Tora zu lieben, er bringt diese Liebe als Jude mit. Freilich kann ein Gespräch zwischen Juden und Christen erst dann ernsthaft geführt werden, wenn auch der jüdische Partner davon ausgeht, daß im Christentum etwas von Gott her geschehen ist, was ihn „um Gottes willen“ angeht, auch wenn er darin keinen Weg sieht, den er selber gehen kann und muß. Christen fragen deshalb, ob die lebendige Gegenwart jüdischer Wesenselemente im christlichen Gottesdienst, in der christlichen Verkündigung, im christlichen Verständnis der Schrift und in der christlichen Theologie nicht ein Interesse des Juden an christlichem Glauben und Leben möglich macht, das über distanziertes Kenntnisnehmen hinausgeht.

Umgekehrt müssen Christen den Juden zubilligen, daß deren Interesse am Christentum ein Interesse “ um des Himmelreiches willen“ sein kann, auch wenn es nicht dazu führt, daß Juden Christen werden. Eine Möglichkeit zum Verständnis jüdischen Interesses am Christentum hat der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig (1886-1929) in dem Satz ausgesprochen: „Ob Jesus der Messias war, wird sich zeigen, wenn der Messias kommt“. Eine solche mehrdeutige Formel bedeutet freilich nicht, Juden und Christen dürften das Gespräch über die Hoffnung, die sie eint, und über die Frage nach dem Messias, die sie trennt, „bis zum Jüngsten Tag“ zurückstellen.

Im gegenseitigen Sich-Befragen kann sich also durchaus ein Stück Anerkennung der Heilsbedeutung des anderen Weges aussprechen. Juden können anerkennen, daß Jesus für die Christen zum Weg geworden ist, um Israels Gott zu finden. Sie werden aber ihre Wertschätzung des christlichen Weges davon abhängig machen, daß der Glaube der Christen, das Heil werde ihnen durch den aus den Juden kommenden Messias Gottes geschenkt, ihre Verpflichtung zum Handeln im Dienst von Gerechtigkeit und Frieden nicht mindert, sondern einlöst. Christen verstehen Jesus als Erfüllung von Gesetz und Verheißung nur dann, wenn sie ihm „um des Himmelreiches willen“ nachfolgen und dabei auf sein Wort hören: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21).

Die gegenseitige Wertschätzung des je anderen Weges geht also untrennbar ineins mit erheblichen Divergenzen in der Einstellung zu Jesus, ob er der Messias Gottes sei. Dies nötigt aber weder Juden noch Christen, die fundamentale inhaltliche Klammer des einen rufenden Gotteswillens aufzulösen. Von daher ist es Juden und Christen grundsätzlich verwehrt, den anderen zur Untreue gegenüber dem an ihn ergangenen Ruf Gottes bewegen zu wollen. Dies verbietet sich nicht etwa aus taktischen Erwägungen. Auch Gründe humaner Toleranz sowie die Achtung der Religionsfreiheit sind dafür nicht allein ausschlaggebend. Der tiefste Grund liegt vielmehr darin, daß es derselbe Gott ist, von dem Juden und Christen sich berufen wissen. Christen können aus ihrem eigenen Glaubensverständnis nicht darauf verzichten, auch Juden gegenüber Jesus als den Christus zu bezeugen. Juden können aus ihrem Selbstverständnis nicht darauf verzichten, auch Christen gegen über die Unüberholbarkeit der Tora zu betonen. Das schließt jeweils die Hoffnung ein: Durch dieses Zeugnis könne beim anderen die Treue zu dem an ihn ergangenen Ruf Gottes wachsen und das gegenseitige Verstehen vertieft werden. Hingegen soll nicht die Erwartung eingeschlossen sein: Der andere möge das Ja zu seiner Berufung zurücknehmen oder abschwächen.

Die Christen glauben, daß der in der Schrift verheißene Messias in Jesus gekommen ist. Es ist die Nähe von Israels Gott, der ihnen Jesus als Bruder vertraut machte und zugleich Jesu Liebe als Zuwendung Gottes selbst erfahren ließ. Deshalb scheint es ihnen zuwenig, ihn nur als leuchtendes Beispiel vor Augen zu haben. Vielmehr erfassen sie sein Leben, Sterben und Wiederkommen als Weg, auf dem Gott alle zum Heil führen will.

Daß Jesu Liebe für alle Raum bietet, sehen sie darin bestätigt, daß Gott ihn erhöht und damit als Lebenden zurückgeschenkt hat. Was an ihm gegenüber dem Bisherigen und allem Menschlichen anders ist, liegt also nicht auf der Linie einer bloß quantitativen Steigerung. Gerade mit der Auffassung einer bloß gesteigerten Menschlichkeit bei Jesus käme es auch leicht zu der fatalen Gegenüberstellung: Die Christen sind eben doch die besseren Israeliten. Eine Christologie, die in Jesus den menschgewordenen Gottessohn bekennt, bedarf dieser Art des Abmessens nicht. Sie hat, vielleicht erst nach eigenen leidvollen Erfahrungen, die Möglichkeit, die Gemeinschaft mit Jesus im freien Ja des Glaubens an ihn zwar als Ziel zu sehen, aber auch zu wissen, daß es für alle, die Gott ergriffen hat, die Möglichkeit einer offenen und wachsenden Weggemeinschaft gibt. So könnten Christen dem zuvor genannten Wort Rosenzweigs einen akzeptablen Sinn geben.
Die Frage der Juden, ob mit dem Bekenntnis zum menschgewordenen Gottessohn nicht die strenge Verpflichtung auf den einzigen Gott Israels (vgl. Dtn 6,4-9) preisgegeben wird, beantworten die Christen mit ihrer Glaubensüberzeugung, daß es gerade Jesus Christus ist, der ihnen den einzigen Gott Israels vermittelt und darstellt. Die in Christus geschehene Menschwerdung Gottes ist für den Christen keineswegs eine Absage an die Einzigkeit Gottes, sondern eine Bestätigung derselben. Menschwerdung Gottes hat vielmehr zur Voraussetzung, daß der einzige Gott Israels kein isolierter, beziehungsloser, sondern ein den Menschen zugewandter, vom menschlichen Schicksal mitbetroffener Gott ist. Diese Charakteristik Gottes wird nach dem Zeugnis der Talmude und Midraschim auch – allerdings ohne Verbindung und ohne Zusammenhang mit Jesus Christus – vom rabbinischen Judentum geteilt. Auch das rabbinische Judentum weiß selbstverständlich, daß der einzige Gott Israels nicht nur in der Transzendenz „weilt“, sondern auch mitten unter seinem in Not und Verfolgung hineingeratenen Volk: als Herr, Vater, Gefährte und Erlöser.

Das christlich-jüdische Gespräch über den lebendigen Gott Israels ist daher ein großes Hoffnungszeichen.

2. Der gemeinsame Auftrag
Trotz des nicht verschwiegenen Dissenses im Konsens verbindet Juden und Christen der Auftrag zum gemeinsamen Handeln und Zeugnis-Geben in der Welt. Wesentliche Aufgaben, denen sie sich um der Zukunft willen gemeinsam stellen müssen, sind beispielsweise:

– Wie ist es angesichts des geschehenen Massenmordes an Juden und der versuchten Ausrottung des jüdischen Volkes noch möglich, an Gott zu glauben? Wie ist es möglich, Schuld und Leid vor Gott zu tragen, statt sie zu verdrängen oder zu fixieren? Welche Bedeutung hat die systematische Vernichtung großer Teile des europäischen Judentums und welche Bedeutung hat die Gründung des Staates Israel für Juden und Christen und für ihre Begegnung miteinander?
Wie ist es angesichts der Gründung des Staates Israel als eines zentralen Ereignisses der neueren jüdischen Geschichte möglich, die jahrtausendealte Hoffnung auf Gottes Heil mit konkret politischem Handeln in der Gegenwart zu verknüpfen, ohne einer religiös begründeten Ideologisierung der Politik oder einer Politisierung des Glaubens das Wort zu reden?

– Was bedeutet es angesichts einer nach wie vor polytheistischen Welt (Götter haben heute nur andere Namen), daß Juden und Christen an einen Gott glauben? Können und müssen nicht Christen und Juden in einer Welt, deren Kriege im wesentlichen immer noch Religionskriege sind (was leicht plausibel wird, wenn man an die Stelle von Religion das Wort „Ideologie“ setzt), aufgrund ihrer Offenbarung gemeinsam eine Ideologiekritik entwickeln?

– Haben nicht Juden und Christen gemeinsam die Verpflichtung, angesichts der Weltverhältnisse, die das Überleben der Menschheit bedrohen, zu zeigen und in Modellen vorzuleben, was biblisch verstanden Gerechtigkeit und Freiheit ist?

– Zu den Grundforderungen der den Juden und Christen gemeinsamen biblischen Offenbarung gehört die unbedingte Achtung vor dem Leben des anderen. Es sollte gemeinsam von ihnen präzisiert werden, was hieraus heute für die Wahrung von Menschenwürde und Menschenrechten folgt. Insbesondere wäre z.B. gemeinsam eine Ethik der Wissenschaften, der Technik, der Zukunftssorge zu entwickeln – auch die Menschen nach dem Jahr 2000 sind unsere Nächsten.

– Welche konkreten Konsequenzen können aus der Juden und Christen gemeinsamen Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen gezogen werden? Welche Verpflichtungen ergeben sich aus dem Juden und Christen gemeinsamen Gebot der uneingeschränkten Liebe (vgl. Lev 19, 18 und Mk 12,30 f)?

3. Die Kontroverse um Gesetz und Gnade neu überdenken
Die Begegnung von Juden und Christen wird auch dahin führen, daß beide Seiten die gegenseitigen Anfragen mit klarerem Blick wahrnehmen. Juden weisen den christlichen Vorwurf der „Werkgerechtigkeit“ dann mit überzeugenden Gründen zurück, wenn sie nicht die Gefahr bestreiten, die von dieser Haltung ausgehen kann, zumal sie wissen, daß die Warnung vor „Werkgerechtigkeit“ zu ihr er eigenen Glaubenstradition gehört.

Daß die Tora das Leben des Menschen in Anspruch nimmt, hindert nicht das Angewiesensein auf Gottes Barmherzigkeit. Gottesdienstliche Texte, wie sie die Feier des Versöhnungstages, des höchsten Festtages im jüdischen Jahr kennzeichnen, können Christen eindringlich diese Seite des jüdischen Lebens aufschließen.

Christen weisen den jüdischen Vorwurf des „Verlustes der Ethik“ dann mit überzeugenden Gründen zurück, wenn sie nicht die Gefahr bestreiten, daß die Hoffnung auf Gnade sie zur Vernachlässigung ihrer Weltverantwortung verleiten kann, zumal sie . wissen, daß die Warnung vor dieser Gefahr zu ihrer eigenen Glaubenstradition gehört. Kirchliche Texte zum Verhältnis von Glaube und Werken (vgl. Konzil von Trient), aber auch schon die paulinische Mahnung zu einem „in der Liebe werktätigen Glauben“ (Gal 5,6) sind dafür deutliche Beispiele.

Jüdische und christliche Kritik an der „Werkgerechtigkeit“, jüdische und christliche „Freude am Gesetz“ (an dem auch der Christ, wie Paulus ausdrücklich bekennt, „sich mitfreut“ – Röm 7,12) haben ein gemeinsames Ziel: die Fähigkeit zum Beten, zum Lobpreis Gottes zu bewahren. Darum finden Juden und Christen nur dann zum Dialog, wenn sie gemeinsam bekennen, was täglich im jüdischen Morgengebet gesprochen wird:

„Nicht auf unsere Gerechtigkeit trauen wir, sondern auf deine große Barmherzigkeit“ (Dan 9,18).

IV. Nachwort
Die in diesem Text angesprochenen Fragen wollen zum Bewußtsein bringen: Jüdisch-christlicher Dialog darf nicht länger dem Interesse einiger Spezialisten überlassen werden. Denn die hier anstehenden Themen treffen ins Zentrum des christlichen wie des jüdischen Selbstverständnisses, sie haben über die Begegnung zwischen Juden und Christen hinaus Entscheidendes beizutragen auch für das Verständnis der Religionen insgesamt und für die Zukunftsfragen der Menschheit. Darum appelliert der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken an alle für die Aus- und Fortbildung von Priestern und anderen pastoralen Mitarbeitern, von Lehrern und Erziehern Verantwortlichen, an die Träger der Erwachsenenbildung und die Medien sowie an die jüdischen Gemeinden und Institutionen, sich diesen zentralen Themen des jüdisch-christlichen Dialogs in den nächsten Jahren verstärkt zuzuwenden und ihre Bedeutsamkeit ins Öffentliche Bewußtsein zu bringen.

Dr. Hanspeter Heinz
Leiter des Gesprächskreises