Manfred Deselaers

Am Rande von Auschwitz Vertrauen aufbauen

Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Titels Mensch der Versöhnung 2000

durch den Polnischen Rat von Juden und Christen
am 16. Juni 2000 in Warschau

Ich möchte mich für diese Auszeichnung sehr herzlich bedanken. Diesen Dank empfinde ich wirklich tief. Es ist etwas ‚Wunder‘-bares, wenn wir uns heute hier als Deutsche und Polen, als Christen und Juden auf dem Weg der Versöhnung begegnen. In gewisser Weise geschieht das ja „am Rande von Auschwitz“, auch wenn wir hier in Warschau sind. Besonders freue ich mich, weil ich spüre, daß es nicht nur um ein gesellschaftliches Zeichen geht, sondern um echte Freundschaft, um menschliches Vertrauen, das gewachsen ist und weiter wachsen soll. Dafür danke ich besonders.

Zum deutsch-polnischen Verhältnis

Ich bin Deutscher. Es ist nicht leicht, als Deutscher in Polen über das christlich-jüdische Verhältnis zu sprechen. Dieses Verhältnis war und ist in Polen etwas völlig anderes als in Deutschland. In Bezug auf Auschwitz waren die Polen vor allem Opfer, die Deutschen vor allem Täter.

Ich vergesse nie ein Gespräch mit einer älteren Polin, die mir von ihrer jüdischen Schulfreundin erzählte, die sie  – ohne ihre Familie vorher zu fragen – auf dem Bauernhof ihrer Eltern zwei Jahre lang versteckt hatte. Es war klar, daß das für die ganze 17-köpfige Familie ständige akute Lebensgefahr bedeutete. Dann sei die Freundin verschwunden, habe wohl einen anderen Weg gesucht. Diese ältere Polin fing dann an zu weinen und fragte, „Warum sind die Juden heute so undankbar und sagen, wir Polen seien mit schuld an Auschwitz?“ – Ich kann mir gut vorstellen, daß die jüdische Freundin in ihrem Versteck ständig Angst vor Verrat hatte. Daß es für sie in ihrer Todesangst damals selbstverständlich war, daß man ihr half, aber daß in der Erinnerung heute – falls sie überlebt hat – tief ihre ständige Angst steckt, daß die Polen mögliche Verräter sind. Ihre Frage lautet: warum haben so viele Polen uns im Stich gelassen? – Was ist in dieser Situation die Rolle des Deutschen? Doch nicht, davon zu reden, daß die Polen Antisemiten seien. Sondern sich dazu zu bekennen, daß das Bild der Situation erst vollständig ist, wenn neben der Polin und der Jüdin der Deutsche sichtbar ist, der auf beide Jagd macht, um sie als Feinde zu ermorden oder als Sklaven zu unterjochen.

Heute fällt durch die Erinnerung an die jüdische Schoa ein Schatten auf Polen, den mein deutsches Volk zu verantworten hat. Oft dient auch das Interesse für das Thema „polnischer Antisemitismus“ der eigenen Gewissensentlastung. Deshalb, bevor ich mich in Polen zum christlich-jüdischen Verhältnis äußere, möchte ich klar sagen, daß mir sehr leid tut, was mein Volk, das deutsche Volk, dem polnischen Volk angetan hat. Das bezieht sich sowohl auf den direkten Terror als auch auf die Tatsache, daß heute Polen und nicht Deutschland das Land der Schoah ist. Ich verspreche mich dafür einzusetzen, daß die Verantwortung, die sich daraus ergibt, übernommen wird.

Schweigen und Hören

Man kann in Auschwitz nicht mit Diskussionen anfangen. Anfangen muß man mit Offenheit des Herzens, Betroffenheit, Schweigen… Anfangen muß man mit dem Kennenlernen der erschütternden Fakten und der Erfahrung, daß alle Worte zurückbleiben hinter dem, was da geschehen ist. Das gilt für das Hören auf die Stimme der Auschwitzer Erde (wie man in Polen sagt), und das gilt genauso für das Hören auf das, was dieser Ort für Menschen heute bedeutet. Ich bin dankbar, daß mein Wohnen in Oświęcim mich immer wieder in die Konkretheit der Erinnerung und der Begegnung führt. Leere Phrasen entlarven hier vor Ort sofort ihre Hohlheit. Worte können nur helfen, Brücken zu bauen. Allein dafür sind sie nötig.

Auf den Gedenktafeln des Mahnmals in Birkenau steht geschrieben:

DIESER ORT SEI ALLEZEIT
EIN AUFSCHREI DER VERZWEIFLUNG
UND MAHNUNG AN DIE MENSCHHEIT.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was dieser Satz bedeuten soll. Warum soll Auschwitz-Birkenau für alle Zeit ein Aufschrei der Verzweiflung sein? Und als solcher Mahnung an die Menschheit? Wohl deshalb, weil es zuerst darum geht, die Tragödie der Verlassenheit der Ermordeten zu erspüren…

Auschwitz ist eine Wunde, die immer noch schmerzt. Aber die Erinnerung soll uns nicht krank, sondern menschlicher machen.

Wer aus Verzweiflung schreit, schreit um Hilfe, weil er sich verlassen und in Todesgefahr weiß. „Laß mich in meiner Todesangst nicht allein!“ „Töte mich nicht!“ Das sind die beiden Schlüsselsätze für Emmanuel Levinas, der versucht hat, eine Philosophie nach Auschwitz zu begründen. Die Antwort auf diesen Schrei ist nicht eine Theorie über Gott, sondern aktive Liebe. Aufrichtige Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Und Gebet ist die Geduld in dieser Liebe.

Am Rande von Auschwitz wollen wir, so gut wir mit unseren kleinen Möglichkeiten können, Menschlichkeit, Vertrauen, gegenseitiges Verstehen, Mut zur Solidarität wieder aufbauen.
Es sind vor allem Begegnungen, die mir Hoffnung schenken. Begegnungen am Rande von Auschwitz, in denen wir so etwas wie einen Sieg der Menschlichkeit erlebt haben, der uns Hoffnung für eine bessere Zukunft schenkt. Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen, jüdischen und christlichen, Begegnungen mit deutschen und mit polnischen Jugendlichen, mit Professoren aus verschiedenen Ländern. Begegnungen, die dann gelangen, wenn die Beteiligten sich öffneten und bereit waren zu hören.

Begegnungen am Rande von Auschwitz sind fast immer Begegnungen von Verletzten. Es gibt viel Mißtrauen. Juden sind von der Erinnerung an den Versuch totaler Vernichtung verletzt, Polen von der häufigen Vergewaltigung durch Mächtigere, Deutsche durch die Schuld in ihrer Geschichte. Es ist oft nicht leicht, sich zu öffnen. Dafür muß ein Vertrauen grundgelegt sein. Darin sehe ich die wichtigste Aufgabe.

Glaube

Gerade der christlich-jüdische Dialog ist hier für mich eine große Hoffnung. Auschwitz läßt sich nicht betrachten, ohne der religiösen Dimension zu begegnen. Gerade sie hilft mir, an den Sieg wahrer Menschlichkeit jenseits eingefahrener Stereotypen und politischer Interessen zu glauben.

Es gibt Auschwitz nicht ohne die Erinnerung an das jüdische Volk. Das jüdische Volk gibt es nicht ohne die Erinnerung an seine Geschichte mit Gott. Ihr verdankt es die 10 Gebote, die das Rückgrat menschlicher Freiheit und Verantwortung bilden. Der Dekalog macht das universale moralische Gesetz deutlich, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist (wie Papst Johannes II am Sinai sagte). Auch das fundamentale Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild verdanken wir der dem jüdischen Volk geschenkten Offenbarung. Das war im Nationalsozialismus völlig verloren gegangen. Wesentlich unterschied sich der Mensch dort nicht vom Tier und konnte mit gutem Gewissen vergewaltigt und ermordet werden. Wenn Hitler nicht siegen soll, muß die göttliche Würde des Menschen wieder zur Geltung kommen. Wenn wir nach ethischer Orientierung „nach Auschwitz“ suchen, begegnen wir immer auch dieser religiösen Dimension. Sie begründet die Achtung vor allen Menschen, auch vor nicht Gläubigen. Als Christ bin ich dem jüdischen Volk zutiefst dankbar, daß ich an dieser Offenbarung der menschlichen Würde Anteil haben kann.

Rabbi Sacha Pecaric hat letztes Jahr in Oświęcim gesagt, daß irgendwie jedem Juden die Musik Gottes ins Herz geschrieben sei, so daß das jüdische Volk sich nicht aufgegeben habe und sogar Anne Frank noch gesagt habe, sie glaube trotz allem an das Gute im Menschen.

Zum christlich-jüdischen Verhältnis

Ich bin nicht Jude, sondern Christ. Ich kann nicht anders, als mit der Perspektive meines Glaubens auf Auschwitz zu schauen.

In der Mitte meines Glaubens steht das Kreuz. Es ist für mich ein Zeichen, daß Gott auf der Seite der unschuldigen Opfer ist. Gott war mit seiner unsichtbaren Liebe da, trotz des Schreies Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Es gibt beeindruckende Glaubenszeugnisse von christlichen Opfern aus Auschwitz, die mir viel bedeuten.

Manchmal denke ich an das jüdische Bild von Gott, der sein Gesicht verbirgt und weint. Aber wenn er weint, ist er doch mit seiner Liebe da. Vielleicht ist Christus eine Träne Gottes?

Ich verstehe jedoch gut, wenn Juden mit dem Kreuz ganz andere Assoziationen verbinden, vor allem solche christlicher Diskriminierung und Verfolgung.

Doch in der Mitte meines eigenen Glaubens entdecke ich eine tiefe Verbundenheit mit dem jüdischen Volk. Ich kann Jesus gar nicht anders sehen, als in der Liebe zu den Seinen, zu seiner Familie, zu seinen Jüngern, zu seinem Volk. In diese Liebe und in seinen Glauben als Jude bin ich als Nichtjude hineingenommen, und das erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Deshalb ist diese Beziehung für mich etwas zutiefst Inneres, das zum Zentrum des christlichen Glaubens gehört. Wir sind Geschwister durch den Glauben.

Dann ist auch das Kreuz Ausdruck der Liebe Jesu zu den Seinen, zuerst zu den Juden und dann auch zu allen Menschen, über alle Schuld hinweg. Das Kreuz als Symbol gegen die Juden zu wenden, widerspricht seinem Sinn und wendet sich gegen die Botschaft vom Kreuz selbst. Auch wenn das Kreuz immer Zeichen des Widerspruchs bleiben wird, es symbolisiert nie das Ende der Liebe Gottes zu seinem auserwählten Volk.

Es ist die Liebe zu Jesus, die am tiefsten begreifen läßt, welche Schuld Christen in Bezug zum Volk der Juden auf sich geladen haben. Als Papst Johannes Paul II in der großen Versöhnungsliturgie des Heiligen Jahres 2000 um Vergebung für das Juden zugefügte Leid gebeten hatte, ging er zum Kreuz und küßte die Füße Christi.

Als katholischer Priester möchte ich deshalb auch persönlich vor den anwesenden Juden sagen, wie sehr ich die christliche Tradition eines stereotypen Negativbildes von Juden bedauere und als sündhafte Verletzung empfinde. Die Geschichte von Verachtung und Haß, die daraus gewachsen ist, tut mir sehr leid. Dafür bitte ich um Verzeihung und um die Chance guter geschwisterlicher Beziehungen.

Ich möchte mich auch zu der besonderen Verantwortung der Kirche in Deutschland bekennen. Es ist völlig klar, daß die Verantwortung der Christen in Deutschland in bezug auf die Shoah anders ist als die der Christen anderer Länder.

Die polnische Kirche war im Widerstand gegen die Besetzer, über 3000 polnische Priester sind ermordet worden. Zu einer „Theologie nach Auschwitz“ gehört nicht nur die Frage, was haben Christen mit Juden gemacht, sondern auch, was haben Christen mit Christen gemacht. Dafür bitte ich die polnischen Christen um Verzeihung.

Bis heute kann ich nicht verstehen, wie eine so menschenverachtende „nationale Erneuerung“ in Deutschland solch eine Macht bekommen konnte. Daß beim Brand der Synagogen, beim Verschwinden der Nachbarn, beim Morden hinter der Front keine allgemeine moralische Empörung entstand. Was war mit den Gewissen geschehen? Was war mit den Christen, was mit der Kirche geschehen?

Ich will nicht warten, bis ich es verstehe. Ich will, im Rahmen meiner Möglichkeiten, mithelfen, neue zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen voller Achtung, Bemühen um Verstehen, Gerechtigkeit und Frieden. Ich glaube daran, daß da, wo ein ernsthafter Umkehrwille besteht, Gott Vergebung und neues Leben schenkt.

Auschwitz war möglich. Warum soll eine Welt der Menschlichkeit, die stärker ist als die Welt von Auschwitz, nicht möglich sein? Auschwitz fing mit vielen kleinen Schritten an. Der Sieg der Liebe fängt auch mit vielen kleinen Schritten an. Mit Schritten der Menschlichkeit.

Ich danke aus ganzem Herzen dafür, das wir solche Schritte gemeinsam machen wollen.

Dziękuję bardzo. Herzlichen Dank. Toda raba. Z Bogiem. Shalom.