Prof. Dr. Łukasz Kamykowski

Das christliche Europa mit den Ruinen der Krematorien von Auschwitz

Drei Gesichtspunkte: Juden, Deutsche und Polen

Wenn man im heutigen Europa aus christlicher Perspektive von Religion spricht, so lässt sich eine Tatsache nicht übersehen, die in uns Christen eine spontane Verwunderung hervorruft. Denn die Erinnerung an gewisse Selbstverständlichkeiten, die sowohl die Geschichte als auch den aktuellen Zustand Europas in Bezug auf seine Zukunft betreffen, stößt auf einen heftigen Widerstand bestimmter einflussreicher Kreise. Solch einen Widerstand wecken nicht nur „die christlichen Werte“ als die Grundlage für das gemeinsame Europa von heute, sondern selbst die Berufung auf seine „christlichen Wurzeln“.

Das ausgewählte Thema des Vortrags berührt eine Problematik, welche – wie ich glaube – etwas Licht ins Verständnis dieses Widerstandes bringen und bei dem gegenseitigen Verstehen helfen kann in Bezug darauf, was für uns die religiöse Dimension Europas heute und zukünftig ist. Ich möchte unsere Diskussion über diese Dimension um einen wichtigen Aspekt erweitern, dessen Symbol die Ruinen von Auschwitz sind, nämlich um das Ärgernis, welches ein Europa mit christlichen Wurzeln erregt.

Von vornherein sind einige Vorbehalte zu machen, um von diesem Vortrag nicht zu viel zu erwarten. Was ich darstellen möchte, ist eine Arbeitshypothese, sicherlich nicht genügend dokumentiert, die aber in Anlehnung an wirkliche Gespräche in diesem „Dreieck“, das im Titel genannt wurde, entstanden, im Dialog, an dem ich mich entweder persönlich beteiligt habe oder den ich von direkten Berichten der Beteiligten kenne. Ausführlicheres findet man darüber in: Dialog u progu Auschwitz (Dialog an der Schwelle von Auschwitz), herausgegeben von Manfred Deselaers oder in einem älteren Buch: Auschwitz. Konflikty i dialog (Auschwitz. Konflikte und Dialog) herausgegeben von Marek Głownia und Stefan Wilkanowicz. Es ist natürlich eine große Vereinfachung, von nur drei Perspektiven zu sprechen und diese mit drei Nationen in Verbindung zu bringen, selbst bei der bedeutenden Annahme, dass es mir bei jedem dieser drei Fälle um diejenigen geht, welche die Geschichte und die Gegenwart vom Standpunkt ihrer Religionen betrachten. Im Ansatzpunkt nämlich will ich mir die religiöse Dimension des Blickes auf Europa nach Auschwitz von Juden, Deutschen und Polen vornehmen, wobei ich alle Eigennamen in einem so formulierten Problem als symbolische Schlüsselworte ansehe.

Ich versuche zunächst ein paar Thesen über den Blick jeder der genannten Gruppen auf Europa nach Auschwitz hin aufzustellen, um dann einige Gedanken darüber zu äußern, wie sich die Gesamtheit aller drei Perspektiven auf ein tieferes Verständnis der religiösen Dimension Europas auswirken und diese Dimension in Zukunft vernünftiger zu gestalten helfen kann.

Jüdischer Gesichtspunkt

Im gewissen Sinne ist die jüdische Perspektive die einfachste. Auschwitz ist Vernichtung. Vernichtung ist das letzte Wort, das an Juden des ehemaligen Europas, eines Europas mit christlichen Wurzeln, eines Europas auf christlichen Werten erbaut, gerichtet wurde. Aus dieser Perspektive betrachtet, verurteilt Auschwitz als dessen endgültige Folge jenes Europas eindeutig. Jenes Europa stieß Juden aus, und diese – wohl oder übel – verließen es gewissermaßen für immer, zumindest intentional. Wenn sie zurückkommen, dann nur um ihrer Toten zu gedenken, um die ermordete Welt, die es nicht mehr gibt, in Erinnerung zu rufen. Das mögliche Land für Juden (natürlich ist dies wieder eine große Vereinfachung) ist heute entweder Israel oder Amerika. Zwei Welten, auf anderen Grundsätzen konstituiert als das christliche Europa der Vergangenheit, in dem alles irgendwie im Schatten des Kreuzes geschah, das Juden der „Gottesermordung“ bezichtigte, und wo die Trennung der Kirche vom Staat immer unscharf war. Das Europa der Zukunft, wenn es für Juden irgend möglich ist, wenn es unter Umständen als ein Wert glaubwürdig sein kann, ist ein Europa abgeschnitten von jener Vergangenheit und jenen Wurzeln.

Man kann dieses Bild etwas schattieren, die Nuancen näher bringen, es etwas besser verstehen. Unter Juden europäischer Abstammung (und bis zur Vernichtung waren dies ja die meisten) ist selbstverständlich eine Nostalgie bezüglich jener Welt vorhanden, welche zwar religiös immer als der Aufenthalt auf dem fremden Boden empfunden war, in der Diaspora, aber in welcher jahrhundertelang ihre eigene Tradition ihre Gestalt annahm und welcher sie viel eigenes Denken und Herz widmeten. Dies ist eine Welt, die als Gesamtheit nicht gänzlich negativ in Erinnerung gerufen wird, wovon Verbände der ehemaligen Einwohner und der Nachkommen ehemaliger Einwohner einzelner Städte und Städtchen, verstreut in Europa, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, zeugen. Perfide kann man hier an die ehemaligen Einwohner von Oświęcim erinnern, das in Jiddisch Ospitzim genannt war, welcher Name etymologisch mit der Idee der Gastfreundlichkeit verbunden war. Die europäische Welt der jüdischen Kultur entwickelte sich allerdings stets – auch wenn unter einem gemeinsamen Himmel, in einem gemeinsamen Klima und in der gemeinsamen Landschaft – am Hauptstromlauf der Geschichte, der Politik, der Wissenschaft und der Kunst Europas vorbei, mit dem ständigen Gefühl der Ungewissheit und der ferneren oder näheren Gefahr, welche im Bewusstsein der Juden damit verbunden wurde, was ihnen in der teilweise gemeinsamen europäischen Welt immer am fremdesten war, nämlich mit der Religion der Mehrheit, dem Christentum.

Die jahrhundertelang durch Europa gehenden Wellen der Abneigung und des Hasses den Juden gegenüber wie auch der Großteil des demütigenden Tributs, den sie den europäischen politischen Mächten für ein verhältnismäßig ruhiges Leben in dieser oder anderer Form zu zahlen hatten, waren allzu oft, wenn nicht immer, durchsetzt von der Religion der Mehrheit, die auf die hartnäckig unfrommen Juden überlegen herabsah. Von daher bleibt die Tatsache, dass die Vernichtung aus den Jahren 1942-45 von einem Regime geplant und durchgeführt wurde, das auf eine andere, sich vom Christentum lossagende, neoheidnische Ideologie setzte, im Bewusstsein der Juden fast unerkannt. Es ist für sie jedenfalls eine zweitrangige Tatsache angesichts dessen, dass es schließlich ein System war, das im christlichen Europa aufgewachsen war, das damit prahlte, dass es für die europäische Zivilisation warb und dass es mit den Händen der europäischen Christen verwirklicht wurde.

Versuchen wir nun, den Wert solch einer Perspektive für das Verständnis von Europa und seiner Beziehung zur Religion einzuschätzen. Der oben dargestellte Gesichtspunkt, der (seien wir daran wieder erinnert) sehr systematisch als „jüdisch“ bezeichnet ist, lässt nicht die europäische Vergangenheit einseitig idealisieren. Er erinnert an den Unterschied zwischen dem, was das Christentum für die Welt sein wollte, und was es tatsächlich in der bisherigen Geschichte Europas war. Er lässt auf Europa gleichsam von außen schauen, mit den Augen all derer (nicht mehr nur der Juden, sondern beispielsweise auch der Roma oder balkanischen Slawen – Muslims), die, in Europa lebend, dieses nicht ganz akzeptiert haben in seiner durch Christen gestalteten Ordnung und die in diesem Europa ihre ganze Welt unterzubringen versuchten. Allein durch ihre Existenz erinnern die Juden daran, dass die zivilisatorischen Wurzeln Europas stark vor-europäisch sind. Sie lassen die Bange vor der Formulierung „christliche Wurzeln“ zumindest teilweise verstehen als eine Angst vor der Rückkehr zur Vergangenheit, wo die Form, in der sich das Christentum manifestierte, ihnen diese Chancen nicht gab, die andere historisch realisierte Modelle der Wechselbeziehung zwischen der weltlichen Gemeinschaft und der Religion zu eröffnen scheinen. Durch diese Beziehung gerade scheinen die Vereinigten Staaten von Europa sich zu unterscheiden, wobei sie zum Großteil ein gemeinsames Kulturerbe haben. Auch der nach dem 2. Weltkrieg entstandene Staat Israel stützte seine Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden bei seiner Grundlegung auf seinen von vornherein laizistischen Charakter.

Auf der anderen Seite ist diese äußere Distanz der Juden Europa mit seinen religiösen Wurzeln und seiner religiösen Gestalt gegenüber ein Mangel, der in ihrer Perspektive steckt. Europa muss kritisch, aber auch kontinuierlich verstanden und aufgenommen werden, vor allen von innen, durch die Europäer selbst, durch jene, die es ins Leben gerufen haben, die für seine Licht- und Schattenseiten verantwortlich waren. In diesem Sinne lässt sich die Perspektive, die wir, wieder schematisch, als „deutsche“ bezeichnen, nicht übersehen.

Zwei deutsche Tendenzen

Die Verbindung der Deutschen mit Europa ist erstens durchaus eng, so in der Vergangenheit wie auch gegenwärtig und in absehbarer Zukunft. Sie waren immer eines der wichtigsten Elemente seiner Komposition – sowohl damals, als sie im Westen die Idee und die Mühe der Verwirklichung eines christlichen Kaisertums auf sich nahmen, wie auch dann, als im Drama, dessen Last sie in sich trugen, im Konflikt zwischen der Reformation und der katholischen (Gegen-)reformation die neuzeitliche Gestalt der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Religion und der politischen Ordnung geschmiedet wurde, als auch später, als in der Zeit der Auflehnung gegen die schreiende soziale Ungerechtigkeit einer neuen, industriellen Ordnung der Sozialismus und der christliche Sozialgedanke entstand, und schließlich, als aus den Trümmern des 2. Weltkrieges ein neues Europa aufzustehen versuchte, das die Quellen des entsetzlichen Übels der europäischen Kriege zuschütten wollte – die Deutschen waren immer im Zentrum der europäischen Umwälzungen ein aktives Subjekt, das die positiven Werte dieser Umwälzungen herausarbeitete, das für deren Kosten aufkam und – im riesigen Ausmaß – die Verantwortung für die Gestalt Europas auf sich nahm, insbesondere für den Charakter seiner Beziehung mit dem Christentum oder – von der anderen Seite her gesehen – für die konkrete Gestalt der Applikation des Evangeliums zur Gestaltung der irdischen politischen und sozialen Ordnung in Europa.

In diesem Kontext ist es klar, dass die Ruinen der Krematorien von Auschwitz (mit allem, was das bedeutet) vor allem etwas bilden, was für sie am besten nie in Europa gewesen wäre. Dies kann zu zwei konträren Haltungen führen (und führt tatsächlich), welche auf zweierlei Weise diese verhängnisvolle Vergangenheit auszulöschen und ungeschehen zu machen versuchen.

Eine Haltung – eine spontane, leichtere – besteht darin, das Vergangene zu vergessen, zu minimalisieren und mit etwas anderem auszugleichen, nicht fortdauernd das Schlimmste in Erinnerung zu rufen, wenn man an „ein christliches Europa“ oder „christliche Wurzeln von Europa“ denkt. Denn das gehöre ja zur Vergangenheit, dafür sei ja auf vielerlei Weise gesühnt worden – mit der Niederlage im 2. Weltkrieg selbst angefangen. Es gilt, an andere, positive und alte Seiten des Christentums überhaupt, und an den deutschen Beitrag zum Christentum insbesondere, zu erinnern. Es gilt, (wahrheitsgemäß) daran zu erinnern, dass die erlittenen Unrechte nicht nur „jenseits“ liegen, sondern auch auf „unserer“ Seite. Es gilt bewusst zu machen, dass nur eine verhältnismäßig nicht zahlreiche Minderheit eine Mehrheit terrorisiert und unterjocht hat, die auf einmal bemerkte, dass sie nicht mehr im Stande ist, sich wirkungsvoll zu widersetzen. Es gilt zu schreien, dass in dieser dunklen Periode der Geschichte das deutsche Heldentum umso schwieriger ist, denn nicht gegen einen äußeren Terrorismus gerichtet, sondern gegen „die Unseren“. In dieser Haltung ist auch die Tendenz enthalten, die Verantwortung für Auschwitz zu verteilen, diese auf die Kirche als solche oder auf die ganze christliche Welt, auf die kollaborierenden bzw. die Judenvernichtung passiv akzeptierenden Länder, die im Stillen davon Nutzen gezogen hatten, zu übertragen, überhaupt die verdorbene menschliche Natur deswegen anzuklagen. Man soll diese Tendenz nicht verachten oder ausschließlich verurteilen. Auch diese enthüllt eine wichtige Dimension der Wahrheit nicht nur über die konkrete Geschichte, sondern auch über den Menschen, über die Einheit der Kirche und des Menschengeschlechts, über die Notwendigkeit der Vergebung; dies ist eine Dimension, die aus den anderen Perspektiven schwer zu sehen ist…

Es gibt jedoch auch einen anderen, mutigen, bewusst „gegen“ jene eben erwähnte Tendenz gehenden deutschen Versuch, mit dem Schatten von Auschwitz zurecht zu kommen. Es ist eine bewusste Wahl, Auschwitz als Verneinung des bisherigen Europa mit christlichen Wurzeln und als Warnung für die Zukunft ernsthaft zu betrachten. Dieser Versuch setzt den Willen voraus, dies nicht zu vergessen, was man vergessen möchte. Diese Vergangenheit im Gedächtnis zu behalten und für diese die Verantwortung zu übernehmen, heißt hier, sich davon, was zu ihr geführt hat, radikal zu trennen. Von Anfang an zu beginnen, anders, mit der schlimmen Tradition zu brechen. Ein anderes Europa zu bauen, eine andere Gesellschaft, ein anderes Christentum, eine andere Kirche, etwas Neues „nach Auschwitz“, radikal unterschiedlich davon, was „davor“ war. Dies heißt zunächst, die Verneinung vom Europa der christlichen Wurzeln, die von den Opfern von Auschwitz kommt, das (ähnlich wie in der jüdischer Perspektive) als ein Symbol der Judenvernichtung zu verstehen ist, völlig ernsthaft zu nehmen. Den Blick auf dieses Volk wie auch auf seine Religion im Lichte dieser Kritik zu erneuern. Das zu erblicken, was verbindet, statt dessen (und manchmal auch davon abgesehen), was trennt. Die Verantwortung für den Antijudaismus im früheren Europa auf sich zu nehmen, für seinen Einfluss darauf, dass Rassisten im Zeichen des Hakenkreuzes ausgerechnet Juden zur degenerierten „Rasse“, zum vergifteten Blut, das die Zukunft der Welt gefährdet, gemacht haben. Die Kirche also zu bilden, die, ihre Mitschuld nicht vergessend, weiß, dass sie in Europa auf keine Rechte und Privilegien pochen kann, dass sie sich von Grund auf wieder glaubwürdig machen muss, allen voran durch den Dienst den Schwachen, Benachteiligten und Ausgestoßenen gegenüber. Das ist zweifelsohne eine verstehens-, berücksichtigens- und achtenswerte Haltung. Man kann und muss von ihr viel lernen. Doch verliert auch sie aus den Augen für unsere Betrachtung wichtige Elemente. Sie tendiert, den deutschen Blick als einfach europäisch zu betrachten, den Gesichtspunkt der Kirche (oder Kirchen) in Deutschland den Juden und dem Judaismus gegenüber als einen (tatsächlichen oder zumindest wünschenswerten) Gesichtspunkt der Kirche überhaupt. Diese Haltung verkennt, dass – in Bezug auf die Tragödie von Auschwitz – dies nicht die einzige Gestalt der Beziehung des Christentums, der Juden und Europa ist. Deswegen scheint es wichtig , auch die Perspektive zu berücksichtigen, die (wieder in großer Kürze und Vereinfachung, für die ich mich besonders bei den polnischen Juden entschuldige) ich eine polnische Perspektive nenne.

Polen und Auschwitz

Die Polen sehen Europa auch „von innen“. Sie verstehen sich von Anfang ihrer Geschichte an als diejenigen, die es mitgestaltet haben, wobei sie sich dessen bewusst sind, dass ihr Platz in Europa nie zentral war. Sie sind jedoch überzeugt, dass sie dort eine unersetzliche Rolle zu spielen hatten und haben. Eine wichtige Dimension dieser Rolle war es, zu verhindern, dass Europa von den Deutschen dominiert wird, dass es zum nur germanischen Europa wird. Von daher waren sie unter anderem geneigt, in den Streitereien, die das ganze lateinische Mittelalter geprägt haben, eher die Partei des Papstes als die des Kaisers zu nehmen. Von daher auch sind sie eher geneigt, das zu behalten, was in den tausendjährigen Beziehungen auf der deutschen Seite negativ war, was eine Bedrohung für die polnische politische Identität war, als verschiedenartige positive Einflüsse auf dem Gebiet der Kultur, des religiösen Lebens, der Theologie. Der Stolz der Polen ist ihr „goldenes Zeitalter“ unter den Jagiellonen, von der Mitte des 15. Jhs. bis zum Ende des 16. Jhs., sowie auch das damals entstandenes System der Demokratie und Toleranz, welches unter anderem dazu geführt hat, dass auf das Gebiet der multinationalen und multikulturellen Res Publica die meisten verfolgten bzw. ihres Schicksals unsicheren askenasischen Juden aus dem Westen Europas übersiedelten. Die Polen erinnern sich gern daran, dass im Gegensatz zu den religiösen Kriegen im Westen Polen damals „ein Land ohne Scheiterhaufen“ war, dass die apostolischen Legaten in ihren Berichten es bissig Paradisum Iudeorum nannten. Die spätere Krise und der Verfall des Staates trugen zur zusätzlichen Idealisierung dieser Zeit der Hoffnung auf das auferstandene Polen bei, und verstärkten zugleich das Misstrauen gegenüber den westlichen wie östlichen Nachbarn. Bittere Erfahrungen der Zwischenkriegszeit 1918-1939 begannen zu verdeutlichen, dass der Wiederaufbau eines realen Staatswesens nur mühsam den Träumen vom friedvollen Zusammenleben der Polen selbst, geschweige denn vieler Nationen, darunter Juden, unter einem gemeinsamen Dach des wiedergeborenen Polens gerecht werden kann.

Vor diesem Hintergrund wurde Auschwitz – das im Frühling 1940, zur Terrorisierung und Unterjochung eines frisch von Deutschen eroberten Teils Polens errichtete Konzentrationslager – zum Symbol, und sogar noch bevor es der Vernichtungsort für aus ganz Europa transportierte Juden wurde. Es wurde zum Symbol des Willens, Polen als solches zu vernichten, schon damals, als hier all diejenigen zur Vernichtung verurteilt wurden, die die polnische Kultur bildeten – sowohl Katholiken, darunter viele Priester, wie auch Protestanten oder Juden. Es wurde bald zum Symbol des Widerstandes gegen diesen brutalen Willen zur Macht und zum Symbol des Martyriums, des Sieges durch den Glauben. Die Polen, wenn sie an Auschwitz denken, sehen den christlichen Glauben nicht im weiten Hintergrund der Urheber der Hölle des Konzentrationslager, sondern den Glauben in seiner reinsten Gestalt, den Glauben, der durch die Liebe agiert wie ein Lichtstrahl innerhalb des Lagers, auf der Seite der Häftlinge, jener, die, wie Maximilian Kolbe, in Anlehnung an die Macht des Glaubens diesem Alptraum einen Sinn verleihen. Meistens beschränken sie diesen Glauben nicht nur auf diejenigen, die im Stande waren, die Affinität zwischen ihrem Schicksals und dem Christi auf Golgotha zu sehen und ihre Haltung bewusst als die Nachahmung des Leidens Christi zu gestalten. Sie übertragen ihn auch auf Juden, die mit dem Bekenntnis des Glaubens Israels an den einen Gott starben, und gewissermaßen schauen sie auf diese spontan auch vom Standpunkt des Kreuzes. Sie verstehen die Juden insofern, als deren Haltung, deren Glaube dem ihren ähnelt und als dieser Glaube ähnlicherweise seinen Heroismus in der Stunde der Todesprüfung gezeigt hat. Für die Polen (vergessen wir nicht eine große Vereinfachung unserer Darstellung) liegt die Opposition in Auschwitz auf der Achse: gottlose Täter – gottesfürchtige Opfer. In dieser Optik verschwinden Unterschiede zwischen den Opfern von Auschwitz: es ist der Ort der Erniedrigung des Menschen, ein Schlag, der Menschheit durch ein unmenschliches totalitäres System verpasst. Das ist der Grund, warum die Polen nicht verstehen können, warum das Kreuz von Auschwitz entfernt werden sollte – die einzige Hoffnung derer, die sich nicht unterkriegen ließen und die sie als ihre Familienangehörige, Landsleute und Mitglieder der Kirche näher kannten. Deswegen können sie nicht nachvollziehen, warum man sich wegen der christlichen Wurzeln Europas schämen sollte, wegen der christlichen Werte für die Zukunft, wenn gerade diese dazu verhalfen, dass die Menschenwürde, die Europäerwürde überdauerte, selbst diese furchtbar in Auschwitz zertretene. Die Erfahrung des Christentums in dem letzten Jahrhundert ist für sie im höchsten Grade positiv, integrierend, Hoffnung erweckend, in eins verkoppelnd. Darum sehen sie die Hoffnung für Europa in der Rückkehr zu den christlichen Wurzeln.

Selbstverständlich hat auch diese Perspektive ihre Mängel und bringt einen Teil der Wahrheit in den Hintergrund. Sie übersieht, wenn sie auf Auschwitz schaut, die Tiefe der Universalität der Kirche, die aus Sündern und Heiligen über die nationalen Grenzen hinweg besteht, sie bricht die Solidarität zwischen den Christen-Deutschen, die in den Nationalsozialismus verwickelt waren, und den Christen-Polen, die Opfer dieses Systems und dieser Ideologie waren, sie bricht somit, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Solidarität „des christlichen Europa“. Sie verteidigt, andererseits, vor jeglicher Mitverantwortlichkeit der Polen für die Vernichtung der Juden, indem sie einseitig das Heldentum derer unterstreicht, die denen Hilfestellung leisteten.

Die Dynamik der Bewusstseinswandlungen und die Bedeutung der Integrierung der Darstellungen

Wir haben mehrmals den Schematismus unserer Darstellungen betont. Die erste Korrektur, die in den hier entworfenen drei Perspektiven vorzunehmen sind, damit sie überhaupt für das Verständnis des Themas „Religion in Europa“ geeignet sind, betrifft die Dynamik ihrer Wandlung. Obwohl man gewiss auch heute hie und da Vertreter der hier entworfenen Gesichtspunkte „in reiner Gestalt“ treffen kann, muss man sagen, dass die letzten 25 Jahre durch die Aufnahme und die Entwicklung von Kontakten, Gesprächen, Dialogen auf den einzelnen „Dreieckseiten“ und auf dem ganzen Feld des „Dreiecks“, von dem wir sprechen, gekennzeichnet sind. Die Chance der Veränderung haben selbstverständlich große politische und zivilisatorische Wandlungen auf unserer Erdkugel geschaffen. Dies wäre aber belanglos, wenn diese Chance nicht von den Menschen des Glaubens und des religiösen Gedankens auf jeder Seite aufgenommen würde. Eine der symbolischen Erscheinungen dieser Dynamik ist gerade das 25. Jubiläum des Austausches und der Zusammenarbeit zwischen unseren Hochschulen, welches wir an diesen Tagen feiern. Es kann Symbol einer der wichtigen Dimensionen dieser Wandlungen sein, was in der Zeit des Verfalls des Kommunismus in Osteuropa vielerlei Hilfe und Eröffnung seitens Deutschlands – zumindest in Polen – einer der Hauptfaktoren war, negative Stereotypen zu überwinden und die Deutschen von der positiven Seite her zu betrachten.

Seit der Befreiung Polens von den kommunistischen ideologischen und politischen Abhängigkeiten entwickeln sich auch polnisch-jüdische Kontakte und Gespräche, auch auf der religiösen Ebene. Dieser Dialog ist in Polen schwieriger, denn es lebt immer entfernere, immer stereotypere Erinnerung an sie und die Lebenden kommen meistens nur für einen Augenblick, aus der Ferne, um eine Spur ihrer Vorfahren zu finden, und oft haben sie keine Kraft und Neigung mehr, lebendige Kontakte zu suchen, was die in Polen angetroffenen Veränderungen und Misstrauen nicht vermindern.

Es kommt, obwohl gewiss immer noch zu selten, zu Treffen, an denen Vertreter aller drei Perspektiven teilnehmen, von denen hier die Rede ist, und sogar in der Perspektive und der Nähe von Auschwitz. Deren gesellschaftliche Auswirkung ist nicht breit. Es schreitet dennoch das Überwinden des gegenseitigen Misstrauens und das Sichhineinversetzen in die Perspektive der anderen Seite fort. Der Verlauf dieser Gespräche und deren Ergebnisse lassen sich hier kaum referieren. Vielmehr versuchen wir zum Schluss zu antworten, wie der bereicherte Blick auf die schmerzhaften Aspekte der Vergangenheit Europas im Verständnis der Rolle der Religion für die Zukunft nützlich sein kann.

Es scheint, dass der vollständige gemeinsame religiöse Blick auf die Vergangenheit, wenn irgend möglich, symbolisiert durch Auschwitz, fruchtbar für die Kirche und Europa wäre.

Die Kirche hätte dann die Chance, ihr vollständigeres Gesicht zu entdecken, den zurückgelegten Weg nicht nur vom Standpunkt der Ideale, die sie zu realisieren bemüht war, sondern auch im Lichte dessen, was tatsächlich daraus geworden ist, zu sehen: was ein wahrer Grund zum Stolz ist und was Schamgefühl hervorruft und Bekehrung benötigt. Die Kirche, die die Wahrheit besser erkennt und dadurch demütiger ist, hat die Chance, ein überzeugenderes Zeugnis abzulegen und, womöglich, dank dessen in Europa noch glaubwürdig zu werden. Wenn die Kirche in Europa in der Vergangenheit nicht nur diese Trennlinien erkennt, die aus den formalen dogmatischen und strukturellen Unterschieden resultierten, sondern auch diese, die in den politischen Konflikten ihren Kindern fast unmöglich machten, ihre Brüder in Christus auf der anderen Seite der Barrikaden und Fronten zu sehen, so könnte sie katholischer sein, nicht im konfessionellen, sondern im ursprünglichen Sinne, und dadurch fähig, der Versöhnung der Völker überzeugender dienlich zu sein.

Besonders wertvoll scheint die Entdeckung durch die Kirche ihrer Verbindung mit Israel, nicht nur im genetischen Sinne in der außer- und voreuropäischen Geschichte, sondern auch heute. Diese Endeckung lässt die Kirche (auch in Europa) sich mit Europa nicht identifizieren oder es verabsolutieren. Indem sie Distanz herstellt, erleichtert sie eine freundliche und kritische Beziehung zugleich Europa gegenüber, seinen Institutionen und Bestrebungen. Man braucht nicht zu überzeugen, dass dies auch für Europa von Nutzen sein kann, damit es sich in seiner Sattheit und in seinem Egoismus nicht verliert, indem es sein Gesicht nicht preisgibt.

Das sind natürlich nur Träume. Aber anlässlich der Feier, da wir Gott und Menschen für die bescheidene Strecke des Bauens der intellektuellen, zwischenmenschlichen und religiösen Kontakte danken, wo wir uns gegenseitig stärken für das weitere Bauen und Enger knüpfen dieser Kontakte, kann man ein weinig träumen und es lohnt sich, ein wenig zu träumen…

Aus dem Polnischen übersetzt von Robert Samek