Halina Birenbaum

Das Leben als Hoffnung

Meine Jahre – eine Ewigkeit in der Shoah

Nach den erlebten Dramen in den Jahren des Holocaust erlangte ich meine Freiheit mit einer Leere im Herzen. Eine Menge Verwaiste, Ruinen, Schutt und Asche im Nachkriegswarschau. Nichts um mich herum Nichts auch in mir…. Endlich hatte ich einen ganzen Laib Brot in den Händen, durfte schneiden, wie viel nur die Seele wünschte. Es war mir jedoch eng in den vier Wänden der Wohnung und in mir. Ich wollte nicht so sein wie meine Mutter vor dem Krieg – nur Kummer ums Haus, Kochen, Putzen – mit meinen fünfzehn Jahren war ich schon um vieles reifer als sie! Während der Jahre des Krieges und der Besatzung verbrachte ich einen riesigen Weg von der Kindheit über das Altwerden bis zum Tod. So viele Male sah ich dem Tod in die Augen, starb vor Angst in der Spannung der vorletzten Momente: Solch große Menschenmengen brannten vor meinen Augen – wie könnte ich im Gefängnis jener Bilder und Stimmen in die normale Alltäglichkeit, in die Freiheit hineingehen?

Ich träumte, ich würde auf einer menschenleeren Insel wohnen wollen, sollte es mir gelingen, die Hölle zu überleben, was in meinem Fall nach den Naziregeln, die das ganze jüdische Volk zum Vernichten verurteilten, und in erster Reihe Alte, Kranke und Kinder, sehr unwahrscheinlich war. Ich war illegal sogar in den Lagern – dorthin ließ man lediglich Junge, Gesunde herein, und auch das hing davon ab, wie viele für Zwangsarbeit benötigt wurden, den Rest schickten sie ins Gas. Mein Leben und meine Rettung zeigte sich als eine Reihe von Zufällen … Bis heute.

Im September 1939 wurde ich zehn Jahre alt und erreichte die 3. Abteilung der Grundschule. Ich hatte liebevolle Eltern, zwei ältere Brüder, Großeltern sowohl seitens meiner Mutter als auch meines Vaters, und zahlreiche Verwandtschaft. Wir waren unvermögend. Marek, mein um elf Jahre älterer Bruder, studierte Medizin und war ein besonders begabter und fleißiger Student – der um sieben Jahre ältere Bruder Chilek besuchte eine Berufsschule. Mein Vater verdiente den Familienunterhalt als Handelsvertreter, die Mutter führte den Haushalt und trug mit Häkeln zum Unterhalt bei. Aufgrund der Kunde vom nahenden Krieg kamen in diesem Sommer Mutters Eltern und Schwestern mit ihren Familien nach Warschau. Sie dachten, hier wird es leichter sein zu überleben als in Żelechowo. Die Familie des Vaters blieb in Biała Podlaska.

Am 1. September ertönte die Alarmsirene – und seitdem unterbrach ich den Schulbesuch für die gesamte Kriegszeit. Den Himmel über Warschau bedeckten Geschwader deutscher Messerschmidts, es fielen zerstörende und zündelnde Bomben nieder, es kam zu Bränden, für deren Löschung die Mittel fehlten. Häuser stürzten und begruben Tausende von Menschen. Diese Hölle dauerte drei Wochen lang. Es fehlte an Essen und Wasser … Man schleppte aus den Läden Konserven mit Sauergurken, Marmelade heraus, man holte Wasser aus der Weichsel – Menschen fielen auf dem Weg getroffen von Splittern, Schrapnellen. Bombengetöse tagsüber und nachts, Feuerscheine, der Geruch der sich unter Schutt zersetzenden Leichen und der Brände, das Heulen der Alarmsirenen und die Durchsagen aus den Lautsprechern: „Achtung, es nähert sich   , beendet   , fängt an   , fängt an!“ …

Am größten jüdischen Feiertag des Jüngsten Tages, Jom Kipur, bombardierten die Deutschen besonders heftig den von Juden bewohnten Stadtteil, und unsere Straße brannte. Es war die Nacht nach dem großen Fasten und inbrünstigen Gebeten. Wir liefen aus dem brennenden Haus hinaus, packten in die Hände, was sich mitnehmen ließ. Wir versteckten uns im Keller des Hauses eines Bekannten. Hier herrschte ein Gedränge, Geruch von Schimmel, menschlichen Ausatmungen und eine unbeschreibliche Niedergeschlagenheit. Manche verloren aus Entsetzen das geistige Gleichgewicht, murmelten irgendwelche unverständlichen Wörter. Ich betrachtete die Erwachsenen, las aus ihren Gesichtern, aus jeder Bewegung, und reifte in unerklärlichen Situationen der um uns herum einstürzenden Welt.

Bis endlich die Stille kam. Stille der Niederlage, der Zerstörung und Trauer. Auf den Straßen Menschen mit Bündeln auf den Rücken. Auch wir in der Welle der Unterschlupf-Suchenden. Ich erblickte zum ersten Mal Deutsche. Sie marschierten herrisch auf Warschaus zerstörten Straßen, wie eine für ewig verschließende, unbesiegte Todesmauer. Menschen drängten sich an Brotausgabestellen. Die deutsche Soldateska zog brutal Juden aus den Schlangen heraus und misshandelte sie.

Wir fanden ein Zimmer in der Wohnung einer nach dem Schock der Bombardierungen gelähmten Zahnärztin. Ihr Ehemann, ebenso Zahnarzt, verstarb vor dem Krieg. Sie, zwei Töchter und ein Sohn – Zahntechniker – bezogen jetzt ein Zimmer, die übrigen vier Zimmer und die Küche vermieteten sie. Elusia, zwei Jahre älter als ich, und eine um ein Jahr von mir jüngere Erna, die mit ihren Eltern im Nachbarzimmer wohnten, wurden meine Freundinnen. Wir wohnten zusammen bis zur „Aussiedlung“.

Die Deutschen befohlen Juden ab dem zwölften Lebensjahr eine weiße Binde mit blauem Davidstern auf dem rechten Unterarm zu tragen, um sie von anderen Menschen unterscheiden zu können. Sie führten Razzien nach Juden durch, erschossen sie unter niedrigsten Vorwänden, oder aber auch ohne Vorwand. Sie verboten den Juden die Zug- und Straßenbahnfahrt, das Lernen, das Beten in den Synagogen, das Versammeln in größeren Gruppen, verkündigten eine Polizeistunde mit rücksichtslosem Aufenthaltsverbot außerhalb des Hauses ab sieben Uhr abends. Tagsüber füllten Massen die Straßen. Die Menschen verkauften eigene Kleidung, Bettwäsche, Unterwäsche um ein von Tag zu Tag teureres und schlechteres Brot, Kartoffeln, Pellgraupen, nasses Holz kaufen zu können. Um irgendwie den Tag in der Hoffnung zu überleben, dass der Krieg bald mit der Niederlage der Deutschen zu Ende geht und alles zum normalen Ablauf zurückkehrt.

Das Grauen wuchs jedoch mit jedem Tag, Krankheiten, Hunger. Ein nach dem anderen Mal drang von der Straße ein entsetzlicher Schrei herein: Die Deutschen! – und es fuhren triumphal Lastwagen in die überfüllten Straßen ein, SS-Männer sprangen hinunter, schossen nach den Weglaufenden. Mit einem Handwink und dem Ruf „Halt!“ hielten sie Männer auf, die sie mit Schlägen auf die Lastwagen brachten. Sie stürmten die jüdischen Häuser, um Möbel und andere Gegenstände aus den Wohnungen und Läden herauszuholen, führten die Eigentümer heraus – Väter, Söhne – und erschossen sie.

Die Gerüchte vom Ghetto für Juden bestätigten sich bald, wie all die schlimmsten, unvorstellbaren Vorhersagen. Eine hohe Mauer trennte uns im Spätherbst 1940 von den Ariern. Die Deutschen befohlen allen Juden, innerhalb einer Stunde die Wohnung zu verlassen und sich auf dem beschränkten Areal der ärmsten Warschauer Gegend einzufinden. Hierher trieben sie zusätzlich Juden aus anderen Städten im Fußmarsch, töteten die Schwachen auf dem Weg, die Kranken im Bett.

Hunderttausende waren ohne Dach über dem Kopf, hatten gar nichts mehr, drängten sich in einer unmöglichen Enge in ehemaligen Schulklassen und anderen öffentlichen Gebäuden, den sogenannten „Punkten“ zusammen. Dort starben sie massenhaft an Hunger, Dreck, Epidemien. In den „Punkten“ reichte der Platz nicht für alle Vertriebenen. Sie lagen auf den Straßen, in den Innenhöfen, in Treppenhäusern; sie bettelten, schwollen an aus Hunger, Erfrierungen. Es gelang nicht, die Leichen wegzuschaffen, man bedeckte sie mit Zeitungen, bis sie von einem Wagen abgeholt wurden, um sie in Massengräbern zu verscharren.

Ich war in der Menge, wuchs in ihr auf und lernte das Leben inmitten der allgemeinen Zerstörung. Ich spielte zusammen mit anderen Kindern, die Menschen im Gedränge auf der Straße anstoßend, neben den mit Zeitungen bedeckten Leichen … Zum späteren Zeitpunkt sammelten wir unter der Schirmherrschaft des Hauskomitees Geld für die Bettler und für hungernde Nachbarn. Wir hefteten Passanten Papierschleifen an, damit sie einige Groschen spenden. Manchmal traten wir abends in Häusern vermögender Familien auf, Gedichte rezitierend und Vorkriegs- und Ghettolieder singend. Selbstverständlich nahmen an dieser Aktion nur Kinder und Jugendliche teil, die zur Zeit noch nicht hungerten und nicht betroffen waren.

Unsere Familie hungerte damals auch noch nicht. Marek arbeitete im jüdischen Krankenhaus, verdiente etwas bei ärztlichen Eingriffen. Der polnische Fabrikbesitzer von Maggi-Konserven, dessen Vater bei der Lieferung von Rohstoffen aus Galizien vermittelte, beschaffte uns Erbsen, braunen Zucker und Konserven als Entlohnung für die Arbeit. Für Geld konnte man nur wenig kaufen, weil sich alles von Stunde zu Stunde verteuerte. Die Fabrik des Ingenieurs Strójwąs befand sich an der Ghettogrenze, was diese Kontakte bis zu einem gewissen Zeitpunkt ermöglichte. Die meisten der erhaltenen Produkte verkauften wir, um Brot, Kartoffeln, Holz für die Heizung des Zimmers beschaffen zu können.

Ich lernte sogar unter diesen Umständen. Unter Führung und striktem Befehl meines älteren Bruders arbeitete ich den Stoff ab der dritten Abteilung der Grundschule bis zur ersten Gymnasialklasse durch. Marek lehrte mich auch Französisch. Vielleicht, um mich von der schweren Realität fern zu halten – oder in der Hoffnung, wir erleben das Kriegsende und ich versäume nichts in Sachen Bildung…

Ich las besonders viel, auch Gedichte, die ich sehr schnell auswendig lernte. Ich fand darin eine Flucht von dem ringsherum herrschenden Grauen, immer schrecklicheren Meldungen von Siegen der Deutschen an den Fronten, Morden an Juden, Bau von Dampf- oder Gaskammern für eine massenhafte Vernichtung in Chełm, Biełżec, und den schrecklichsten von allen – in Auschwitz!… Ich war elf, als ich anfing darüber zu schreiben, was um uns herum geschah, ohne in mir die Unmenge der Grausamkeiten, der immer schrecklicheren Nachrichten und der hoffnungslosen Kommentare der Erwachsenen aufzunehmen.

Zwei Fenster unseres Zimmers verschlug man mit Sperrholz, als Beleuchtung diente die Flamme aus einem Gasrohr, und später eine stinkende Karbidlampe. Wir schliefen auf dem Fußboden, die Eltern und Brüder auf zwei Matratzen, und ich, als Jüngste (meine Mutter lehrte mich stets, Älteren nachzugeben, wogegen ich mich auflehnte) auf einer Schlafstätte aus einer Steppdecke. Als alle Juden ins Ghetto getrieben wurden, bekamen wir von Bekannten eine Liege, einen Tisch und vier Stühle. Wiederum musste ich nachgeben … es gab keinen fünften Stuhl. Es fand sich jedoch eine Matratze für mich, weil meine Brüder es vorzogen, auf der Liege zu schlafen.

Zum Glück blieb unsere Straße im Ghetto und wir brauchten nicht, wie die Mehrheit der Juden, eine andere Bleibe zu suchen. Die Deutschen verkleinerten mehrmals das Ghetto und die Menschen blieben einfach auf der Straße, starben massenhaft. Die Familie der Zahnärztin nagte am Hungertuch beinahe von Anfang an. Keiner zahlte später die Miete, beziehungsweise ließ seine Zähne behandeln …

Es vergingen zwei Ghettojahre. Ich träumte, ich wache eines Morgens auf, und es wird keine Deutschen in Warschau mehr geben, sie verschwinden einfach aus unserem Leben, so, wie sie in dieses eindrangen …

Ende Juli 1942 beklebte man die Mauern mit Plakaten in polnischer und deutscher Sprache, wonach alle Juden zur Arbeit in den Osten ausgesiedelt werden. Im Ghetto sollen nur wenige bleiben, die für die Deutschen zur Arbeit in sogenannten Schuppen benötigt werden, wo man Uniformen und Stiefel fürs deutsche Militär herstellte, und in Fabriken auf der arischen Seite. Die Beschäftigten sollen Ausweise erhalten, die sich bald als Berechtigungsschein zum Leben erweisen sollten, und man zahlte dafür hohe Schmiergelder.

Panik und Verzweiflung beherrschten das ganze Ghetto, verschlimmert durch die Nachricht über Czerniakows Selbstmord, des Präses der jüdischen Gemeinde. Der Präses, sonst immer gehorsam, wollte den Aussiedlungsbefehl nicht unterschreiben, was die schlimmsten Befürchtungen auslöste. Zeitgleich gab es keine Nahrungsmittel mehr. Die Worte: Aktion, Blockade, Aussiedlung, Waggons, Umschlagplatz wurden seitdem ausschließlich zu unserer Realität, als einziger Lebensinhalt. Über Treblinka wussten wir anfangs nichts … Unser Umschlagplatz ist ein großer, verschanzter Platz Stawki vor der Schule, die Chilek bis zum Kriegsanfang besuchte. Hier warteten täglich Viehwaggons, in denen die Deutschen ergriffene Juden wegtransportierten. Zuerst waren Vertriebene aus den „Punkten“, Straßenbettler, Kranke und Behinderte, die vor Hunger und Erfrierungen anschwollen, an der Reihe.

Ich stellte keine Fragen, beschwerte mich nicht, staunte nicht – man roch alles in der Luft, las in den menschlichen Gesichtern, im Angesicht des Todes und in der Angst vor ihm. Sogar Kleinkinder begriffen, dass man schweigen muss, das verbotene Dasein in dichter Finsternis eingraben, den Atem, Herzschlag – um nicht gefunden und in den rätselhaften, schrecklichen Osten herausgefahren zu werden … Wir zogen das Beste von Kleidung, Schuhen, einige paar Unterwäsche, Kleider, Pullis an – für den Fall, dass wir gefasst und in ein schreckliches Lager gebracht werden, damit wir uns dort umziehen, oder es gegen Nahrung umtauschen könnten. Die Mutter steckte in ihr Körbchen etwas Mehl, Pellgraupen, etwas Würfelzucker, eine Flasche Öl herein. Wir verabschiedeten uns von den Nachbarn. Damals wussten wir noch nicht, dass es für immer sein wird.

Tante Felas Moszkowicz Wohnung, der jüngeren Schwester meiner Mutter, befand sich in einer anderen Straße in der fünften Etage. Wir dachten, so hoch kommen sie nicht, um uns zu holen und zum Umschlagplatz zu verschleppen … Die Mutter wollte in so einer Zeit zusammen mit ihrer geliebtesten Schwester sein. Den Onkel zogen die Deutschen zusammen mit anderen Juden aus dem Zug heraus und erschossen trotz der Passierscheine. Deren Sohn Kuba, gleichaltrig mit Chilek, fuhren die Nazis nach Starachowice zur Arbeit aus, wo er ohne Lebenszeichen verschollen ist. Dies geschah noch vor der Aussiedlung nach Treblinka … Es blieb nur die Tante mit Halina, meiner um zwei Jahre älteren Cousine, am Leben. Seitdem hielten wir zusammen.

Die Razzien fingen um 8 Uhr morgens an und wüteten bis in den Abend. Täglich wurden die Ghettostraßen blockiert und Tausende von Juden in Kolonnen zum Umschlagplatz gezerrt.

Die Deutschen und ihre Helfer drangen in alle Häuser und Wohnungen ein, auf jede Etage, gelangten in alle noch so präzise maskierten Verstecke, Keller, Dachböden. Sie schlugen mit Brechstangen die Türen, jedes Hindernis ein und einprügelnd, schießend, jagten sie die Menschen in die Kolonnen, die auf der Fahrbahn formiert wurden, von wo aus sie von Eskorten bewaffneter SS-Männer zu den Waggons geführt wurden. Täglich waren es 15 bis 17 Tausend Juden, soviel, wie viel nur die Waggons fassen konnten!

Die Aktionen verstärkten sich. Es wurde immer leerer auf den Straßen, Blutlachen auf den Bürgersteigen und Straßen, verlassene Häuser, Wohnungen – Geisterstraßen. Zerstreute Sachen, Briefe, Fotos, überall herumfliegende Federn aus während der Durchsuchungen aufgetrennten Kopfkissen. Ein Lokomotivpfiff drang tief in mein Herz, wie ein Messer hinein – hierher wirst du mal gehen, das erwartet dich, eine schreckliche Station, das Ende von allem! …

Der Vater fand eine Arbeit im Schuppen Dank eines Verwandten; uns fehlte das Geld, um Schmiergelder zu bezahlen. Er bekam einen Ausweis, der auch „Deckung“ für die Ehefrau und das Kind eines „produktiven“ Juden bedeutete, also für Mutter und mich. Der Direktor war der Besitzer der Schuhfabrik. Es zeigte sich jedoch, dass die vielversprechende und gut bezahlte Funktion ihn, seine Ehefrau und deren drei Kinder nicht vor dem Tod in Treblinka bewahrte. Keiner konnte sich dem allmächtigen Urteil der deutschen Vernichtung entziehen.

Marek blieb im Krankenhaus tätig, das zur Zeit in Betrieb war – zum Vorwand, dass nicht alle ausgesiedelt werden, dass es Bessere gibt, Auserwählte, zum Leben Bestimmte … Er hatte also einen Ausweis. Chilek nahmen sie in die Gruppe der am Umschlagplatz Beschäftigten auf, hefteten ihm eine Blechnummer als Zeichen an, dass er produktiv ist und von der Ausfuhr verschont wird. Zu seiner Aufgabe gehörte, die beim Treiben in die Waggons erschossenen, beziehungsweise zum Tode geprügelten Juden, herauszutragen. Das Grauen, das aus seinen Augen hinausblickte, als er zum ersten Mal von der Arbeit zurückkehrte, versetzte mich in weitere Etappen meiner Reife.

Ich vergas den mich ständig plagenden Hunger, die Sehnsucht nach einem zusätzlichen Löffel wässriger Klöße, die meine Mutter am Abend bei einer unscheinbaren Kerze in einer nach Aussiedlung leergebliebenen Wohnung kochte, die heimliche Entnahme eines extra Würfelzuckers, den sie je ein paar Stunden in den Verstecken wie Medizin verteilte, aus ihrem Korb. Bis heute weiß ich nicht, woher die kleine, physisch schwache Frau Mut und Kraft schöpfte, diese Klöße zu kochen.

Chileks Gesichtsausdruck zeigte mir die Tiefen der Verzweiflung, in der nichts mehr davon, was bisher als Maßstab galt, was man lehrte und seit Generationen weitergab, eine Bedeutung hatte, alles blieb weit entfernt von uns … Plötzlich wuchs ich in mir, als ob ich den Inhalt der größten Bücher der Welt, der nicht von Menschenhand geschriebenen, durchdrang. Ich verstand das Unbegreifliche und das Geheimnis der Beharrung darin, alles andere wurde nichtig und elend bis zum Absurden. Mein Bruder hielt den Kopf in den Händen und murmelte nur: Fragt mich nicht, wie die dort mit Menschen umgehen!!!

Ich umarmte meine Mutter in engen, stinkenden Verstecken, drückte stark ihre Hand, hielt den Atem an in höchster Anspannung, wenn sich das Stampfen der Stiefel der SS-Männer näherte, und der das Blut in den Adern zum Frieren bringende Aufruf: Halt, Jude! Schmerzensjammer, Nachhall der Schüsse, hier nebenan, als ob schon in mir!

Mutters Ruhe, ihre Beherrschung, der aus ihr strahlende Glaube und der sture Wille zu leben, waren für mich Wegweiser und Fundament, an dem ich reifen, blitzschnell Empfindlichkeit und Intuitionsschärfe entwickeln konnte. Ich ging mit ihnen meinen langen, unmöglichen Weg durch den allgemeinen Tod – ins Leben. Es vergingen die immer schwerer werdenden Wochen in Kellern und auf Dachböden in ständiger Angst, Unsicherheit des Augenblicks, ohne Nahrung, ohne Waschmöglichkeit, ohne Wäschewechsel, stets voll angezogen, mit Schuhen an den Füßen, in ständiger Bereitschaft auf das Schlimmste – die Ausfuhr gen Osten. Sie jagten dorthin schon hunderttausende Juden, unter ihnen alle uns Nahestehenden. Es wuchs die Zahl der Waisen, Ratlosigkeit.

Abends in der Dämmerung stiegen wir vom Dachboden hinunter, um draußen ein bisschen frische Luft zu atmen. Um die späte Tageszeit führten sie keine Razzien durch. Der Vater kam gerade aus dem Schuppen, Chilek nach seinem „Dienst“ am Umschlagplatz zurück, und so standen wir zusammen erschöpft nach einem wie die Ewigkeit langen Tag. Plötzlich fuhren aus vier Seiten der Straße Rikschas an, aus denen bewaffnete Deutsche, Litauer und Letten heraussprangen. Das Versteck auf dem erhitzten Dachboden wurde ein unerreichbares Paradies aus der vergangenen Epoche … Das Wort „Halt!“ trug uns sofort in eine neue, einzig aktuelle Realität. Und schon sind wir die erste Viererreihe der Kolonne, die sich durch die Zurückkehrenden aus den Betrieben auf der arischen Seite vergrößerte. Eine Lauer auf die mit den besten Passierscheinen.

Auf der Straße lagen die ins Ghetto hereingeschmuggelten Kartoffeln, Zwiebeln, Zucker. Auf beiden Seiten der Kolonne unsere Herrscher und Henker. Schläge, Schüsse bei jeder Bewegung. Es versetzte mich in meiner Entwicklung um eine Ewigkeit voran. Die Mutter beruhigte, dass wir zur Feldarbeit fahren werden, dass wir jung und gesund sind, dass uns nichts Schlimmes droht. Ich solle nur überall erzählen, ich sei 17 Jahre alt! Sie zwackte meine Wangen, um sie zu erröten – ein Gesundheitsmerkmal, knüpfte mir schnell aus den Zöpfen eine Krone, damit ich größer aussah. In irgend einer Weise imponierte es mir und weckte Neugier.

Ich fühlte mich als ein Teil der großen Kolonnen von Menschen, mit äußerst gespannten, konzentrierten Gedanken und Nerven. Die Mutter schenkte mir bisher niemals so große Aufmerksamkeit. Sie schaute mich jetzt an, als wenn sie mein Schicksal durchdringen, vor ihm bewahren wollte. Wir wurden zum Umschlagplatz geführt. Massen von in ganztägiger Aktion gefangenen Juden, ein Geschiebe, Schreie, Gedränge! Verzweifelte Suche nach einem Versteck, nach Wasser, nach verloren gegangenen Kindern, Nächsten, um zumindest zusammen mit dem Zug wegfahren zu dürfen.

Plötzlich bringen die Deutschen ein Maschinengewehr und stellen es in der Mitte des Platzes auf, in die Menge zielend. Es wurde mucksmäuschenstill. Der vorletzte Augenblick … Wir umarmen uns stark alle vier, schauen uns tief in die Augen, wie man es vor dem Für-Immer-Weggehen macht. Nach einer Weile wird es uns nicht mehr geben. Chilek darf weggehen – man wird ja die Leichen wegschaffen müssen – doch er bleibt mit uns. Der Vater drückt uns krampfhaft an sich, die Mutter rückt ein bisschen ab, schaut mich konzentriert und liebevoll an: Jeder muss irgendwann sterben, sagt sie – wir sterben jetzt zusammen. Hab keine Angst, es wird nicht schlimm sein … Ich hatte keine Angst mehr, sogar der Tod kam mir harmlos und unbedeutend vor angesichts der Macht der Gefühle in der letzten Umarmung, in voller Empfindung unserer Menschlichkeit, die alles andere in den Schatten stellt.

Pfiff des heranfahrenden Zuges. Das Maschinengewehr wurde entbehrlich. Sie werfen sich gegen uns mit Gewehrkolben, Schlagstöcken, Ruten, schießen in die irre Menge, sie in die Waggons treibend: Deutsche Gendarmen, SS-Männer, polnische und jüdische Polizei! Laute Schreie, Beschimpfungen, Weinen. Der Vater sagt, er zeigt vor dem Waggon seinen Ausweis, und wir werden entlassen, Chilek hat die Nummer eines Beschäftigten des Umschlagplatzes und ist von der Ausfuhr nicht bedroht. Die Mutter schenkt den Papieren keinen Glauben, nimmt mich und Chilek an die Hand und entfernt sich mit uns vom Zug. Der Vater versucht die Mutter zu überzeugen, geht jedoch hinter uns, damit wir nicht verloren gehen. Das Wichtigste jetzt – Zusammenbleiben!

Wie aus dem Boden wächst eine Gruppe jüdischer Polizisten auf, umkreist den Vater. Deren Schlagstöcke fallen auf ihn von allen Seiten. Der Vater versucht sich mit den Händen zu schützen, dann bückt er sich, Schläge fallen auf seinen Rücken, und er verschwindet in der Menschenmenge. Für immer. Ich habe sogar kein Foto meines Vaters. Dies ist sein letztes Bild vor meinen Augen. Es blieb in mir fürs ganze Leben.

Chilek fing an zu schreien die Mutter anflehend: Komm in den Zug. Was mit allen Juden passieren wird, soll eben auch uns passieren! Sie kennen hier jedes Versteck, ermorden euch und befehlen mir, eure Leichen zu beseitigen, ich will diesen Moment nicht erleben! Ich war des ständigen Sich Versteckens und der Anspannung auch schon satt, fühlte eine Kraft und Stütze in dieser Menschenmenge. Die Mutter hörte jedoch nicht zu: dumme Kinder, sagt sie ruhig, der Zug bedeutet den Tod, dorthin gelangen wir immer noch … Endlich beruhigte sich alles, wir blieben zu dritt in einer Ecke des Platzes. Auf der Erde Bündel, zerstreute Sachen, verlorene Schuhe. Entsetzliche Friedhofsstille.

Chilek versteckte uns im Kanal, wo wir beinahe erstickten. Öfters zog er von hier aus Leichen heraus. Zum Glück zeigte sich bald, dass die Waggons nicht alle fassen konnten, eine Gruppe gefangener Juden wurde ins Polizeigebäude gebracht. Wir konnten zusammen mit ihnen den nächsten Morgen abwarten, bis zur Ankunft eines neuen Zuges. Der Mutter gelang es inzwischen, einen jüdischen Polizisten zu bestechen. Er zeigte sich bereit, für einen Hochzeitsring, zwei Kilogramm Reis und Vaters Anzug – all das hielten wir auf einem Dachboden versteckt – uns in die „Freiheit“ zu bringen! Als gewöhnlicher Bestechungspreis fürs Wegbringen vom Umschlagplatz galten 10.000 „pro Kopf“.

Es folgten weitere Wochen mit Razzien, Verstecken, Qualen, danach eine große mehrtägige Selektion im September zu Rosch Haschan (jüdisches Neujahr), genannt Kessel in der Miła (Miła Straße), wobei die Deutschen Zehntausende von Menschen aus dem Ghetto ausfuhren. Nach diesem Vorfall wussten schon alle, dass die Aussiedlung gen Osten, Waggons, Umschlagplatz den Tod in Treblinkas Gaskammern bedeutet. Aus einer halben Million Juden des Warschauer Ghettos blieben lediglich einige Zehntausend übrig. Wir ´noch´ unter ihnen. Ohne Vater. ¹)

Verwaisung, Zerstörungen, Leere. Ringsherum Fetzen früherer Familien. Die Mutter arbeitete im Schuppen, nähte Uniformen fürs deutsche Militär, und ich, versteckt unter ihrer Nähmaschine, nähte Knöpfe an, um meiner Berechtigung zum Leben nachzukommen. Das Ghetto umfasste jetzt nur einige, nicht zusammenhängende Straßen und wurde in ein Arbeitslager umgewandelt. Chilek und Marek arbeiteten auf der arischen Seite, beschafften Nahrung für geschmuggelte Sachen aus leer stehenden Wohnungen nach Ausgesiedelten. Juden verbat man sich draußen aufzuhalten außer einer Stunde am Morgen, als man unter Eskorte zur Arbeit ging, und einer Stunde am Abend für die Rückkehr. SS-Männer wüteten ständig im Ghetto, schossen, lauerten auf den Dachböden, weil man von ihnen aus im geheimen in die anderen Straßen gelangte.

Chilek heiratete. Helas Eltern (stammten aus Bydgoszcz – Bromberg) wurden während der September Selektion in der Miła weggebracht. Wir versteckten uns damals auf einem Dachboden, weil Mutter die Ausweise verlor. Zum Glück – als ihr Schuppen an der Reihe war, hörten die Deutschen auf auszulesen und trieben alle in die Waggons. Nach der Selektion fanden wir den Ausweis zwischen zerstreuten Dingen in der Wohnung liegen …

Es wurde herumerzählt, die Deutschen lösen im Frühjahr das Ghetto endgültig auf. Warschau soll judenrein werden! Es begann eine fieberhafte Aktion des Baus unterirdischer Bunker in der Hoffnung, dass nach der Niederlage der Deutschen bei Stalingrad der Krieg nicht allzu lange dauern wird, und man in den Bunkern eine Überlebenschance hat. Man versorgte die Bunker mit Pritschen, Lebensmitteln, Wasser, Ventilatoren, Brechstangen (um aus den Waggons fliehen zu können), einige sogar mit Waffen, Gift – um nur nicht nach Treblinka zu gelangen! Man bereitete einen jüdischen Aufstand vor. Die im Ghetto zurückgebliebenen einzelnen Familienmitglieder hatten nichts mehr zu verlieren, würden niemanden mehr gefährden. Vor Ostern gingen wir ins sogenannte kleine Ghetto, auf Miła, wo meine Mutter einen Platz im Bunker besorgte, für den sie bezahlen musste.

Die deutsche Wache an der Stelle, die wir abends passieren müssten um ins kleine Ghetto zu gelangen, galt als besonders brutal, und Marek beschloss, dass wir keine Lebensmittel mitnehmen. Er erledigt das später … Mutter nahm lediglich ihr Körbchen mit Mehl, Würfelzucker und eine Flasche Öl mit, was nicht auffiel.

In Miła stießen wir unerwartet auf Erna mit ihrer Mutter. Lebendige Geister einer kürzlich und doch so weit entfernten Vergangenheit, wie auch wir es waren. Sie redeten mir zu, bei ihnen zu übernachten, wir haben uns schließlich so viel zu erzählen! Doch Marek widersetzte sich: Wir dürfen uns nicht voneinander trennen, man weiß nicht, was die nächste Stunde … Marek kehrte allein zurück, um die restlichen Lebensmittel aus unserer vorigen Bleibe zu holen.

Ostern, 19. April 1943 „Leil Haseder“ – Sedernacht, die Mutter weckte uns mit Gewalt: Aufstehen, die Deutschen umstellten das Ghetto, wir steigen in den Bunker ab, schnell! Spannung, Eile, betörende Angst und die Hoffnung der Rettung in der Finsternis der Unterwelt, getrennt vom Außenlicht. Übles, schwaches Lichtlein, Schwüle, Hitze. Nervosität, Schreie und Streitigkeiten auf übervölkerten Pritschen und in engen Durchgängen. Es kamen gleichzeitig mehr Menschen zusammen, als Plätze vorhanden waren. Auf den Pritschen konnte man sich nur liegend bewegen. Die Deutschen gingen nicht mehr von Haus zu Haus um die Juden zu holen, sie brannten einfach eine Straße nach der anderen ab. Menschen brannten bei lebendigem Leibe, erstickten vom Rauch, die Weglaufenden wurden auf der Stelle erschossen oder zum Umschlagplatz gebracht. Bunker, die das Feuer nicht erreichte, setzten sie unter Wasser. Ernas Bunker auf Nalewki wurde überflutet. Es versteckten sich dort mehrere Dutzend Menschen. Marek erlaubte mir gestern (oder vor einer Ewigkeit?) nicht bei meiner Freundin zu bleiben … Auch sein Aufenthaltsort wurde von unserem abgeschnitten. Im Versteck tauschte man Tag gegen Nacht, damit die Greifer und deren Helfer und Verräter uns nicht hörten und fanden. Nachts suchten sie nicht.

Wir fielen vor Hunger in Ohnmacht. Die Mutter teilte uns je ein paar Stunden einen Würfel Zucker, einen Teelöffel Marmelade und ein bisschen Wasser aus. Sie konnte sich nicht zum Herd durchsetzen um Klöße aus Mehl zu kochen – dort standen stets die Stärksten. Die Menschen lagen auf Pritschen oder bewegten sich nervös, fast nackt, um diese herum. Der Bunker füllte sich über die Grenzen seiner Fläche, weil die Weglaufenden aus den brennenden Häusern auch zu uns hinstießen. Der Rauch drang in die Mitte ein. Wegen Mangel an Sauerstoff konnte man sogar keinen Streichholz anzünden. Die Menschen fielen mit röchelndem Atem um.

Über uns Feuer, Schießerei, Panzer, Artillerie und Panzerautos gegen eine Handvoll jüdischer Aufständischer und gegen uns Versteckten im Untergrund … Die Stärkeren wässerten Handtücher und schwenkten mit ihnen, damit Luft, erfrischende Kühle täuschend.. Man teilte sogar den letzten Tropfen Medizin. An der Todesschwelle wird nicht viel benötigt, nur ein Fünkchen Leben braucht viel um auszuhalten, bevor es erlöscht.

Ich lag auf der Pritsche beinahe ohnmächtig, als mich meine Mutter stark am Arm rüttelte: Zieh dich schnell an, sie „erspürten“ uns, stürmen schon den Eingang! Womit misst man die Niederlage der Hoffnung, wie viel Zeit wird benötigt um sie wahrzunehmen und in den nächsten Wettlauf mit dem Tod zu treten?! Eine ins Innere geworfene Granate, eine heruntergelassene Leiter, Gestalten in grünen Uniformen und hohen Schaftstiefeln versetzen und blitzartig in eine neue Ära: „Alles heraus! Es droht euch nichts, ihr fahrt zur Arbeit, nur artig den Befehlen folgen! Schneller!“ Ist es vielleicht wahr? …

Nach drei Wochen Dunkelheit wieder Tageslicht! Sie helfen uns sogar nach außen auf die Leiter. Sie haben Angst, dass jemand Waffen besitzt und schießen wird, was in diesen Zeiten auch vorkam. Sie fügten uns einer Kolonne auf der Fahrbahn hinzu – zum letzten Mal. Anfang Mai. Kampfspuren auf den Straßen, Panzer, Panzerautos, kein intaktes Haus im Ghetto, sogar die Gerippe der verbrannten Häusern wurden in die Luft gesprengt, damit sie keinem als Versteck dienen können. Auf der anderen Mauerseite spielte jemand Klavier.

Umschlagplatz. Zum zweiten Mal, Chilek, Hela, Halina. Wieder in das Schulgebäude – Polizeigebäude. Sie pferchten uns auf dem Fußboden in einer ehemaligen Klasse zusammen. Das Warten auf einen Zug die ganze Nacht in vollem Bewusstsein der Bedeutung der Worte „zur Arbeit im Osten“. Es verringert nicht die Ratlosigkeit, doch auch diese nahe, unvermeidbare Zukunft liegt weit weg im Angesicht des Schreckbildes vor dem Zug. Wir dürfen uns nicht bewegen unter Androhung der Erschießung. Ein nach dem anderen Mal taucht irgendein Deutscher auf und sucht sich jemanden aus. Der von ihm Ausgewählte soll ihm Geld, Gold, Schmuck geben! Einer kam mit leeren Flaschen in den Händen heraus.

Ich drückte mein Gesicht auf Mutters Knie, stopfte die Ohren mit Fingern zu. Die Mutter beugte sich über mich um mich zu beschützen. Es dauerte wohl eine Ewigkeit, oder ich war dem Sterben nahe, nichts sehend und nichts hörend. Plötzlich fühlte ich, dass Mutters Körper vom unterdrückten Krampf zitterte. Meine Mutter brach niemals zusammen, weinte nie. Ich zog die Finger aus den Ohren heraus. Grabesstille, unterbrochen von Peitschenschlägen. Ich hob den Kopf hoch. Mein Bruder! Chileks Gesicht zerschlagen, blutend; vom Schmerz verengte Augen hinter zerschlagener Brille. Er ächzte sogar dann nicht, als der andere ihn folterte. Setzte sich leise neben Hela und Mutter. Wollte Wasser, jedoch Mutter hatte in ihrem Körbchen nur eine Flasche Öl …

Wie wilde, blutdurstige Bestien fielen sie morgens ins Gebäude hinein. Sie trieben mit Schlägen und Schießereien in die Waggons. Ich drängte mich zwischen den sich auf der Treppe zertrampelnden Menschen durch, und hielt mich dabei krampfhaft an meine Mutter fest, um nicht verloren zu gehen. Die kurze Entfernung vom Gebäudeausgang bis zum Zug musste auf den Leichen der Getöteten erfolgen und dauert für mich das ganze Leben, und ich kann nicht bestimmen, aus welchem Kreis der nacheinanderfolgenden Epochen.

Wir befanden uns im Waggon. Kein Wunder schaffte es zu verhindern. Die Deutschen zeigten sich nicht weniger mächtig und grausam nach ihren Niederlagen im Osten. Himmel und Erde öffneten sich nicht über dem Massenmord eines Volkes in Verzweiflung oder Gnade. Doch wer würde in dieser Situation darüber nachdenken?! Es gab kein bisschen Platz, wo man die Füße hinstellen konnte, sich vor der bedrängenden Masse zu schützen und einer Zertramplung zu entgehen. SS-Männer schlugen mit Gewehrkolben die am Waggoneingang Zusammengepferchten, bis sie auf andere fielen, sich mit anderen zusammenklebten und auf diese Art Platz für die Nachfolgenden schafften … Sie schlugen die Waggontür zu und verplombten diese erst dann, wenn sich kein Platz für eine Stecknadel im Innern mehr fand.

Der Zug fuhr los. Die engen Waggonfenster wurden von den Stärksten zugestopft und ließen keine Luft hinein. Die Menschen kämpften um jeden Raumzentimeter Platz, stritten, trampelten und erstickten andere mit ihrem Gewicht. Die ab und zu von Polen hineingeworfenen Flaschen mit Wasser riss einer dem anderen aus der Hand, aus dem Mund – wurden Beute der Stärksten. SS-Männer schossen nach den durch die Fenster  Herausspringenden, schossen ins Innere der Waggons.

Ich stand auf dem Menschenhaufen hineingedrückt in die Mutter und schaute verzweifelt auf die bedauerliche Flasche Öl in ihrem Körbchen – eine Flüssigkeit, doch nicht um den Durst zu löschen!!! Ich wusste schon über Treblinka Bescheid, doch die Mutter beteuerte, wir fahren zur Arbeit. Ich war dankbar für jede Lüge, um nur den Namen der schrecklichen Station nicht hören zu müssen. Und dann wurde mir alles egal, weil ich in dem Waggon nicht mehr aushalten konnte.

Ich stürzte. Andere fielen auf mich nieder. Mich erfüllte eine Dunkelheit, ich fühlte nichts mehr. Unterdessen fiel jemand auf mein Gesicht, auf meine Nase, unterbrach mein Atmen! Mit übermenschlicher Kraft fing ich an mich herumzubalgen, bis ich mich aus dem erstickenden Haufen und meinen zugeschnürten Stiefeln befreien konnte. Dabei zog ich mir blutende Wunden an den Beinen zu. Ich entkleidete mich beinahe gänzlich, und auf dem Berg aus Sterbenden, Toten und meiner Kleidung erreichte ich das Fenster. Ich steckte den Kopf hinaus, der Gewehrlauf eines auf der Waggontreppe stehenden SS-Mannes berührte meinen Kehlkopf. Endlich hatte ich Luft, die ich mit dem ganzen Körper aufsog!

Der Zug blieb an irgendeiner Station stehen. Nacht, es regnete. Geschrei, Schläge: Raus!!! Wir bewegen uns in einer großen Kolonne von Menschen, watend im Morast. Vor Durst wollte ich den Dreck lecken. Mein Körper war lediglich mit einem Männermantel bedeckt, den ich in der Dunkelheit im Waggon fand. Doch ich war mit der Mutter, dem Bruder, der Schwägerin und der Cousine zusammen, wir gingen nicht verloren! Es stellte sich heraus, wir sind in Lublin. Wir küssten uns vor Freude, dass es nicht Treblinka ist …

Mich an Chilek stützend watete ich barfuß im Dreck. Die Deutschen schossen auf diejenigen, die nicht imstande waren zu gehen. Die Mutter zog einer toten Frau Schuhe mit hohen Absätzen aus – ich sollte doch aussehen wie eine 17-Jährige! … Chilek riss einen Absatz ab, weil ich in den Schuhen nicht gehen konnte, den zweiten schaffte er nicht mehr. Gerade erreichten wir die Stelle, an der Männer von Frauen mit Schlägen getrennt wurden. Es wurde auch erzählt, sie nehmen Alte und Kinder mit. Ich sagte meiner Mutter, sie soll nicht hinter mir hergehen, falls sie mich mitnehmen sollten. Die Mutter schaute mir in die Augen und fragte, ob ich wirklich glaube, sie könnte mich zurücklassen?!

Chilek umarmte uns, bevor der SS-Mann ihn mit Peitsche schlug und für immer von uns trennte. Er warnte mich noch im letzten Moment, ich solle mich nicht an die Mutter stützen, weil sie sonst unter meiner Last stürzen könnte. Es wehte ein kalter Wind. In der Menge der Frauen auf dem Platz bedeckte mich die Mutter mit ihrem Mantel. Sie sagte, bald werden wir ins Bad gehen, bekommen andere Kleidung, und danach erwärmen und stärken wir uns in einer Lagerbaracke. Ich hörte ihr ungeduldig zu. Ein Nagel in der Ferse durch den abgebrochenen Absatz und der hohe Absatz des zweiten Schuhs machten mir zu schaffen. Noch wusste ich nicht, dass diese Schuhe meine Rettung während der Selektion auf Majdanek herbeiführen werden. Die Häftlinge zum Appell herausjagend schickte die Aufseherin Frauen mit kranken, wunden Beinen auf einen Lastwagen – zum Vergasen. Sie hielt mich an, doch als sie bemerkte, dass der fehlende Absatz eines Schuhs der Grund meines Humpelns ist, ließ sie mich weitergehen! …

Ständig zogen sie auf dem Platz Frauen heraus und führten diese irgendwo ab. Jetzt waren wir an der Reihe. Chileks Warnung im Hinterkopf beachtend stützte ich mich an meiner Cousine ab. Die Mutter mit der Schwägerin folgten uns. Der Schmerz in den Beinen stumpfte mich gegen alles ab, ich überlegte nur, wie ich den nächsten Schritt ausführen soll. Plötzlich befand ich mich in einer großen Baracke voller Kleidung, in der auch uns befohlen wurde, uns auszuziehen, ausgenommen die Schuhe. Endlich ein Bad! Eine Menge nackter Frauen unter den Duschen, auch Halina war dabei, und Hela. Die Mutter hatte Recht, sie werden uns nicht töten, wir bleiben am Leben, werden arbeiten!

Ich wollte sie umarmen, an mich drücken … Zunehmend nervöser suchte ich sie mit meinen Augen in der Menge der nackten Frauen. Der Blick meiner Augen haftete an der Tür. Sie kommt bestimmt gleich herein, sie muss hereinkommen!!! Ich fühlte noch die Wärme ihres Körpers unter dem Mantel, mit dem sie mich vor kurzer Zeit auf dem Platz bedeckte. Sie kam nicht! Vor Angst wagte ich nicht die Schwägerin zu fragen, wollte nicht die Antwort hören. Ich hing in einer Abgrundleere ohne Ausgang, ohne Sinn. Es gibt keine Mutter mehr, sagte Helas unverständliche Stimme, jetzt bin ich deine Mutter. Ich konnte den Sinn ihrer Worte nicht verstehen, ging im Kreis herum und wiederholte stumpf: es gibt keine Mutter mehr, es gibt keine Mutter mehr!!! Es wollte nicht in meinen Kopf hinein.

Mit ordinären Beschimpfungen und Schlägen auf die nackten, nassen Körper wurden wir in einen kalten Raum getrieben. Dort warf man uns Kleidung zu, zu große, zu kleine, wie im Zirkus. Mir fiel ein elegantes schwarzes Ballkleid mit Spitze zu. Hela zog es mir an, schnürte es in der Hüfte um es einzukürzen und mir das Gehen zu ermöglichen. Sie flehte mich dabei an: Halina, schau mich nicht an, ich habe Angst vor deinen Augen! … Was für Augen hatte ich damals, die so erschreckend wirkten? Wer war ich?

Hela kämpfte für mich und für sich selbst um einen Platz auf dem Fußboden der überfüllten Baracke, um eine Schüssel für Suppe, von denen es viel weniger gab als vor Hunger und Durst wahnsinnige Frauen; sie drängelte am Kessel um eine Wassersuppe aus Brennnesseln, um ein Stück Brot. Wir trennten uns nicht für eine Weile. Doch Hela wurde zunehmend magerer, schwächer, schwand in meinen Augen, und ab diesem Zeitpunkt fing ich an zu kämpfen, um sie nicht zu verlieren. Öfters gab ich ihr meine Suppe ab, wenn es mir gelang nur eine Schüssel Suppe zu ergattern und ich schwor, ich kann es nicht herunterschlucken, damit sie die Suppe nur annimmt. Ich wärmte sie mit meinem Körper, versteckte sie hinter mir vor Kapos, die uns zum Tragen von Steinen heraustrieben. Wir umarmten uns während der kurzen Ruhephasen auf dem Fußboden der Baracke, Zuversicht eine von der anderen schöpfend. Wir teilten zwischen uns jedes Brotkrümel, jeden Schluck Suppe – jede Aufmerksamkeit und jeden Gedanken, den wir mit Blicken übermittelten, wenn uns die Kraft fehlte, ihn auszusprechen.

Es vergingen einige Monate mit Hunger, Krankheiten, Schlägen und Zwangsarbeit. Ständige Selektionen, keine Möglichkeit zum Waschen, Kleiderwechseln. Das Bad, in das man uns unter Eskorte nach dem Appell trieb, könnte sich als Gaskammer erweisen, und man war niemals sicher – Wohin?

Im Juli 1943 fingen sie mit der Auswahl der gesündesten, kräftigsten Mädchen für die Entsendung in Arbeitslager an – hier war es ein Konzentrationslager, ein Vernichtungslager. Für den ersten Transport eigneten wir uns nicht, für den zweiten wählten sie mich aus, doch ich lief weg, weil Hela als zu mager nicht mitkommen durfte. Wir schafften es beide gemeinsam für den dritten Transport. Nachdem alle Daten über uns notiert wurden und Suppe verteilt wurde, schloss man uns mit Schlüssel in eine Baracke ein. Wie gewöhnlich umarmt auf dem Fußboden sitzend träumten wir von dem besseren Lager.

In der Nacht drangen die Deutschen in die Baracke ein. Mit Gewehrkolben schlagend, schreiend und Hunde hetzend trieben sie uns nach außen, stellten in eine Kolonne zusammen, zählten mehrmals durch, bis sich von dem Zählen im Kopf drehte und führten uns ab – in die Gaskammer. Unseren ganzen Transport. Als ob es ein Bad wäre, Brausen. Wir warteten nackt unermessliche Stunden lang.

Ich hielt Helas Hand, schaute auf die Brausen, aus denen Gas kommen sollte: Wie wird es sein zu sterben, was ist der Tod??? Und vielleicht verschwinden sie plötzlich, vielleicht geht der Krieg plötzlich zu Ende? Früh stellte sich heraus, dass gerade diese Nacht das Gas ausging! … Wir überlebten unseren Tod. SS-Männer zählten uns nochmals durch, Funktionshäftlinge verteilten Brotportionen, die wir gleich verzehrten. Sie trieben uns in einen Zug. Wieder mal Viehwaggons, doch dieses Mal bei geöffneten Türen, in die sich zwei Wehrmachtssoldaten bequem hinsetzten. Wir mussten uns in Reihen hinsetzen, eine zwischen den gespreizten Beinen einer anderen, um jedes Flächenzentimeter auszunutzen, Uns verboten sie unter Androhung der Erschießung, die Lage zu ändern. Endlich konnten wir sitzen, doch wer hätte geahnt, dass es unverändert zwei Tage lang dauern wird?!

Julihitze, Durst, Hunger und Nadeln im ganzen von der Unmöglichkeit der Bewegung erstarrten Körper. Eine neu erkannte Qual – das Sitzen. Eine Frau aus der nächsten Reihe, die mit ihren Beinen ihre Tochter umschloss, hob sich etwas hoch und fing an, um die Erlaubnis flehentlich zu bitten sich für eine Weile auszustrecken. Einer der Soldaten stand auf, zog sein Gewehr herunter und zielte. Wir erstarrten. Ich dachte, er droht nur. Die Kugel traf ihre Schläfe. Sie wurde blasser und blasser, stürzte tot in die Arme ihrer Tochter. Der Soldat hängte sein Gewehr auf die Schulter, setzte sich auf seinen Platz und knurrte, man solle den Leichnam herauswerfen, und die Kleine soll stillhalten (sie weinte leise), sie wird auch bald krepieren, ist doch nur eine Jüdin! Der Zug rollte in die Station ein: Auschwitz. Es erschien ein Tor mit großer Aufschrift: “Arbeit macht frei“.

Reihen gemauerter Baracken, Stacheldraht unter Strom, Wachtürme mit herausguckenden Maschinengewehrläufen, wie auf Majdanek. Aus den Barackenfenstern und um die Baracken herum Gestalten, die weder Männern noch Frauen, weder Alten noch Kindern ähnelten … Abrasierte Haare, seltsame, farblose Kleidung, übergroße, verdreckte Holzschuhe auf den Füssen, farblose Gesichter. Unendlichkeit des Bösen. Von hierher komme ich niemals mehr heraus. Dachte ich zunehmend niedergeschlagen. Es gab jedoch keine Zeit zum Nachdenken, man musste schnell nach den Regeln der neuen Hölle agieren. Nur Hela nicht verlieren in der wilden, betörten Frauenmenge, sich erkundigen, welche Aufseherin weniger grausam ist, welchen Beruf angeben, der im Lager benötigt wird, um damit eine Chance zu leben zu wahren, wo man endlich einen Schluck Wasser bekommt?!

Der Abend traf uns schon den gequälten Verhafteten ähnlich an. Unsere Köpfe waren schon rasiert, am linken Unterarm eine eintätowierte Nummer, ebenso seltsame, elende Kleidung mit einem großen, mit roter Ölfarbe aufgemalten Kreuz, schwere Holzschuhe, die man aus dem Morast nicht herausziehen konnte. Wir standen schon mehrere Stunden auf einem Appell im stinkenden Dreck vor dem Block, unter Schlägen und Schmähungen.

Hunger, winzige Portionen einer Wassersuppe aus Steckrüben und Brot einmal täglich, ständige Schläge, Beschimpfungen, Dreck, Läuse, Krankheiten jeglicher Art, für die man ins Gas geschickt werden kann. Keine Waschmöglichkeit, keine Wechselmöglichkeit der vom Regen und Extremitäten faulender Kleidung, Feindseligkeiten auf den Pritschen, den Latrinen, bei Kesseln mit Suppe, Arbeit über die menschlichen Kräfte. Und über dies der Geruch des brennenden menschlichen Fleisches. Ich atmete ihn beinahe Tag und Nacht während der zwei Jahre. Auf dem Weg zur „guten“ Arbeit im Reich der Nahrung und Kleidung der Ermordeten stießen wir an die zur Vergasung geführten Häftlinge. Auf der Rampe waren stets viele Menschen, zusammengebracht aus ganz Europa für die Gaskammern, die tagüber und nachts arbeiteten. Man konnte nicht vorbei: Menschenmengen getrieben ins Gas – und wir, entgegengerichtet gen „Kanada“, um die Sachen zu sortieren, die nach Deutschland verschickt werden.

Eines Tages hielt unser Kommando neben einem Ehepaar mit Kleinkind auf den Armen an. Fragten, wie weit es zur jüdischen Kolonie ist, weil man das Kind füttern müsse. Wir schwiegen. Sie hatten nur noch einige Meter bis zur letzten Kolonie ihres Lebens – im Himmel, als Rauch aus dem Kamin. In „Kanada“ stand ich auf einem Haufen Kleidung vermischt mit Fotos, Briefen, Lebensmittelpaketen, und konnte kein Wort aus mir herausbringen. Worte verloren jeden Sinn! Mir schien es, hier trieb man alle Menschen um sich nackt auszuziehen – und es gibt keine Welt mehr, und uns werfen sie nach dem Ordnen des Gepäcks auch in das Feuer. „Kanada“ bedeutet „Keine da“!

Ich gab stets an, ich sei 17, wie mir meine Mutter im Ghetto einprägte. Im Lager richtete man einen speziellen Block für Kinder ein. Dort gaben sie weißes Brot, Milch, Butter und zwangen nicht zur Arbeit. Es meldeten sich in diesem Block auch Frauen an, die mit ihren rasierten Köpfen und der unglaublichen Kleidung wie Kinder aussahen. Die guten Bedingungen des Kinderreiches lockten sie an. Sie spotteten, dass ich dort nicht hingehen will, um mich von Hela nicht zu trennen. Du könntest auch ihr helfen, hielten sie mir vor … Nach einigen Wochen wurden alle auf Lastwagen geladen und in die Gaskammern gebracht.

Hela verwandelte sich in ein lebendes Skelett. Eingefallene Wangen, große, ausgehungerte Augen, knochige Hände und Beine. Ich mied ihren Blick, als sie flehte, ich soll die Stubenfrau um eine zusätzliche Portion Suppe bitten. Ich war nicht imstande die Hand auszustrecken, mich wegen Bettelns für Schläge und Beleidigungen zu gefährden. Es war leichter für mich, meine Suppe abzugeben. Ich erklärte ihr und mir selbst – sollte es uns gelingen von hier herauszukommen, so werden wir genug zu essen haben, und wenn nicht – die zusätzliche Portion Suppe stillt den ewigen Hunger auch nicht. Hela fehlte die Kraft, sich meine „Klugrederei“ anzuhören.

All dies wurde jedoch unwichtig beim Klang der Pfeife und der paralysierender Worte: „Alle Jüdinnen zum Appell!“, oder „Jüdinnen nach dem Appell nicht auseinandergehen!“ Man vergas den die Gedärme verdrehenden Hunger, die Kälte, das stundenlange Knien im Morast, im Regen, bei Frost – öfters ohne Schuhe, die gestohlen wurden oder für ausgedachte Vergehen und Strafen auszuziehen waren. In solchen Augenblicken bedeutete es das Warten auf ein Urteil – eine Handbewegung der deutschen Herrscher: nach links, in den Tod – nach rechts, zum Leben mit weiteren Qualen.

Ich ging hinter Hela auf dem Platz vor dem Bad an einem hellen Herbsttag. Sie stellten uns nackt in einer Reihe auf. Kranke, Magere, Schwache oder einfach solche, die ihnen nicht entsprachen, stellten sie links abseits. Ich sah noch nicht schlecht aus, zitterte jedoch um die Schwägerin, die keine Chance mehr hatte. Je näher wir uns dem sortierenden SS-Männern näherten, um so mehr rückte ich an Hela heran um sie mit meinem Körper zu verdecken. Voll Anspannung atmete ich schwer. Mengele hob seine Hand und sonderte Hela nach links ab! Ich umarmte und drückte sie mit voller Kraft an mich fest. Sie sind nur Menschen, keine höhere Kraft, können „Ja“ sagen und Hela bleibt, drehte sich mir im Kopf. Es liegt doch in der Macht eines Menschen!

Kapos zerrten an mir herum mit der Absicht, Hela von mir wegzureißen. Wer ist sie für dich? – ertönte die kalte Frage des Unterscharführers Taube. Sie ist meine Mutter, Schwester, Schwägerin, ich kann ohne sie nicht leben, sagte ich fieberhaft wie zu einem Menschen. Der Herrscher über Leben und Tod urteilte, ich solle mit meiner Schwägerin gehen. Die Blockführerin schrieb artig meine und Helas Nummer zum Vergasen auf. Ich lies mich jedoch auf keine Weise von der Stelle wegdrängen, Hela in meinen Armen haltend. Ich sterbe jetzt nicht in der Helligkeit des Tages, sagte ich mir, und ich kehre nicht ohne Hela zurück! Ich fühlte die ganze Kraft meines Lebens.

Der Vertreter des Lagerkommandanten, der gegenüber uns stand und sich inmitten hoher Offiziere die Selektion wie ein Theater anschaute, rief mich mit einem Fingerwink zu sich. Sei still! – unterbrach er mein Flehen, wenn nicht, so gehst du dorthin – zeigte er auf das Feuer aus dem Schornstein des Krematoriums, und wenn du schweigst, entlasse ich dich zusammen mit deiner Schwägerin. Die Offiziere brachen in teuflischen Gelächtern aus, mein misstrauisches: Jaaa? nachäffend. Hoessler befahl der Blockführerin, unsere Nummern aus der Liste der zum Tod Bestimmten zu streichen.

Eine heftige Ohrfeige warf mich um, als ich mich in Dankbarkeit Hoessler um den Hals warf. Zusammen mit Hela wurden wir neu geboren, doch sie nur für eine kurze Zeit. Sie sagte mir nach der Selektion auf ihre Hände und Beine zeigend – nackte Knochen, dass sie nicht mehr lebt, nur noch meine Atemzüge atmet … Ich versuchte ihr einzureden, dass der Krieg bald zu Ende geht und sie wieder gesund sein wird, wie früher.

Hela wusste besser als ich, das sich das Schicksal nicht zurückdrehen lässt. Noch schleppte sie sich mit den letzten Kräften mit mir zum Appell, zur Arbeit in der Näherei. Mit meinen Kräften versuchte ich gegen ihre Krankheiten anzugehen, ihr Erleichterung verschaffen. Ich schmuggelte in die Latrine Töpfchen, in die sie ihre Bedürfnisse verrichtete, weil sie nicht imstande war, sich rechtzeitig zur Barackentür zu schleppen und sich in die an Ruhr erkrankten Frauenmenge zu drängen.

Von den Hunderten von Erkrankten ließ man 10 – 15 unter Eskorte zu den weit entfernten, stets überfüllten Klos gehen! Das Erledigen seiner Bedürfnisse in das Essgeschirr bestrafte man oft mit dem Tod, doch man ertappte mich nicht. Ich ignorierte die Androhung von Strafen, dachte ausschließlich ans schnelle Entleeren des stets von Hela benötigten Töpfchens. Sie wurde vom Fieber, Skorbut und ständigen Durchfall mit Blut aufgefressen. Nachbarinnen unserer Pritsche beredeten mich, sie ihrem Schicksal zu überlassen, sie habe Tuberkulose, und ich stecke mich an. Sie hatten keine Ahnung, was Hela mir bedeutete, gesund oder krank!

Sie schaffte es nicht mehr von der Pritsche herunter, in ihr Bewusstsein drang nicht mehr der Sinn der Appellpfeife. Der Stubendienst trug sie auf der Trage heraus und legte sie neben mir im Morast nieder. Zum ersten Mal stand ich allein beim Appell. Hela schaute mich an als ob sie von mir Abschied nähme, als ob sie um Erinnerung an sie flehte oder als ob sie um Verzeihung böte, mich zurücklassen zu müssen. Ihr Anblick damals blieb in mir fürs ganze Leben wach. Hela wurde in einer Krankengruppe zum Revier (Krankenzimmer) abgeführt. Die Blockführerin versprach mir, mich mitzunehmen, wenn sie andere Kranke ins Krankenzimmer begleiten wird. Nach der beschriebenen Selektion verhielt sie sich etwas besser gegenüber uns. Seit dieser Zeit aß ich meine Brotportionen nicht auf, um sie Hela mit der Hoffnung zu bringen, dass sie erstarkt und zu mir zurückkommt.

Sie lag auf einer oberen Pritsche wie ein Geist. Ihr Gesicht erhellte sich als sie mich erblickte, sie ließ kein Auge von mir ab, als ob sie meine Gestalt einsaugen möchte: Halinka, du kamst zu mir, du kamst! Das Brot würdigte sie mit keinem Blick. Es war ihr nicht mehr nötig. Zugleich warf man mich mit Schlägen heraus. Nach einigen Tagen wagte ich die Blockführerin zu fragen, was mit Hela los sei. Sie antwortete barsch, dass es sie nicht mehr gibt. Ich musste wissen, ob man sie vergaste oder auf der Pritsche sterben ließ. Es war für mich äußerst wichtig. Die Blockführerin hörte für eine Weile auf zu fluchen und zu schlagen. Mit einer menschlichen Stimme antwortete sie, dass Hela auf der Pritsche also eines natürlichen Todes starb … Sie war 20. Keiner brauchte mich mehr, auch ich selbst nicht. Mich fesselte ein Gleichgültigkeitspanzer.

Einsamkeit, Fremdheit und Feindschaft ringsherum, weil es sogar an Luft zum Atmen fehlte und man um alles zerren und kämpfen musste. Züge, die unaufhörlich Menschen zum Tod brachten, standen gegenüber meines Blocks an der Rampe, Feuer aus dem Schornstein, Geruch des brennenden menschlichen Fleisches; Morast, Krankheiten, eiternde Wunden auf meinem ganzen Körper, Krätze, Läuse, Typhus – Selektionen. Ich ging alles durch, wurde jedoch nie zu einem Skelett. Kam oft mit dem Tod in Berührung, doch er mied mich. Die Gesundheit kehrte ohne Medikamente zurück, ich erkältete mich sogar nicht, obwohl ich nackt und barfuss draußen im Regen, bei Frost war, zum Trotz der Naturregeln … Mir gelang es, Krankheiten, das zum Leben nicht berechtigte Alter, für die der Todesurteil drohte, zu verbergen.

Mir war es nicht klar, wer ich bin, wem ich angehöre. Diejenigen, mit denen ich mit dem Warschauer Transport aus dem Ghetto und aus Majdanek hierher verschleppt wurde, entflogen mit dem Krematoriumsrauch. Stets änderten sich die Pritschengenossinnen, die aus anderen Transporten und anderen Ländern kamen und fielen wie Fliegen um.

Zweimal erlebte ich Weihnachten in Birkenau, als an einem Ende des Lagers bunte Lichter auf dem Tannenbaum brannten, Orchester beim Aus- und Einmarsch in das Lager spielte (übrigens, wie immer) – und am zweiten Ende eine Feuersäule aus dem Schornstein aus brennenden menschlichen Leibern. Und Gries auf Milch für die Gefangenen anstelle einer Suppe aus verholzter Steckrübe oder aus Kohlrabi – feierlich, wie sich Herrschern gehört, die die Tradition kennen und die alte Ordnung gewissenhaft befolgen – in der neuen Naziordnung.

Während der Typhus-Selektion entschied die Zungenfarbe über Leben oder Tod. Meine verriet mich nicht – sie wurde erst abends, nach der Selektion, weiß. Mich warf das hohe Fieber während der zwei Wochen ohne Nahrung, und die schwere Misshandlung von der Nachtwache auch nicht nieder. Bei der nachfolgenden Selektion hatte meine Zunge schon die entsprechende Farbe … Die Typhusepidemie dezimierte ohnehin das Lager, auch ohne Selektion. Frauen fielen ohnmächtig um während des Appells, der Arbeit, auf dem Revier. Die Blocks verödeten massenhaft.

Bei der letzten Selektion setzten sie lediglich irgendwelche Zeichen auf die Liste, führten niemanden zur Vergasung und alles geriet inmitten anderer Lageralbdrücken in Vergessenheit. Nach zwei Wochen trieb man uns nach dem Morgenappell zurück in die Blocks. Wir freuten uns, dass wir nicht zur Arbeit müssen und uns auf der Pritsche erwärmen können … Nach der Typhusepidemie blieben nur wir drei übrig. Ich umhüllte mich und Fruma mit einer Decke, und sie fing an von ihrer Mutter, ihrem Haus, Mutters Speisen zu erzählen. Plötzlich entstand im Block ein Gewirre. Man rief Nummern auf, schrie. Versunken in schönen Erinnerungen schenkten wir diesem Wirrwarr keine Aufmerksamkeit. Die mit wütender Stimme wiederholte Nummer schlug wie ein Blitz ein: Fruma! … Sie brach ihre Erzählung in der Mitte des Satzes ab und sprang von der Pritsche herunter. Die Wärme ihres Körpers blieb unter der Decke, in den Ohren der Klang ihrer Stimme. Die während der Selektion ausgezeichnete Frauen mussten sich an der Barackentür nackt ausziehen, und umhüllt in raue, dunkle Decken wurden sie ins Gas getrieben. Fruma war 16 Jahre jung, überlebte Typhus auf dem schweren Außenkommando, doch ihre Zunge gefiel den deutschen Spezialisten nicht.

Sabina, deren Mutter auf dem Weg nach Auschwitz im Zug erschossen wurde, jagte man noch früher ins Gas. Sie schleppte sich zum Appell und zur Arbeit mit vom Fieber erglühten Augen, mit einem Beutel gefüllt mit nicht verspeisten Brotportionen, und aufgeplatzten Lippen – flehte stets um einen Schluck Wasser! Einen Schluck Wasser!

Morgens stand ich nass von fiebernden Freundinnen, anfangs lagen wir zu sechzehn auf einer Pritsche! Es lockerte sich jedoch rasch aufgrund der Epidemien und Selektionen auf.

Die polnische Stubenführerin erlaubte mir einer Selektion draußen bei starkem Frost fernzubleiben, bei der man vor einem SS-Tribunal nackt und barfuß vorbeigehen musste. Als Hela noch lebte, goss mir Stasia manchmal etwas mehr Suppe beim Aufteilen ein. Am Jom Kipur teilte sie den Dienst im Block unter Nichtjüdinnen auf, und am Abend, nach der Rückkehr von der Arbeit, zündete sie Kerzen auf der oberen Pritsche gegenüber der Tür an und bat, nicht auseinander zu gehen, und stattdessen in Stille um das Erleben der Befreiung zu beten, jede auf ihre Art.

Die kleine Polusia, die mir im Weberei-Kommando beim Erfüllen der Norm beim Flechten von Seilen aus Lumpen half, bewahrte mich vor schweren Strafen. Dank Polusia und der mit ihr befreundeten Stubenführerin gelang es mir später in „Kanada“ eine Beschäftigung zu bekommen, wo ich endlich einige Wochen lang nicht zu hungern brauchte. Dort durchschaute ich von nah den Prozess des massenhaften Mordens und der massenhaften Plünderung.

Kapo Alwira vom Kartoffelkommando teilte mich zur leichteren Arbeit beim Einsäuern von Kohl ein, wo es eine Zentralheizung und genügend Kohl und Steckrüben zum Essen gab … Das Schleppen von Tragen mit Kartoffeln zu den Gräben in aufgewühlter, sumpfiger Erde hätte ich nicht ausgehalten. Alwira rettete mich später während des Todesmarsches noch ein Mal, als ich dem Sturz nahe war und beinahe auf dem Weg erschossen werden konnte. Sie trug mich, selbst mit Mühe noch atmend. Elwiras Vater war ein Jude, ihre Mutter eine Deutsche.

Frau Prajs und ihre um ein Jahr von mir ältere Tochter nahmen mich nach dem Verlust von Hela an. Sie dienten der Blockführerin, einer slowakischen Jüdin, und bekamen dafür mehr Suppe, mehr Platz auf der Pritsche, Schuhe, die nur in kleinen Anzahlen zugeteilt wurden – sie mussten nicht an den lang andauernden Appellen teilnehmen und blieben von Selektionen verschont.

Ich lernte sie kennen, als ich in ihrem Block mit meiner Portion Brot kam, um es bei den Ukrainerinnen gegen Teersalbe einzutauschen, die gegen Krätze hilft. Sie besorgten die Salbe bei ihrer Arbeit. Ich wollte dabei meine Cousine treffen, die in diesem Block lebte. Es zeigte sich jedoch, dass sie während einer Selektion weggenommen wurde, obwohl sie noch gut aussah. Die Blockführerin schob Halina vor: „und diese, Herr Unterscharführer?“ Er lehnte nicht ab.

Im Herbst 1944 hörten die Transporte zum Vergasen auf. Es gab fast keine Juden mehr in Europa. Nach ihnen blieben verwehte Asche und sorgfältig sortierte Sachen übrig, die nach Deutschland ausgefahren wurden. Ich arbeitete auch beim Sortieren und Versand. Es näherte sich das russische Heer. Die Deutschen zerstörten die Gaskammern und Krematorien in einer Aktion der Beseitigung der Spuren ihrer Verbrechen; sie fuhren Häftlingstransporte in andere Lager, die meist tief in Deutschland lagen, aus. Es näherte sich das ersehnte Ende des Königreichs Auschwitz, und sollten uns die Deutschen vor Verlassen des Lagers nicht töten, werden wir bald frei! Ich war schon 15 Jahre alt. Für hereingeschmuggelte Kartoffeln und Kohl beschaffte mir Frau Prajs warme Kleidung, Lederschuhe – eine extra Portion Brot täglich.

1 Januar 1945, Neujahrstag, und wir brauchten an diesem Tag nicht zu arbeiten. Sonne  und Schnee… Ich entschloss mich an den Drahtzaun heranzugehen, was durchaus erlaubt war, um Celina, Mareks ehemalige Schulkollegin, die Verbesserung meiner Situation mitzuteilen. Róźka ging trotz Warnungen ihrer Mutter, die wir nicht ernst nahmen, mit. An dieser Stelle am Zaun verständigten sich viele Frauen. Celina stand als Krankenschwester in Gunst bei ihrer Blockführerin und half mir auch ein bisschen. Früher teilte sie zu dritt die Pritsche mit Frau Prajs und Róźka, später wurde sie in ein anderes Lagerteil verlegt, das an unseres grenzte.

Ich rief: Celina! Plötzlich ein Schuss, und gleichzeitig wurde mir heiß und ich hatte furchtbare Schmerzen in der Hand. Der Wärter vom Turm zielte auf mich. Ich lief blind Róźka nach. Der Schmerz in der Hand wie nach einer Sprengung, am liebsten würde ich die Hand von mir abtrennen. Es wurde mir dunkel vor Augen, ich fiel, riss mich los, der Kopf dröhnte. Bin ich tot?! Einen Schritt vor der Befreiung nach über fünf Jahren voller Qualen! Ich erlaube dem Leben nicht zu entweichen! Sterbe nicht! Ich drückte die Zähne und Fäuste zusammen.

Hinter Róźka gehend schleppte ich mich zum Revier. Es zeigte sich, die Kugel durchbohrte meinen Oberarm, ging nahe des Herzens durch und blieb neben der Wirbelsäule und der Lunge stecken. Sie legte meine linke Hand lahm. Jetzt drohte keine Gaskammer, doch es gab einen Arzt der SS, der die schwer Kranken auf der Pritsche totschlug. Ich schaute mit Furcht auf die Barackentür … Kommt er und macht mich fertig?

Mein Fall machte ihn neugierig. Er befahl, mich in die Mitte der Baracke zu führen, unter Licht, sah meine Wunden an, und befahl, mich sofort ins Krankenhaus im Männerlager zu bringen, damit mir die Kugel entfernt und der Nerv zusammengefügt wird … Ich kam mit den Gedanken, dem Lauf der Dinge nicht nach, konnte nicht begreifen, was mit mir geschah.

In der kleinen Krankenhausbaracke lagen auf dreistöckigen Pritschen vereinzelt Frauen nach Operationen. Es waren Nichtjüdinnen, jüdische Gefangene heilte man in der Regel nicht, an ihnen führte man lediglich „wissenschaftliche“ Experimente durch. Ich wurde von einem jungen Sanitäter empfangen. Er zeigte mir Interesse und Wohlwollen entgegen, was mir Zuversicht gab, weil ich im höchsten Maße entsetzt war. Er fragte nach Einzelheiten meines Unfalls, nach der Herkunft, woher und wie lange ich schon im Lager bin. Es waren typische Fragen, die Menschen suchten nach Informationen über verlorengegangene Nahestehenden, die vielleicht irgendwo leben, die vielleicht jemand sah …

Da ich nicht wusste, was hier mit mir geschehen wird, hatte ich vor allem und vor jedem Angst. Die freundliche Anwesenheit des Sanitäters, eines polnischen Juden, wirkte beruhigend. Mich erwarteten zwei Operationen: das Entfernen der Kugel und das Zusammenfügen des Radialisnervs. In Auschwitz?! Allein der Gedanke daran ließ mir Schauer über den Rücken laufen! Ich verlor viel Blut, fieberte ständig.

Zwei Ärzte – Häftlinge stachen in die Hand bis zur Schulter – ich fühlte nichts, konnte die Hand nicht biegen, die Finger bewegen … Behindert ab dem 15. Lebensjahr! Hätte er mich doch getötet, sagte ich öfters. Abram widersprach, prägte mir seine Adresse in Krośniewice ein, versicherte, dass der Krieg bald zu Ende geht und wir bleiben zusammen. Man entfernte mir die Kugel aus dem Rücken ohne Betäubung, den Nerv konnte man nicht operieren, weil die Hand voll von eiternden Bläschen bedeckt war.

Zum Glück – in den ersten Tagen nach der Befreiung, als ich anfing mich normal zu ernähren, kehrte die Kraft in die Hand zurück! Ich musste aber mehrere Monate, bis zur Befreiung, meine Behinderung vor SS-Männern in Ravensbrück, vor Meistern und Schlingeln der Hitlerjugend in der Flugzeugfabrik in Neustadt-Glewe verbergen. Mit meiner gesunden Hand drehte ich Schrauben an Flugzeugteile fest, die ich mit der linken Hand von unten „festhielt“. Ich versteckte die kraftlose Hand im großen Ärmel des Männermantels, den mir Abram vor der Evakuierung aus Auschwitz anzog.

Am 18. Januar 1945 führte man uns abends in einer großen Kolonne aus dem Frauenlager B2B heraus. Auf dem Schnee brannten Feuer – die Deutschen beseitigten auf diese Art Dokumente, keine Menschen mehr! Eine Frau fragte nach Halina mit durchschossener Hand – sie hatte für mich ein Päckchen, über den Zaun geworfen, von Abram. Sein letzter Gruß! Abram erkrankte und starb nach der Befreiung, konnte keine Nahrung nach den Hungerjahren mehr verdauen.

Auf der Strecke des hoffnungslosen Marsches, an der wir uns auf glatten Straßen Tage und Nächte bis zum Zug in Loslau schleppen mussten, traf ich Celina. Wir wurden in einer unbeschreiblichen Enge in Güterwaggons ohne Dach verfrachtet. Frost und Wind schnitten wie Messer während der schnellen Fahrt. Wir kamen in Ravensbrück kaum lebend an. Nach Stunden der Verharrung draußen in der Kälte schloss man uns im Strafblock zusammen mit deutschen Verbrecherinnen ein.

Beschränktheit auf dem Fußboden des kleinen Raumes, nicht täglich ein bisschen Suppe oder ein Stück Brot. Die deutschen Frauen quälten uns. Manchmal schlich ich mich aus der Baracke und wusch mich mit schmelzendem Schnee unter der Dachrinne. Nach etwa zwei Wochen wurden wir abgezählt und unter Eskorte wiederum zum Zug abgeführt. Dieses Mal war es ein Personenzug, sogar beheizt! … Jedoch die Läuse wurden von der Wärme aktiver und plagten umso stärker.

Ich saß am Fenster und schaute mir die vorbeiziehenden städtischen und ländlichen Landschaften an. Von hierher kamen sie zu uns und töteten unsere Angehörigen, brannten alles nieder, nahmen weg?! In den schönen Häusern wohnen deren Ehefrauen, Mütter, Kinder?! Wissen diese davon?! Sollte ich überleben, dachte ich, so werde ich zu ihnen kommen wollen und erzählen … 1989 war es soweit. Ich sollte als freier Mensch nach Berlin mit meinem Buch „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ und mit dem Film „Wegen dieses Krieges“ kommen.

Mittlerweile fing der Februar 1945 an, und mich erwarteten weitere Monate auf dem Fußboden der Baracke in Neustadt-Glewe. In den ersten zehn Tagen bekamen wir hier überhaupt nichts zu essen, danach  eine Schöpfkelle Suppe und ein Laib Brot für zehn vor Hunger verrückter Frauen. Wir maßen die Portionen mit einer Schnur. Manchmal war das Brot innen grün vom Schimmel! … Während des Todesmarsches aß und trank ich Schnee. Im Moment, als ich beim Herabbeugen nach Schnee aus Erschöpfung fiel, fand ich mich in Elwiras Umarmung wieder. Die Deutschen töteten diejenigen, die von der Kolonne abfielen. Der ganze Weg war mit Leichen besät.

Am 3. Mai 1945 stiegen die Deutschen, zivil gekleidet, auf einen Lastwagen, schossen eine Gewehrsalve in die an das Vorratshaus drängende Menge – und fuhren davon. Das Lagertor blieb offen! Ich konnte mich an der auf deutschem Boden erlangten Freiheit mit meiner im ewigen Gestern gefangenen Seele nicht freuen. Noch wurde ich zum Freuen nicht geboren, war eigentlich eine ausgebrannte Greisin.

Nach einigen Wanderwochen erreichten ich und Celina Warschau. Auf dem Weg zum jüdischen Komitee begegnete ich auf der Straße meinem Bruder! Marek sprang durchs Fensterchen des in voller Fahrt gen Majdanek eilenden Zuges herunter. Er wurde von den vom Waggondach schießenden SS-Männern verwundet, trug sich mit Mühe bis zu einer Bauernhütte, wo man seine Rückenwunde versorgte und erlaubte zu übernachten. Herr Ingenieur Strójwąs half ihm, sich in Warschau in einem Versteck zu erretten. Im Januar 1945 war Marek schon frei im befreiten Warschau, ich kehrte aus verschiedenen Lagern Ende Mai zurück.

Nach einem Jahr brach ich mit einer wie ich vor Vernichtung erretteter und verwaister Jugendgruppe auf einem illegalen Weg nach Palästina auf. Wir schlichen über die Grenzen vieler Staaten durch, hielten uns anderthalb Jahre lang in Deutschland im Emigrantenlager UNRA, danach einige Wochen in Südfrankreich auf.

Im November fuhren wir auf einem kleinen Fischerkutter auf Segelschiffen ab, weil der Motor gleich am Anfang ausfiel. Wir versteckten uns unter Deck, damit die in Palästina  Die Macht ausübenden Engländer uns nicht entdeckten und in ein Lager auf Zypern schickten. Nach zwei Wochen voller Gefahren und allerlei Entbehrungen auf der See gelang es uns am 3. Dezember 1947 unbemerkt von den Engländern als erstes Schiff im von der ONZ anerkannten Staat Israel Tel Aviv zu erreichen.

¹) „Kessel auf Miła“: Im September 1942, zu Rosh Hashana (jüdisches Neujahr) nach der Ausfuhr der Mehrheit der Warschauer Juden nach Treblinka, erklärten die Deutschen die Aktionen für beendet und befahlen allen Zurückgebliebenen sich in der Miła Straße und einigen benachbarten Straßen wie  in Nizka, Ostrowska, Krochmalna zu versammeln, damit eine Selektion durchgeführt werden kann. Juden, die in Besitz einer Arbeitsbescheinigung sind, dürfen im Ghetto bleiben und die Aussiedlung wird beendet sein. Viele wurden aus der Arbeit entlassen … Massen von Juden überfüllten die elenden, engen Straßen. Schwerbewaffnete, grausame deutsche Wachleute umkreisten sie bildend einen Kessel ohne Ausweg. Es wurde eine Selektion und Jagd nach versteckten Juden durchgeführt. Alte sowie Eltern mit Kindern wurden aus der Kolonne herausgezogen und zum Umschlagplatz geführt, nach Treblinka. Es fehlen die Worte, um die schrecklichen Tragödien der  Kesseltage auf  Miła zu beschreiben! Aus dieser Selektion fuhren sie um die 100 000 Juden nach Treblinka aus. Nach zwei Wochen wurden die Wachen abgezogen, das Ghetto wurde auf einige Straßen zurückgebildet und in ein Arbeitslager (Schuppen und Dienststellen) umgewandelt – im Mai 1943 wurde das Ghetto endgültig liquidiert.

Aus dem Polnischen von Helmut Pientka, Korrektur Hedi Bender.
Veröffentlicht auf der Ada Holtzman Home Page WE REMEMBER! SHALOM! http://www.zchor.org/, auf der auch eine Website von Halina Birenbaum ist http://www.zchor.org/birenbaum/halina.htm . Dort ist dieser Artikel unter http://www.zchor.org/birenbaum/halina_ger.htm [Zugriff 30.06.2020]
Die deutsche Übersetzung ist auch zu finden in: Halina Birenbaum, Das Leben als Hoffnung. Die Geschichte einer Auschwitz-Überlebenden mit Texten und Bildern von deutschen Schülern. Münster: dialogverlag, 2004.