2009-2010 Max Sundermann - Volontär im Zentrum für Dialog und Gebet

Ein Jahr in Oświęcim

maxBevor ich nach Oświęcim kam, waren die meisten Dinge, die ich über diesen Ort wusste, die Informationen aus dem Geschichtsunterricht in der Schule. Ich kannte die Bilder mit den Bergen von Haaren, Schuhen und Koffern, von dem Eingangstor mit der Aufschrift „Arbeit macht Frei", von den Krematorien und vom „Todestor" in Birkenau. Alle diese Bilder gaben mir einen Eindruck von einem Ort, der in Wirklichkeit gar kein wirklicher Ort sein konnte. Die Unmenschlichkeit der Dinge, die hier geschahen waren für mich absolut unvorstellbar und das Wissen, dass mein eigenes Volk dies den Juden, Roma, Polen und vielen anderen Völkern, überall in Europa angetan hat, ist eine große Schuld und Belastung.

Die Schuld des Holocaust ist ein sehr wichtiger Bestandteil des Deutschen Selbstverständnisses nach dem 2. Weltkrieg. Im Schulunterricht spielt der Holocaust nicht nur im Geschichtsunterricht eine Rolle, sondern auch im Deutsch-, Sozialkunde-, Religions- und manchmal auch im Musik- und Kunstunterricht. Viele Städte in Deutschland haben Denkmäler für die Bürger, die in Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind. In meiner Heimatstadt, die nur eine kleine Stadt ist, gibt es Vereine, die Nachforschungen über das Schicksal der jüdischen Familien, die vor dem Krieg dort lebten, anstellen. Seit 2004 gibt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, im Herzen Berlins, ein physisches Zeichen für die Bedeutung und die Verantwortung, verbunden mit dem Holocaust in Deutschland. Diese Verantwortung wird auch in der zweiten, dritten und bereits der vierten Generation nach dem 2. Weltkrieg wahrgenommen.

Für viele Menschen ist Auschwitz das Symbol aller Schrecken des nationalsozialistischen Regimes. Häufig werden die Begriffe Auschwitz und Holocaust synonym gebraucht. Ich wollte diesen Ort sehen. In den Jahren 2007 und 2008 hat der Stadtjugendring meiner Heimatstadt versucht eine Studienreise für Schüler nach Oświęcim zu organisieren. Das Projekt erhielt großzügige Unterstützung von der Stadt und dem Bundesland NRW, aber beide Male scheiterte das Projekt an der zu geringen Teilnehmerzahl. Beide Male habe ich mich angemeldet und versucht mehr Teilnehmer zu finden. Ich konnte nicht verstehen warum man nicht genügend junge Leute für diese Studienreise begeistern konnte.

Ich wollte weiterhin nach Oświęcim kommen. Nachdem ich 2009 das Abitur bestanden habe, sollte ich Zivildienst leisten. Im Vorfeld hatte ich mich schon über Möglichkeiten informiert diesen auch im Ausland ableisten zu können. Über die Organisation Pax Christi habe ich mich für einen Freiwilligendienst im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim beworben. Seit Oktober 2009 arbeite ich nun in der Bildungsabteilung des Zentrums.

Meine Aufgaben im Zentrum bestehen hauptsächlich darin die Gruppen während des Besuches zu betreuen. Ich gebe kurze Einführungen in die Geschichte des Konzentrationslagers, der Stadt Oświęcim und des Zentrums für Dialog und Gebet. Ich helfe bei der Organisation der Programme und bei Treffen mit Zeitzeugen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben sind Stadtführungen in Oświęcim. Oświęcim ist ein wirklich faszinierender Ort. Als ich das erste mal hierher kam war ich überrascht, dass neben dem Lager wirklich eine ganz normale Stadt gibt. Bei allem was ich vor meinem Besuch über Auschwitz gelesen und gehört habe wurde die Stadt kaum jemals erwähnt. Das Bild, dass die meisten Menschen in der Welt von Oświęcim haben, ist nur das von Auschwitz. Wenn ich in Deutschland von der Stadt Oświęcim rede, finden meine Gesprächspartner es häufig sehr schwierig sich vorzustellen, dass es eigentlich eine ganz normale polnische Kleinstadt ist, in der Menschen ein normales Leben führen, Spaß haben und man am Wochenende auch ausgehen kann. Oświęcim möchte so normal sein wie jede andere Stadt, aber wegen der tragischen Geschichte wird es dies niemals sein können.

Ich dachte hierher zu kommen und das Lager mit meinen eigenen Augen zu sehen, wird das Ganze etwas begreiflicher machen. Ich hatte gehofft man bekommt eine Vorstellung von der Masse an Menschen, die hier ermordet wurden. Die Zahlen aus meinen Schulbüchern waren so unvorstellbar groß. Jetzt nach fast einem Jahr in Oświęcim weiß ich, dass hierher zu kommen es nicht einfacher macht zu verstehen. Ich bin gekommen um Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Wie war das möglich? Wie konnten die Menschen in Deutschland so etwas zulassen? Wie können Menschen in der Lage sein ohne Reue solch unglaublich schreckliche Verbrechen zu begehen. Ich habe viel gelernt während meines Aufenthalts hier. Es ist mit Sicherheit einfacher geworden den Zeitgeist und die Situation im Lager zu verstehen aber während der täglichen intensiven Beschäftigung mit dem Thema Völkermord in Auschwitz und in der Welt, stellten sich für mich immer wieder neue Fragen. Ich bin sicher, dass ich mit mehr Fragen nach Hause fahren werde als ich vor dem Jahr hatte.

Die intensivsten Begegnungen hier waren für mich immer mit den Überlebenden des Konzentrationslagers. Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit diese Menschen zu treffen, vor allem auch wenn man bedenkt, dass es bald überhaupt keine Zeitzeugen mehr geben wird. Ein Teil der letzten Generation zu sein, die die Möglichkeit hat persönlich den Augenzeugen der Gräuel von Auschwitz zu begegnen, ist eine große Verantwortung. Wenn es irgendwann keine Zeitzeugen mehr geben wird, gibt es dennoch einen großen Bedarf an Menschen, die die jüngeren Generationen über das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte informieren. Die Zeitzeugen geben diesen Auftrag weiter an meine Generation und mit dieser Aufgabe werde ich nun auch nach Hause fahren. Die Begegnung mit diesen Menschen war immer besonders und sehr bewegend. Die Offenheit und Freundlichkeit der ehemaligen Häftlinge des Lagers ist etwas, dass mich immer noch fasziniert. Von Ihnen habe ich nie irgendwelche Verbitterung gegenüber den Kindern und Enkeln des „Täterschaft" erfahren. Dass diese Menschen immer noch zu so einer Offenheit imstande sind, nach allem was sie erlebt und überlebt haben, nötigt mir unglaublichen Respekt ab.

Die Zeit, die ich hier verbracht habe wird mich definitiv für den Rest meines Lebens geprägt haben. Die Gedenkstätte zu besuchen, verändert niemanden aber die Reflexion über die Dinge, die man hier sieht und der Versuch sich selbst in diesen Kontext zu versetzen, kann etwas verändern. Wie würde man selbst handeln? Wie hätte man reagiert? Ich habe hier so viele interessante Menschen kennengelernt. Oświęcim war ein Ort an dem Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zur Vernichtung von über einer Millionen Menschenleben geführt hat. Heute ist es ein Ort an dem Fremde willkommen sind. Menschen aus allen Teilen der Welt treffen sich hier, um gemeinsam an das Leid der Häftlinge zu erinnern. Oświęcim, die „Stadt des Friedens", hat sich zu einem Ort der Erinnerung und der Hoffnung entwickelt. Ich werde sie so in Erinnerung behalten.


Max Sundermann